Manfred Jakubowski-Tiessen / Hartmut Lehmann (Hgg.): Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 358 S., 16 Abb., 1 Karte, ISBN 978-3-525-36271-6, EUR 29,90
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Ob und wie sich die Funktion von Religion im Katastrophenfall zwischen dem 14. und dem frühen 19. Jahrhundert verändert hat - das ist Thema des aus einer Tagung des Max-Planck-Instituts für Geschichte hervorgegangenen Sammelbandes, und dazu haben die beiden Herausgeber signifikante Einzelfälle ausgewählt, wie sie in ihrer knappen Einleitung darlegen (8 f.). Der hier behandelten Zeit war der moderne Katastrophenbegriff - die Naturkatastrophe allemal - fremd, denn die Katastrophe blieb weitestgehend der Dramentheorie vorbehalten. In aller Regel werten die Autoren und die Autorin publizistische Quellen aus, um ihre Thesen zu untermauern.
Zu Beginn widmet sich Heinrich Dormeier dem Zusammenhang von Pestepidemien und Frömmigkeitsformen im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit; er konzentriert sich dabei auf Italien und Deutschland. Erst für die Mitte des 15. Jahrhunderts macht er einen signifikanten Anstieg der Pestheiligen aus, wobei wohl neben dem schwarzen Tod auch andere Einflüsse eine Rolle spielten. Sie traten neben die Schutzmantelmadonna und den strafenden Christus. Differenziert arbeitet der Kieler Historiker unterschiedliche Entwicklungen heraus: Insbesondere südlich der Alpen wurden lokale Schutzpatrone noch vor speziellen Pestheiligen angerufen. Einer der wenigen neuen Heiligen des 15. Jahrhunderts war der Heilige Rochus, dessen Kult im Gefolge der Pestzüge wahrscheinlich in Laienkreisen entstand (31 f.).
Die Einführung des Bet- und Fasttags in Basel 1620 verfolgt anschließend Martin Sallmann. Der Dreißigjährige Krieg drohte Basel zu erreichen, erstreckten sich die kriegerischen Handlungen doch mittlerweile bis ins Veltlin. Dieses Beispiel einer obrigkeitlich verordneten Religiosität ist eine aus verschiedenen Städten bekannte Krisenreaktion. Bemerkenswert allerdings ist der Spagat, den man in einer reformierten Stadt versuchte, denn das sinnlich erfahrbare Beten und Fasten gehört sicher nicht zu den Kernbestandteilen des protestantischen Glaubens.
Manfred Jakubowski-Tiessen nimmt mit der so genannten Burchardi-Flut von 1634 ein Ereignis in den Blick, das sich tief ins kollektive Gedächtnis der Nordseeküstenregionen Schleswig-Holsteins eingebrannt hat, nicht nur wegen der verheerenden Schäden und der vielen Toten, sondern auch weil es die Gestalt der nordfriesischen Küstenlandschaft bis heute prägt. Diese Sturmflut wurde als übernatürlich wahrgenommen und als Strafgericht Gottes gedeutet (195f.). Gleichzeitig bezogen die Zeitgenossen den Dreißigjährigen Krieg in ihren straftheologischen Deutungskanon mit ein. Dies schloss naturgesetzliche Erklärungen keineswegs aus, allerdings sind diese der religiösen Lesart wohl unterzuordnen. Mit Blochs "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" argumentiert ebenfalls Marie Luisa Allemeyer, die dem Umgang mit den bis weit in die Neuzeit allgegenwärtigen Stadtbränden nachspürt; sie beschränkt sich dabei auf das 17. Jahrhundert. Als Quellen dienen ihr etwa Brandpredigten (203 f.). Neben der nach wie vor präsenten straftheologischen Auslegung begegnen zunehmend professionelle und institutionelle Maßnahmen gegen Brände, dazu zählt sie Brandordnungen (214) ebenso wie technische Traktate und Versicherungen.
Die beiden folgenden Beiträge sind dem Themenkreis Erdbeben verpflichtet. Zunächst gibt Rienk Vermij einen summarischen Überblick über frühneuzeitliche Erdbeben. Zwar kursierten auch antike Erklärungen für Erdbeben (236 f.), maßgeblicher aber war die Deutung als Zeichen des bevorstehenden jüngsten Tages. Erdbeben waren danach vor allem Strafe oder Warnung, und Vermij wertet die Übernahme dieser Vorstellung insgesamt als Rationalisierungsprozess - worüber sich trefflich streiten ließe. Denn bereits Ulrich Löfflers Beitrag zum berühmt-berüchtigten Erdbeben von Lissabon (1755) entfaltet eine breite Palette unterschiedlichster Reaktionen, nicht nur im Protestantismus. Auf Basis seiner kirchengeschichtlichen Dissertation zum gleichen Thema führt er aus, dass nicht dieses Beben allein den aufgeklärten Optimismus erschütterte, wie es wiederholt an Voltaires oder Kants Reaktionen festgemacht wurde. Zudem stellte das Schrifttum zum Siebenjährigen Krieg die publizistische Auseinandersetzung um Lissabon rasch in den Schatten.
