Nils Freytag: 90. Jahrestag des Ausbruchs des 1. Weltkriegs. Einführung, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
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Von Nils Freytag
Der Erinnerungsbetrieb läuft auf Hochtouren. Wer der Rückschau auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der sich Anfang August zum 90. Mal jährt, entgehen möchte, muss sich schon gewaltig anstrengen: Bildbände und populärwissenschaftliche Bücher, Ausstellungen und TV-Dokus, DVDs und Internetportale - sie alle rufen ebenso wie die weltkriegsgesättigten Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen alte und neue Bilder von der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (George F. Kennan) in unseren Köpfen wach.
Da Erinnerung als anthropologische Grundkonstante immer zeit- und kontextabhängig ist, liegt die Frage nahe, weshalb sich bereits das nach den ungeschriebenen Regeln des Erinnerungsmarktes eigentlich ungerade 90-jährige Gedenken derartiger Aufmerksamkeit erfreut. Was also außer den wirtschaftlichen Interessen von Verlegern und Medienschaffenden lässt die öffentliche Erinnerungskurve ansteigen? Einmal abgesehen von den schauerlichen und bedenklichen Bemühungen, die deutschen Soldaten in heutigen Kriegs- und Krisengebieten an 'Recken' à la Paul von Hindenburg und Ernst Jünger zu gemahnen, um so genannte militärische 'Großtaten' des Ersten Weltkrieges ins nationale Gedächtnis zu rufen, sind drei Gesichtspunkte in besonderer Weise hervorzuheben:
Erstens tritt die gesamteuropäische Ebene des Gedenkens an sowie gegen Krieg und Gewalt deutlich hervor. Das ist nach den Erfahrungen und den bis dato kaum überschaubaren Konsequenzen des 11. Septembers 2001 kaum verwunderlich. Nachdem die hochemotionalen Fragen nach Kriegsursachen und Kriegsschuld geklärt sind, kann die nationalzentrierte Sicht in den Hintergrund rücken und die Erinnerung zunehmend einem gemeinsamen europäischen Geschichtsbewusstsein verpflichtet werden.
Zweitens ist der Erste Weltkrieg ein historisches Ereignis von epochaler Reichweite; ihm wird aufgrund seiner weit ausstrahlenden Folgen der Rang einer globalen Zeitenwende zugeschrieben. Auch wenn dies - wie für jede andere Zäsur auch - naturgemäß umstritten ist, gibt es gute Gründe, mit diesem großen Krieg das lange 19. Jahrhundert (1789-1914/18) enden und das kurze 20. Jahrhundert (1914/18-1989/91) beginnen zu lassen. Die Erinnerung an seinen Beginn ist zugleich eine Reminiszenz an das nun vergangene 20. Jahrhundert, denn mit dem Beginn der Epoche wird gleichzeitig meist deren Ende mitgedacht.
Drittens "machen" wir Historiker die Weltkriegserinnerungskultur zu einem beträchtlichen Teil selbst -- auch dieses Forum gehört dazu. Das runde Datum trifft auf das verständliche Bedürfnis der Zunft, neue Forschungsergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln, denn für den Ersten Weltkrieg ist gerade im letzten Jahrzehnt ein Perspektivenwechsel und damit ein beträchtlicher Erkenntniszugewinn zu verzeichnen: Zahlreiche Arbeiten der letzten Jahre, die einer "Neuen Militärgeschichte" zuzurechnen sind, haben die kultur-, sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Dimensionen des Krieges fruchtbar und gewinnbringend analysiert und sie mit den klassischen Feldern der Politik- und Militärhistorie verknüpft. So sind etwa viel stärker als zuvor Themen wie Kriegserfahrungen, -erinnerungen und -mythen in das Blickfeld der Forschung gerückt.
Allen drei genannten Aspekten sind die Besprechungen dieses Forums verpflichtet. In ihnen gerät einerseits auf den Prüfstand, ob und inwieweit sich die neuen Forschungserträge zum zumindest ansatzweise "totalen Krieg" bereits in Synthesen und populärwissenschaftlichen Publikationen niedergeschlagen haben. Andererseits haben die Rezensionen Fragen nach dem epochalen Charakter des Ersten Weltkrieges ebenso im Blick wie diejenigen nach seiner gesamteuropäischen, ja globalen Dimension. Hinzu treten Besprechungen zwei neuer Detailstudien, die sich fundamentalen Problemfeldern des Ersten Weltkrieges annehmen: der erschütternden Brutalität und der Kriegsverbrechen deutscher Soldaten in Belgien 1914 sowie dem Weg zur fatalen und folgenreichen Entscheidung zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg Anfang 1917.