Susanne Köstering: Natur zum Anschauen. Das Naturkundemuseum des deutschen Kaiserreichs 1871-1914, Wien: Böhlau 2003, 351 S., 49 Abb., ISBN 978-3-412-04702-3, EUR 39,90
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In ihrer Dissertation (TU Berlin) spürt Susanne Köstering den Wechselwirkungen von natürlicher Umwelt und Gesellschaft am Beispiel des Naturkundemuseums im Deutschen Kaiserreich nach. Ihr übergeordnetes Erkenntnisinteresse gilt dabei einem epochalen naturwissenschaftlichen Umbruch des ausgehenden 19. Jahrhunderts: der so genannten biologischen Wende, dem auf der Darwin'schen Evolutionstheorie aufbauenden Übergang von der Taxonomie (zoologische Systematik) zur Biologie wie Ökologie. In vier Großkapiteln konzentriert sie sich auf die innovativen zoologischen Schausammlungen in deutschen Naturkundemuseen, denen als Vermittler der Evolutionsbiologie um 1900 eine herausragende Bedeutung zuwuchs. Dazu wertet Köstering umfangreiches archivalisches Quellenmaterial kommunaler, staatlicher und musealer Provenienz aus und zieht auch gedruckte Ausstellungsbesprechungen in Tageszeitungen und Fachzeitschriften oder Ausstellungsführer heran.
Im ersten Kapitel geraten Voraussetzungen, Institutionen und Gebäude in den Blick. Vorgestellt werden die musealen Anfänge, wie etwa herrschaftliche Naturalienkabinette. Sie gingen spätestens im Kaiserreich zumeist ebenso in staatliche oder kommunale Regie über wie die von bürgerlichen Vereinen gegründeten und getragenen Naturkundesammlungen. Nur wenige Vereine konnten den kostspieligen Unterhalt der teilweise ins Uferlose angewachsenen Sammlungen weiterhin allein tragen - die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft in Frankfurt ist die wohl berühmteste Ausnahme. Als grundsätzlicher Trend ist eine räumliche Zweiteilung in einen öffentlichen und einen wissenschaftlichen Sammlungsbereich zu beobachten, wobei es um 1900 zunehmend wichtiger wurde, Sammlungen möglichst komplett öffentlich zu präsentieren. Die Frage des Museumsbaus verknüpfte vor allem der bekannte Zoologe Karl Möbius mit der wissenschaftlichen Reformdebatte. Zwei Gebäudetypen standen zur Diskussion: der Hallenbau und der Lichthofbau. Dabei etablierte sich langfristig der auf Erweiterung angelegte Lichthofbau auch international als Repräsentationsbau der bürgerlichen Gesellschaft. Vor allem aus dem anglo-amerikanischen Bereich stammende Reformimpulse griffen im Kaiserreich Platz, aber sie schlugen sich architektonisch zunächst nur wenig nieder, wie am gescheiterten Projekt des Berliner Naturkundemuseums in den 1870er-Jahren nachzuvollziehen ist. Hier spielten politische Positionen unmittelbar hinein, die insgesamt nur wenig ausgeleuchtet werden: Auch wenn Rudolf Virchow 1875 in der Debatte des preußischen Abgeordnetenhauses zwei Häuser bevorzugte, waren liberale Grundüberzeugungen doch eher vereinbar mit einer vollständigen Darbietung der Sammlungen in einem Haus.
Der zweite Abschnitt nimmt den nicht immer klar voneinander abgrenzbaren wissenschaftlichen Übergang von der Taxonomie über die Tiergeografie zur Biologie und Ökologie ins Visier. Stand zunächst noch die reine Systematik im Vordergrund, so waren die reformorientierten Museen schon bald bemüht, Tierverwandtschaften und Artenentstehung auf geografischer Basis anschaulich zu erklären. Einzelne Tierklassen erhielten in den führenden Museen annähernd gleich viel Raum. Im Mittelpunkt standen nun unterschiedliche Perspektiven auf Tiere, ausgestopfte Vögel waren beispielsweise nicht mehr nur frontal zu sehen, und auch Verbreitungskarten, Modelle oder anatomische Zusammenstellungen traten hinzu. Diese Tiergeografie eignete sich vorzüglich, um die junge Staatsnation naturwissenschaftlich zu definieren. Und es überrascht auch nicht, dass neben den Tieren des deutschen Waldes nach und nach exotische Regionen zum Dreh- und Angelpunkt in den Museen wurden, als Ausdruck eines von der Polarzone bis zum Äquator reichenden imperialen Machtanspruchs. Dieser erweiterte räumliche Machtanspruch korrespondierte mit der biologischen Wende, mit der Lebensräume in den Blick gerieten; in diese vorgegebenen Räume nistete sich das Leben gewissermaßen ein. Der Übergang zur Ökologie, welche die Beziehungen zwischen Lebewesen und ihrer unmittelbaren Umwelt beleuchtet, wurde dann mit Heimatvorstellungen naturwissenschaftlich unterfüttert. Diese Ökologie wird vor allem im schulischen Bereich greifbar: Berühmt geworden ist der "Dorfteich" als intaktes Biotop in der immer mehr großstädtisch dominierten Kulturlandschaft, der im Naturkundeunterricht und in Schulmuseen auf kleinstem Raum nachgestellt werden konnte.
