Wolfgang Spickermann: Germania Superior. Religionsgeschichte des römischen Germanien I (= Religion der Römischen Provinzen; Bd. 2), Tübingen: Mohr Siebeck 2003, XXIII + 663 S., 1 Karte, ISBN 978-3-16-146686-1, EUR 129,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Seit dem viel beachteten Aufsatz von Friedrich Drexel aus dem Jahr 1923 hat es keine zusammenfassende Darstellung der Religion des römischen Germanien mehr gegeben. [1] Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass das Material durch zahlreiche Neufunde an Inschriften, Bilddenkmälern und Heiligtümern in ganz erheblichem Maße angewachsen ist. Gleiches gilt für die Literaturlage, die man fast als unüberschaubar bezeichnen kann. So gab B. H. Stolte 1986 in "Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt" [2] zwar einen Überblick über die religiösen Verhältnisse Niedergermaniens, ein dort angekündigter Beitrag über Obergermanien von F. Petry ist aber nie erschienen. Trotz zahlreicher Literatur zu Einzelaspekten fehlte bisher eine Überblicksdarstellung, die Wolfgang Spickermann in seiner an der Universität Osnabrück angenommenen Habilitationsschrift nunmehr liefert.
Die von Hubert Cancik und Jörg Rüpke herausgegebene neue Reihe "Religion der Römischen Provinzen", in welcher der Band erschienen ist, hat zum Ziel, die Religionsgeschichte des Römischen Reiches als Geschichte 'römischer Religion' in den Provinzen in einer möglichst umfassenden und einheitlichen Form darzustellen. Für eine begrenzte Zeit und in politisch definierten Räumen soll eine systematische und anschauliche Religionsgeschichte unter besonderer Beachtung der Ausbreitung, Wirkung und Veränderung der römischen Religion in diesen Gebieten geschaffen werden (VIf.). Diesem handbuchartigen Konzept wird Spickermann in jeder Hinsicht gerecht. Angesichts der erwähnten Materialfülle erweist es sich als besonders sinnvoll, dass er, statt Götter- und Göttertypenlisten zu präsentieren, an das Modell der Polis- beziehungsweise Civitasreligion anknüpft, ohne es jedoch vollständig zu übernehmen (2ff.). Es dient lediglich als Schlüssel, der sich der politischen Organisationsstrukturen bedient, um etwa die Hauptkulte der politischen und religiösen Zentren sowie der Unterzentren, ihre Streuung im Umland sowie die Kulte in der Peripherie herauszuarbeiten. Ausgangspunkt sind hierbei die civitates, welche als verfasste Gemeinschaften eigene Panthea entwickelten, die nicht nur die lokalen Eliten repräsentierten, sondern gerade auch für untergeordnete soziale Gruppen Identifikationsmuster boten. Spickermann knüpft hierbei an eigene Vorarbeiten sowie an Modelle an, die insbesondere von J. Scheid, T. Derks, G. Woolf und W. van Andringa am Beispiel der gallischen Provinzen erarbeitet wurden. [3]
Hiervon ausgehend, untersucht er die religionshistorische Entwicklung der Provinz Obergermanien, die er in vier Phasen unterteilt, erstens die Eroberungsphase (bis circa 70 nach Christus), dann die Phase der Konsolidierung römischer Herrschaft (70 bis 150 nach Christus), schließlich die Epoche der intensiven Romanisation (150 bis 230/260 nach Christus) und endlich dann die Zeit der Auflösung und des Wandels (260 bis circa 550 nach Christus). Gestützt auf die Kulttopografie, zeichnet er eine Religionsgeschichte der Provinz, die sehr deutlich die Entwicklung einer gallo-römischen Provinzialreligion bis zu ihrem Untergang lange nach dem Einzug des Christentums zeigt. Unter 'Provinzialreligion' versteht Spickermann dabei das Produkt eines weitgehend ungelenkten dynamischen Prozesses im Rahmen der Romanisierung / Romanisation der gallisch-germanischen Provinzen. Sie ist folglich als ein neues religiöses System einer regionalen Religion der römischen Kaiserzeit aufzufassen, ohne dass sich deren Wurzeln jeweils eindeutig aus keltischem, germanischem oder stadtrömischem Ursprung herleiten lassen (8). Konsequenterweise enthält sich der Autor einer Klassifizierung der Götternamen in Kategorien wie römisch, keltisch, germanisch oder Ähnliche. Stattdessen werden sechs Gruppen von Kulten definiert: römische Kulte, öffentliche Kulte, Kaiserkult, militärische Kulte, bodenständige Kulte und 'orientalische' Kulte. Spickermann ist sich bewusst, dass es dabei Überschneidungen gibt und die Gruppe der 'bodenständigen Kulte', unter denen er einheimische Kulte der 'neuen' Provinzialreligion versteht, naturgemäß die größte ist, da zu ihr einerseits selbstverständlich alle bisher auch unter 'einheimisch' subsumierten Religionen gehören, andererseits aber auch alle mit römischen Namen bezeichneten Gottheiten, die nicht durch klare Indizien als aus dem römisch-mediterranen Kulturkreis kommend und damit als 'römisch' charakterisiert sind (8f.). Zu den öffentlichen Kulten zählt er alle Dedikationen an die Genien oder andere ausgewiesene Schutzgottheiten, die von Gebietskörperschaften sowie gebietsgebundenen Körperschaften (civitates, pagi, vici, curiae) oder von konkreten Ortschaften veranlasst wurden. Dazu rechnet er auch Weihungen, die ausdrücklich publice, also aus öffentlichen Mitteln, oder l(ocus) d(atus) d(ecreto) d(ecurionum), also auf öffentlichem Grund, ausgeführt wurden. Muten diese Kategorien zunächst als sehr weit gefasst an, so eignen sie sich im Folgenden durchaus dazu, ein religiöses Profil der Provinz und ihrer civitates zu dokumentieren, welches deutliche regionale Unterschiede erkennen lässt.
