Andrea Griesebner / Martin Scheutz / Herwig Weigl (Hgg.): Justiz und Gerechtigkeit. Historische Beiträge (16.-19. Jahrhundert). In Kooperation mit dem Institut für die Erforschung der Frühen Neuzeit, Wien (= Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit; Bd. 1), Innsbruck: StudienVerlag 2002, 490 S., ISBN 978-3-7065-1642-6, EUR 45,00
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Die Rechtsgeschichte als Teildisziplin der Rechtswissenschaft hat in den letzten Jahren zur Kenntnis nehmen müssen, dass rechtshistorische Themen und Fragestellungen in zunehmendem Maße von Historikern aufgegriffen und untersucht worden sind. Das betrifft vor allem die Bereiche, die bisher von der Rechtsgeschichte eher stiefmütterlich behandelt wurden, wie etwa die Strafrechtsgeschichte, die in der Geschichtswissenschaft unter dem Stichwort der "Historischen Kriminalitätsforschung" gerade eine Blütezeit durchläuft. Der vorliegende Sammelband geht sogar über den Untersuchungsbereich der Kriminalitätsforschung hinaus und widmet sich allgemein dem Thema "Justiz und Gerechtigkeit" - zweifellos ein Thema, das im Zentrum der "juristischen" Rechtsgeschichte steht und zweifellos auch für die Geschichtswissenschaft ein "sehr reizvolles Thema" (Hubert Christian Ehalt) sein kann. Bemerkenswerterweise sind die Beiträge ausschließlich von Historikerinnen und Historikern und nicht von juristisch ausgebildeten Rechtshistorikern verfasst. Leider blieb das weitere Ziel, nämlich eine Brücke zu anderen Disziplinen, wie etwa Rechtswissenschaft, Ethnologie oder Soziologie, zu schlagen, auf die nicht veröffentlichte Podiumsdiskussion beschränkt. Gegen beide Punkte ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Aber als Jurist und Rechtshistoriker darf und muss der Rezensent die Frage stellen, ob der Sammelband auch rechtshistorischen Maßstäben gerecht wird.
Die insgesamt 27 Beiträge gingen aus einer Tagung österreichischer und deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hervor. Der Band teilt sich in zwei, vom Umfang her betrachtet ungleiche Teile. Der erste Teil erfasst fünf für die Drucklegung teilweise erweiterte Referate des abgehaltenen Podiumsgesprächs ("Justiz und Gerechtigkeit. Aktuelle Debatten in historischer Perspektive"), mit welchem die Tagung in Wien eröffnet wurde. In einem zweiten Teil folgen dann 22 Beiträge zur aktuellen "Justizforschung" in der Geschichtswissenschaft, die sich der Entwicklung von Rechtsnormen und Rechtssystemen, von Rechtsvorstellungen und Rechtsinstitutionen widmen.
Die in der Einleitung formulierte verbindende Fragestellung nach dem Verhältnis, in welchem Justiz und Gerechtigkeit sowohl in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart stehen, wirkt bereits etwas blass. Die Rechtshistoriker, die - glaubt man der Einleitung - die "Gerechtigkeit" als "eine scheel angesehene Kategorie" betrachten (weil im Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte diesem Begriff kein Lemma gewidmet ist), werden bei diesen einführenden Beiträgen zudem nicht immer eines Besseren belehrt.
Ausgehend von der etwas banalen Erkenntnis, dass die Frage nach Definition und Bedeutung von "Gerechtigkeit" eine seit Jahrhunderten diskutierte Grundfrage menschlichen Zusammenlebens sei, erhält der Leser zwar unter anderem einen fünfseitigen begriffsgeschichtlichen Überblick. Es fehlt aber an einer überzeugenden Aussage, an welchem Maßstab das vorgefundene Verständnis von "Gerechtigkeit" zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert eigentlich gemessen werden soll - ein Defizit, das beispielsweise die Untersuchung von Margareth Lanzinger (373 ff.) zu "Gerechtigkeitsvorstellungen in der Gemeindepolitik" des 18. und 19. Jahrhunderts belastet. Zweifellos lassen sich unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen finden, aber sie bleiben doch subjektiv "empfunden", je nachdem, wie sie uns die Zeitgenossen durch die Folie der Quellen vermitteln.