Anschließend erfährt der Leser etwas über neue visuelle Konzepte, welche die biologische Wende inszenierten. Diese Konzepte ließen aus starren und bewegungslosen Bildern anschauliche und lebendige Szenen werden: "Zaunigels Kinderstube" (1911) im Leipziger Naturkundemuseum ist dafür ein Beispiel unter vielen. Die soziale Familie wurde zum Ursprung allen Lebens stilisiert. Grundlegend für diesen Umbruch war eine neue Technik der Tierpräparation, die Dermoplastik. Dabei wurde das Skelett des Tieres nachgebaut, als künstlicher Körper modelliert und am Ende Tierhaut darüber gezogen. Für diese möglichst lebensechte Präparation waren naturwissenschaftliche Kenntnisse ebenso unabdingbar wie künstlerische Techniken. Während in den USA oder Schweden Dioramen eher eine offene, naturwüchsige Landschaft zeigten, dominierte im Kaiserreich eine schützende, überschaubare Umgebung, in welche sich die Dermoplastiken einfügten und die die Aufmerksamkeit der Museumsbesucher fesseln sollte. Seit den 1890er-Jahren drängte sich immer mehr die Trophäenpräsentation in den Vordergrund. Vor allem das Berliner Naturkundemuseum erhielt massenhaft exotische Tiere, auch weil der Kustos für die Säugetiersammlung, Paul Matschie, im Zentrum eines kolonialen Jagdnetzwerkes stand. Er baute die koloniale Sammlung bis 1910 zur weltweit bedeutendsten Sammlung jagdbarer Säugetiere aus. Besonders begehrt als visuelle Höhepunkte waren männliche Gorillas, um welche die Museen geradezu wetteiferten.
Das vierte Großkapitel - das man sich am Beginn der Arbeit gewünscht hätte - ist schließlich einem Kardinalproblem der Geschichtswissenschaft gewidmet: der Rezeptionsforschung. Es geht hier um die Adressaten der naturkundlich-musealen Wissensvermittlung: Wissenschaftler, Amateurforscher, Lehrende und Lernende. Seit einer Mannheimer Museumstagung von 1903 galten gerade die Provinzial- und Regionalmuseen als allgemeine Volksbildungsstätten, und die in eben diesem Jahr erreichten 180.000 Besucher im Altonaer Museum sind schon beachtlich. Bereits zeitgenössische Erhebungen zeigen, dass bürgerliche Milieus insgesamt weniger angesprochen wurden, wohl auch weil miteinander verzahnte museums- und sozialreformerische Bestrebungen die biologische Wende flankierten. Hier lassen sich denn auch Grundzüge moderner kommunikativer Wissensvermittlung ausmachen, die teilweise mit Exkursionen verbunden wurden. Familienbesuche im Naturkundemuseum waren im Kaiserreich ein erstrangiges Sonntagsvergnügen, und es kann fast schon als Ausnahme gelten, dass der Leipziger Museumsleiter Richard Buch am 18. Oktober 1913 über schwachen Besuch klagte. Aber wer will dies den Leipzigern verübeln, denn an diesem Tag gab es den Kaiser zu bestaunen, wie er widerwillig und hastig das Völkerschlachtdenkmal einweihte.
Es gelingt Susanne Köstering überzeugend, das Naturkundemuseum des Kaiserreichs als Brennpunkt der vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen natürlicher Umwelt und Gesellschaft sowie als Beispiel der (kulturellen) Deutung und Klassifizierung von vermeintlicher Natur zu analysieren. So liegt hier insgesamt eine wichtige umweltgeschichtliche Untersuchung vor, die diverse Übersichten zu Naturkundemuseen, Schulmuseen und auch bedeutenden Direktoren sowie ein Orts- und Personenregister beschließen.
Nils Freytag