Die Darstellung gliedert sich in sechs größere Kapitel. Die Einleitung enthält neben dem schon mehrfach zitierten Methodenteil und einem ausführlichen Forschungsüberblick auch eine nützliche Quellenkunde. Ihr kann man entnehmen, auf welchen Quellenfundus Spickermann zurückgreift. Er zählt für Obergermanien allein 324 bebaute und unbebaute Kultplätze, 1773 Weihinschriften, 1456 Bildzeugnisse und unzählige Münz- und Keramikfunde aus dem Bereich von Heiligtümern (11ff.). Erhellend ist dabei ein Diagramm, welches die geografische Verteilung aller Inschriften sowie der Weihinschriften auf dem Territorium der Provinz visualisiert (15). Es zeigen sich deutliche Schwerpunktbildungen in den militärischen Zentren am Rhein, insbesondere in Mainz und am Limes, während im Südosten der Provinz deutlich weniger Steininschriften gefunden wurden.
Im ersten Schwerpunktkapitel (40ff.) werden die aus der Eroberungsphase überlieferten Kultplätze untersucht. Spickermann arbeitet deutlich die unterschiedlichen Verhältnisse in der späteren Provinz heraus. Im Südwesten entwickelten sich relativ früh städtische Zentren, deren Auf- und Ausbau insbesondere von den Eliten der neuen civitates getragen wurde. Dies gilt in besonderem Maße für die Etablierung der Hauptkulte der civitates und vor allem für den Kaiserkult. An anderer Stelle hielt man an vorrömischen Kulten fest und monumentalisierte die Kultplätze in Stein wie etwa in Mirebeau-sur-Béze im Lingonengebiet. Währenddessen entstand in Mogontiacum nicht zuletzt auf Initiative der dort stationierten Truppen ein Zentrum der Verehrung der kaiserlichen Prinzen Drusus und Germanicus mit regelmäßigen Festen der gallischen civitates. Die massenhafte Ansiedlung von Italikern in den Provinzen, der Ausbau stehender Heere, die Errichtung einer neuen Reichsverwaltung und eines neuen sozialen Systems unter Augustus hatten Folgen für alle Lebensbereiche. Diese 'formative Periode' konnte in Germanien erst in flavischer Zeit abgeschlossen werden. Das bewirkte, dass es angesichts einer sich neu formierenden Provinzgesellschaft keine sonderlich aktive und intentionale 'Religionspolitik' seitens der Römer gab.
Im folgenden Kapitel (145ff.) setzt sich Spickermann mit der Konsolidierung der römischen Herrschaft (70-150 nach Christus) auseinander. Dabei kann er deutlich machen, dass die Festigung der politischen und wirtschaftlichen Situation nach dem Bataveraufstand einen Romanisierungsschub ausgelöst hat. Zahlreiche neue Heiligtümer entstanden und mit der Inbesitznahme rechtsrheinischer Gebiete sowie dem Bau des Limes kam es unter Trajan zu einer Besiedlungswelle. Aus diesem Zeitraum sind die ersten Mithräen in Mainz und Heddernheim belegt. Gallische civitates wie die Helvetii oder Sequani begannen mit dem Bau oder Ausbau zentraler Kultstätten. Spickermann kommt zu dem Schluss (238), dass für die Zeit nach 150 nach Christus kaum von einer 'keltischen Renaissance' oder Ähnlichem gesprochen werden kann.