Religiöse Rückwirkungen der Hungerkrise von 1816/17 untersucht abschließend Andreas Gestrich. Insgesamt macht er eine Hinwendung zum liebenden Gott und damit einen Deutungswandel zum vorherrschenden straftheologischen Muster der Frühen Neuzeit aus, auch wenn die Krise in pietistischen Kreisen durchaus noch als Vorzeichen der nahenden Endzeit galt. (288) Nicht nur in Bayern kam es im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zu einer Wiederbelebung überkommener Frömmigkeitsformen wie etwa des Wallfahrtswesens - und die Hungerkrise ist dafür sicher nur eine unter mehreren Ursachen.
Nicht recht in den Band fügen sich die beiden Beiträge Wolfgang Behringers, weshalb sie hier gesondert behandelt werden. Das betrifft zum einen seinen Aufsatz zur "Krise von 1570", der über 100 Seiten umfasst (51-156). Hier nimmt er keine Katastrophe im engeren Sinn in den Blick und beschränkt sich ausdrücklich nicht auf deren religiöse Folgen. Behringer will vielmehr den vielfältigen Auswirkungen dieser ersten Teuerungs- und Hungerkrise der so genannten kleinen Eiszeit auf die Zeitgenossen nachspüren und eine vergleichende frühneuzeitliche Krisenforschung anstoßen (62). Dazu beginnt er mit einer allgemeinen Krisenbeschreibung im europäischem Kontext, um sich nach und nach auf die Krisenfolgen für Bayern und insbesondere Augsburg zu konzentrieren. Die abschließend formulierten, sehr allgemein gehaltenen "zehn Gebote der Krisenforschung" (152-155), die Behringer als "vorläufiges Forschungsprogramm" entwirft, lassen die Probleme dieses Beitrags nochmals offen zu Tage treten, denn mit den Wechselwirkungen zwischen Katastrophe und Religion hat er nun wirklich nichts zu tun. Mit Blick auf das Gesamtgefüge des Bandes hätte man sich hier einen strukturierenden Herausgebereingriff gewünscht: Es ist schon zu fragen, weshalb die in überbordenden Fußnoten zusammengestellten Traktate zur Krise überhaupt angeführt werden, wenn sie nach Selbsteinschätzung des Autors keine "besondere Originalität" auszeichnet (69 f.). Darüber hinaus verlängern viele Quellenzitate den Aufsatz über Gebühr - zumal es sich vielfach um Passagen des am Ende des Bandes ohnehin edierten Augsburger Krisengedichts handelt.
Auch diese den Band beschließende kommentierte Edition von zwei Gedichten irritiert (294-355). Das Gedicht des Augsburger Malers Barnabas Holzmann, das Behringer mal als "Krisengedicht", mal als "Katastrophengedicht" tituliert (etwa 294), ist Gewinn bringend zu lesen und auch von forschungspraktischem Nutzen, insbesondere wenn man sich für die Folgen der "Krise von 1570" in Augsburg interessiert. Über editorische Grundsätze und Details lässt sich immer streiten, bemerkenswert ist etwas anderes: Nach Behringer erfolgt die Wiedergabe "buchstabengetreu" - freilich fallen auf den ersten Blick mehrere Abweichungen auf, wenn man allein nur das abgebildete Titelblatt mit der nebenstehenden Transkription vergleicht (300 f.).
Insgesamt ist der Band anregend, und gewiss ist der Versuch lobenswert, religions- und katastrophengeschichtliche Aspekte miteinander zu verknüpfen. Dennoch legt man ihn mit gemischten Eindrücken aus der Hand, denn auf die Reichweite der Einzelergebnisse muss sich der Leser weitgehend selbst einen Reim machen. Es fehlen grundsätzliche Überlegungen zu den Begriffen "Katastrophe" und "Krise". Was unterscheidet sie voneinander? Was lässt ein (Natur-)ereignis zur (Natur-)katastrophe werden? Wann haben wir es mit einer Sektoren übergreifenden Krise zu tun? Und zuletzt: Gut lektoriert ist dieser Band nun wirklich nicht. Viele Fehler (siehe nur 238 f.), uneinheitliche Fußnoten und falsche Querverweise schmälern den Lesegenuss beträchtlich. Hier ist man von Vandenhoeck & Ruprecht Besseres gewohnt.
Nils Freytag