Monika Wienfort hat diese methodischen Probleme zu Beginn ihres Beitrages zum bürgerlichen Rechtsbewusstsein im 19. Jahrhundert in beeindruckender Weise offen gelegt (407 ff.). Sinnvoller scheint es daher, die ursprüngliche Fragestellung zu behandeln, die in der "juristischen" Rechtsgeschichte in der Regel zu kurz kommt, nämlich gerichtliche Prozesse und generell Konfliktbewältigung mit den Mitteln des Rechts unter Zuhilfenahme sozialhistorischer Methoden zu analysieren und zu interpretieren. Andrea Griesebner hat das einführend auch deutlich gemacht (11 ff., 23 ff.). Regionale und lokale Ausprägungen und Traditionen, schichten- und geschlechterspezifische Unterschiede, Wechselwirkungen zwischen juristischem Denken und Wertungen der Öffentlichkeit sind dann bei der Erfassung der "Gerechtigkeit" stets mitzudenken. Es geht also in diesem Band, so könnte man die Einleitung präzisieren, um das Spannungsfeld zwischen zeitgenössischen Gerechtigkeitsvorstellungen und praktizierter Justiz.
Das Buch liefert dazu zahlreiche anregende Fallbeispiele, die einen Ausschnitt aus der aktuellen historischen Forschung vermitteln. Ein Großteil der Arbeiten besticht durch eine gründliche Recherche archivalischer Quellen und damit logischerweise auch durch eine enorme Detailkenntnis. Erfreulicherweise wird das prozessuale und aktenkundige Detail auch größtenteils in seinen sozialhistorischen und lokalgeschichtlichen Bezügen gesehen und gleichzeitig nach dem Verhältnis der Justiz zu den übergeordneten Obrigkeiten gefragt. Diesen Aspekten ist Gerd Sälter in seinem Beitrag über die Konfliktbewältigung durch die Polizeibehörden im Paris des frühen 18. Jahrhunderts (61 ff.) ebenso wie Martin P. Schennach (199 ff.) mit seinem Aufsatz über die Militärgerichtsbarkeit im Tirol des 17. Jahrhunderts dezidiert nachgegangen. Anhand der Einflussnahme von lokalen Obrigkeiten und zivilen Justizstellen auf die weiterhin autonom agierende Militärgerichtsbarkeit verdeutlicht Schennach die integrativen Ambitionen des frühneuzeitlichen Territorialstaats. Auf den Prozess der Konfessionalisierung mithilfe der Justiz wird diese Schlussfolgerung von Arthur Stögmann (169 ff.) am Beispiel der klerikalen Autoritäten in Niederösterreich 1647/48 bestätigt.
Aus der Sicht der Rechtsgeschichte wie auch der Geschichtswissenschaft von besonderem Interesse ist der Beitrag von Thomas Just, der sich mit der Justiz im städtischen Verfassungsgefüge beschäftigt (269 ff.). Seine Untersuchung widmet sich dem Patrimonialgericht des Wiener Bürgerspitals in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Es bestätigen sich hierbei ähnliche Tendenzen wie im territorialen Herrschaftsgefüge. Die Justiz ist Teil einer auf Zentralisierung und Disziplinierung gerichteten Politik der städtischen Obrigkeit. Inwieweit die Konfliktbewältigung auch als "Sozialdisziplinierung" eingestuft werden kann, wird leider offen gelassen.
Grundsätzlich sei hier angemerkt, dass viele Beiträge bei der Beschäftigung mit den Justizquellen, den Vernehmungs- und Gerichtsprotokollen stehen bleiben, so zum Beispiel Cornelia Schörkhuber-Drysdale (255 ff.) oder Pavel Himl (311 ff.). Aber auch für die Geschichtswissenschaft dürfte es zumindest hilfreich sein, die darüber hinausgehenden "juristischen" Quellen und Fragestellungen nicht gänzlich auszuklammern. Insoweit hätte sich ein interdisziplinärer Diskurs ganz im Sinne einer "integralen Rechtsgeschichte" erkenntnisbringend auswirken können. Beispielsweise hätten die rechtlichen Normen, ihre Entstehung und Entwicklung sowie die dahinter liegenden Ideen in die Untersuchung mit einbezogen werden können. Prozessprotokolle lassen sich eben häufig nur aus dem juristischen Kontext und einer spezifisch juristischen Perspektive heraus zutreffend interpretieren.
Insgesamt wäre dem Buch eine stärkere Berücksichtigung der "juristischen" Rechtsgeschichte zu wünschen gewesen. Trotz des teilweise hohen theoretischen wie methodischen Niveaus der Beiträge fehlt eine gelungene Präzisierung des Gesamtthemas, die das Gesamtbild des Bandes und auch die Ergebnisse der vorausgegangenen Tagung verdeutlichen. Gleichwohl liefern die zahlreichen Fallbeispiele ein reichhaltiges Œuvre zur aktuellen historischen Rechts- und Justizforschung (16.-19. Jahrhundert), die jedem Interessierten, auch dem Rechtshistoriker, zu empfehlen ist.
Louis Pahlow