In der Zeit von 70-150 nach Christus sind die Weichen für die weitere Entwicklung gestellt worden. Damals wurde das System der gallo-römischen Provinzialreligion eigener Ausprägung entwickelt, das dann in alle Lebensbereiche Einzug hielt. Hervorzuheben ist ein Abschnitt über die Kleinvotive, worunter besonders Bronzen und Terrakotten verstanden werden (252ff.). Spickermann schließt sich der Auffassung V. von Gonzenbachs an, dass aus der Dedikation von Terrakotten nicht unbedingt auf einen minderen sozialen Status der Dedikanten geschlossen werden darf. Ebenso ist das statistisch sehr häufige Auftreten weiblicher Gottheiten zeitlich zu differenzieren. Die frühe Terrakottenproduktion diente vornehmlich militärischem Bedarf und lässt damit kaum Rückschlüsse auf die einheimische Bevölkerung zu. Danach wurden diese Kultgegenstände mehr und mehr auch bei der Zivilbevölkerung gebräuchlich, sind aber nicht das Produkt einer einheimischen Volksreligion, sondern ergänzen durch intim-häusliche Darstellungen wie das Mater-nutrix-Motiv die Themen der größeren Denkmalgattungen.
Der umfangsreichste Abschnitt (272ff.) widmet sich der Phase der intensiven Romanisation (150 bis 230/60 nach Christus). Spickermann entwickelt hier eine Typologie der Kultplätze und Denkmäler nach deren Ausgestaltung. Am Anfang steht der Podiumtempel, am Ende der offene Kultplatz ohne Umfriedung oder der Kultschacht. Auch alle bisher bekannt gewordenen Mithräen, Metroen et cetera finden hier Berücksichtigung (293). Aussagekräftig ist die Verteilung der Kultplätze auf civitates und Regionen (280), besonders wenn man diese in Beziehung zu den Inschriftenfunden setzt. Während steinerne Votive mit und ohne Weihinschriften bei Sequanern, Lingonen und auch Helvetiern weniger häufig auftreten, ist die Zahl und Bedeutung der Kultplätze relativ groß. Hier scheint man also andere Weihegeschenke bevorzugt zu haben. Im weiteren Verlauf untersucht Spickermann die Lage und den Unterhalt der Kultplätze auf Privatgrund (Gutshöfe), an Straßen und auf militärischem Terrain.
Im Abschnitt über die Weihinschriften (365ff.) wurden natürlich nicht alle 1603 in diesen Zeitraum fallenden Zeugnisse aufgelistet. Stattdessen wird auf datierte Inschriften sowie Zeugnisse bestimmter Gruppen (Soldaten, Ortsfremde, Frauen, Sklaven und Freigelassene) näher eingegangen. Umfangreichere Auswertungen machen mittels Diagrammen deutlich, dass mehr als die Hälfte aller obergermanischen Weihinschriften (977) aus Mainz und dem rechtsrheinischen Limesgebiet kommt und die bodenständigen Kulte erwartungsgemäß überwiegen. Interessant ist, dass der Anteil der militärischen Kulte im Verhältnis zu den bodenständigen vor 150 nach Christus noch erheblich höher war (380). Die Häufigkeitsverteilung der Bildzeugnisse belegt deutlich die Dominanz des Iupiter, dem vor allem die in Obergermanien sehr häufig vorkommenden Iupiter(giganten)säulen galten, für die über 450 Fundorte bekannt sind. An zweiter Stelle liegt Merkur mit 376 Bildzeugnissen, dann folgen mit größerem Abstand die anderen Gottheiten. Hilfreich ist, dass Spickermann diesen absoluten Zahlen aus allen Denkmalgruppen eine bei Sterckx [4] entnommene Tabelle über die Häufigkeit der Götterdarstellungen auf den Iupiter(giganten)säulen gegenüberstellt. Der Bedeutung dieser für die Provinz so wichtigen Denkmalgruppe angemessen folgt ein Exkurs zu den Iupiter(giganten)säulen (384ff.), die Spickermann als eigenständiges Produkt einer gallo-römischen Provinzialreligion mit keltischen und römischen Elementen interpretiert. Sie seien Symbole einer Ordnung der germanischen Provinzialreligion, welche persönliche Vorstellungen des Stifters mit einer allgemein gültigen kosmischen Ordnung verbanden.
In einer längeren Passage werden dann die Kulte der einzelnen civitates zusammenfassend dargestellt (389ff.). Es entsteht so ein eindrucksvolles Bild von der Überlieferungslage und vor allem von der Kulttopografie der verschiedenen Stammesgemeinden. Das Problem der rechtsrheinischen civitates, deren Grenzverlauf in den wenigsten Fällen als sicher gelten kann, weiß der Autor dadurch zu lösen, dass er diesen Bereich in toto behandelt. Der auf der anderen Rheinseite gelegenen Provinzhauptstadt Mainz widmet er wegen der zahlreichen dort gefundenen Zeugnisse einen eigenen Abschnitt mit einer kompletten Götterliste (467ff.).
