Myron Kapraľ: Nacionaľni hromady Ľvova XVI-XVIII st. (sociaľno-pravovi vzaemyny). [Nationale Gemeinschaften in Lemberg, 16.-18. Jahrhundert (soziale und rechtliche Wechselbeziehungen).], Ľviv: Literaturna ahencija Piramida 2003, 439 S., 16 Abb., ISBN 978-966-7188-76-4
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Wer immer sich mit den ethnischen Entwicklungen in Rotreußen befasst, wird auf die Situation im hauptstädtischen Lemberg stoßen. Lemberg/Lwów/Ľviv bildet gewissermaßen ein Paradebeispiel, aber auch einen Prüfstein für die in Ostmitteleuropa immer wieder anzutreffende Integrationsfähigkeit der Völker und Kulturen. Das ethnische Profil der Stadt zeugt von einer starken Zuwanderung, die den ansässigen Ruthenen bereits in russischer Zeit neue Nachbarn, darunter auch Deutsche, beschert hat. Da generell der Zustrom neuer Siedler für den Erfolg einer Lokation entscheidend war, folgte auch der Verleihung des ius Theutonicum in Lemberg durch Kasimir den Großen im Jahr 1356 eine Phase anhaltender Migration. Die Herkunftsgebiete waren in erster Linie die anliegenden rotreußischen Territorien, aber in nennenswertem Umfang auch Kleinpolen und Schlesien. Ethnisch ("national") wirkte sich dieser Wandel insofern aus, als nun zu einer orthodox-ostslawisch dominanten Bevölkerungsschicht (den Ruthenen) ein starker Anteil katholisch-westslawischer, das heißt polnischer, und deutscher Siedler stieß. Damit nicht genug: Für Lemberg typisch war auch ein signifikanter Anteil von Armeniern und Juden; erstere monophysitisch in der religiösen Ausrichtung, letztere noch in sich differenziert, da ein Teil zu den Karaimen zählte. Wie sehr sich das innere Gefüge der Stadt veränderte, weist schon allein die Feststellung aus, dass die Deutschen wenigstens in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Oberschicht dominierten. Es gehört zu den wichtigsten Fragen der rotreußischen (das heißt: russischen, polnischen, ukrainischen und deutschen) Geschichte, wie sich die nationale Gemengelage in Lemberg in der frühen Neuzeit austariert hat - vor den nationalen Verwerfungen, die seit dem 19. Jahrhundert für neue Beziehungsmuster sorgten.
Das Buch von Myron Kapraľ beantwortet zentrale Teile dieses Fragenbündels. Es basiert auf einer überwältigenden Quellenkenntnis, die nicht zuletzt dadurch unterstrichen wird, dass der Autor vor wenigen Jahren eine 575-seitige zweisprachige Edition der wichtigsten Privilegien zu den nationalen Gruppierungen in Lemberg vom 14. bis 18. Jahrhundert publiziert hat (Ľviv 2000). Für das vorliegende Buch hat er neben den gedruckten auch archivalische Quellen aus Lemberg, Krakau, Warschau und Breslau benutzt; hinzu kommt die Edition von vier verstreuten Dokumenten vom 16. bis 18. Jahrhundert im Anhang. Die Auswertung der Literatur bezieht selbstverständlich neben den russischen, ukrainischen und polnischen auch deutsche Titel mit ein. Im Anschluss an einen ausführlichen Durchgang durch Quellen und Literatur (15-44) geht der Verfasser in fünf Schritten vor: In einem ersten stellt er die rechtliche Situation der ethnischen Gruppierungen Lembergs anhand der königlichen Privilegien vor. Es geht dabei um die polnische, ukrainische, armenische und jüdische Gruppe. Die Beziehungen zwischen den beiden bevölkerungsstärksten Ethnien, der ruthenischen und der polnischen, werden im zweiten Schritt behandelt. Zentral ist dabei die Positionierung der orthodoxen Ruthenen in einer Stadtgesellschaft, die (seit Kasimir dem Großen 1356) Katholiken rechtlich bevorzugte. Es zeigt sich, dass Eigenständigkeit im Vollsinn für die Ruthenen nur im Rahmen ihrer (bereits von Kasimir dem Großen) garantierten freien Religionsausübung bestand (vergleiche dazu Karte 2 zum Bestand religiöser Objekte im Stichjahr 1772). Daraus erklärt sich das Gewicht religiöser Bruderschaften, aber auch insgesamt die Bedeutung des religiösen Sektors für die Erforschung der Integrationsgeschichte Lembergs. Im dritten Schritt bewegt sich der Verfasser auf das Verhältnis von Armeniern und Polen zu. Obgleich zahlenmäßig klein und religiös streng genommen in die Sparte der "Häretiker" einzuordnen, schaffte die armenische Gruppe den Aufstieg zu faktischer rechtlicher Gleichstellung mit den Katholiken. Im Hintergrund stand die starke wirtschaftliche Potenz der armenischen Kaufleute, die im Sinne eines funktionalen Stadtwesens nicht umgangen werden konnte. In Ansätzen trifft dies auch auf das Verhältnis zwischen den Juden und den Katholiken in Lemberg zu, das in einem vierten Schritt analysiert wird: Die Juden, die (wie überall) keinem direkten Assimilierungsdruck seitens der Katholiken ausgesetzt waren, wurden zu einem substanziellen Faktor der städtischen Bevölkerung Lembergs - und bildeten im 18. Jahrhundert sogar die zweitstärkste Ethnie. In einem fünften Schritt schließlich bündelt der Verfasser die bilateralen Beziehungsgeschichten unter demographischen und soziotopografischen Aspekten (in Richtung einer "Natiotopographie", 298 ff.; siehe dazu Karte 1 mit Stand 1767).
Eine Vielzahl wichtiger Ergebnisse ist zu sehen, allen voran die Erkenntnis, dass das soziale Kapital an gemeinschaftlichem Auskommen schneller aufgebraucht war, als gemeinhin angenommen. Die von Adeligen wie Stanislaus Orechovius stolz ausgegebene Devise: "gente Ruthenus, natione Polonus", die in der Forschung gerne als Ausweis eines gelungenen Integrationsprozesses in den polnischen Ostgebieten gewertet wird, erweist sich bei näherem Hinsehen als eher umgekehrt aussagekräftig: Sie war möglich für polonisierte Adelige, nicht aber für ruthenische, armenische oder jüdische Stadtbewohner. Hier werden die Brüche deutlich, die im 19. Jahrhundert dann zu Segregationen führten und die "Erfolgsgeschichte" Lembergs auf die Zeit des Polnisch-Litauischen Commonwealth beschränkt sein ließen. Methodisch ist anregend, dass Kapraľ gerade die Konflikte in seine ethnografische Analyse mit einbezieht. Hier wäre möglicherweise nachzutragen, wie sich die Assimilation der Deutschen in Richtung der Polen abgespielt hat; denn auch wenn sie in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts schon recht weit gediehen sein sollte, sind die Deutschen als ethnische Gruppe im 16. Jahrhundert durchaus noch existent (277) - ohne dass die Darstellung diesem Faktum Rechnung trüge. Zunächst aber besitzt die Forschung zu Rotrussland mit dem Buch von Kapraľ nunmehr einen Meilenstein in der Analyse komplexer ethnischer Wechselbeziehungen im städtischen Raum.
Thomas Wünsch