Alles in allem kann Spickermann zeigen, dass Religion in allen Lebensbereichen präsent war. Dies gehe weit über die vom Konzept der Civitasreligion vorgegebenen Linien hinaus, da es unterschiedlichste Formen privater Kultplätze in großer Zahl und verschiedensten Lagen gegeben habe, die zum Teil mit den öffentlichen Heiligtümern wenig gemeinsam hatten. Doch decke sich das Spektrum der privat verehrten Gottheiten im Wesentlichen mit dem des öffentlichen Raums. Die Zeit zwischen 150 und 250 markiert für Spickermann die Hochphase der Provinzialreligion. Durch den dynamischen und ungelenkten Prozess der interpretatio habe sich eine eigene regionale Religion entwickelt, die sich insbesondere in der Rheinzone als neues religiöses System erweise.
Die Stärke des letzten größeren Kapitels zum Zeitraum zwischen 260 und circa 550 (484ff.) liegt in der profunden Aufarbeitung des Niedergangs der Provinzialreligion, der sich über fast 300 Jahre hinzog. Während die epigrafischen Weihegaben fast vollständig verschwanden, blieben die Kultplätze bestehen und wurden auch weiterhin benutzt, manche davon bis in das 5. Jahrhundert (490ff.). Spickermann verbindet die archäologischen Zeugnisse mit Darstellungen aus frühmittelalterlichen Quellen und entwirft ein eindrucksvolles Bild einer sich durch äußere Einflüsse zwar wandelnden Provinzialreligion, die sich jedoch zäh behauptete und noch andauerte, als zu Beginn des 5. Jahrhunderts durch die Germaneneinfälle die meisten Heiligtümer aufgelassen waren. Das Christentum, dem ein eigener Abschnitt gilt (504ff.), konnte sich erst seit etwa Anfang des 4. Jahrhunderts und nur in den Städten durchsetzen und erfuhr erst durch die Mission des iro-schottischen Mönchtums flächendeckende Verbreitung.
Ein kurzes Resümee (523ff.) und ein Anhang mit den datierten Weihinschriften (537) runden den Band ab. Hervorzuheben sind die ausführlichen Indices, eine umfangreiche Bibliografie sowie eine Verbreitungskarte der 320 bekannt gewordenen obergermanischen Kultplätze. Die zugehörige 18-seitige Legende enthält die Form der Kultplätze und die jeweils wichtigste Literatur für weitere Recherchen.
Spickermann ist es gelungen, eine Forschungslücke zu schließen. Er hat eine Religionsgeschichte der Provinz Germania Superior vorgelegt, die mit Recht als Handbuch bezeichnet werden kann und den Maßstab für ähnliche Projekte setzt. Mag man im Detail gelegentlich auch anderer Meinung sein oder den ein oder anderen Aspekt gerne noch vertieft sehen, die enorme Materialfülle in einer gut lesbaren und strukturierten Form aufgearbeitet zu haben ist allein schon ein großes Verdienst. Wir dürfen auf Spickermanns zweiten Band "Germania Inferior" gespannt sein.
Anmerkungen:
[1] F. Drexel: Die Götterverehrung im römischen Germanien, Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 14 (1922) 1923, 1-68.
[2] B. H. Stolte: Die religiösen Verhältnisse in Niedergermanien, in: ANRW II, 18,2, 1986, 591-671.
[3] W. Spickermann: Die germanischen Provinzen als Feld religionshistorischer Untersuchungen, in: Ders. (Hg.): Religion in den germanischen Provinzen Roms, Tübingen 2001, 3-48. Zum Civitas-Modell: J. Scheid: Aspects religieux de la municipalisation. Quelques réflexions générales, in: M. Dondin-Payre / M.-Th. Raepsaet-Charlier (Hg.): Cités, Municipes, Colonies. Les processus de municipalisation en Gaule et en Germanie sous le Haut Empire romain, Paris 1999, 381-423, 235-265; T. Derks: Gods, Temples and Ritual Practices. The transformation of religious ideas and values in Roman Gaul, Amsterdam Archeological Studies 2, Amsterdam 1998; G. Woolf: Becoming Roman. The origins of provincial civilization in Gaul, Cambridge 1998; W. Van Andringa: La religion en Gaule romaine. Pieté et politique (Ier-IIIe siècle apr. J.-C.), Paris 2002.
[4] Cl Sterckx: Le cavalier et l'anguipède III., Ollodagos 6, 1994, 1-196, hier 162f.
Christoph Schäfer