Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. 3), Göttingen: Wallstein 2003, 766 S., ISBN 978-3-89244-610-1, EUR 46,00
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Wer über Auschwitz schreibt, sollte nicht von Gesellschaft sprechen, sondern der Erinnerung der jüdischen Opfer zuhören. So ließe sich vielleicht in freier Abwandlung eines bekannten Horkheimer-Zitats das Grundanliegen der 2003 veröffentlichten Studie Nicolas Bergs "Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung" zusammenfassen. Diese immerhin 766 Druckseiten umfassende Studie hat eine für Dissertationen außergewöhnlich breite Diskussion nach sich gezogen. Im Gegensatz zu der oftmals als Vergleich herangezogenen Goldhagen-Debatte blieb die "Berg-Debatte" aber in stärkerem Maße eine innerfachliche Diskussion, auch wenn sie mit einem öffentlichkeitswirksamen Auftakt begann. Man kann es als Berechnung oder als Ungeschicklichkeit ansehen oder mag gar an Zufall glauben, dass Berg selbst im Vorfeld der Veröffentlichung seiner Studie einen Zeitungsartikel veröffentlichte, in dem er den Umstand enthüllte, dass der langjährige Nestor der deutschen NS-Forschung, Martin Broszat, 1944 einen Aufnahmeantrag in die NSDAP gestellt hatte. [1] Jedenfalls lenkte dieser publizistische Appetithappen zu einem guten Teil die spätere Rezeption der Studie und verstellte damit freilich auch ein Stück weit den Blick auf wichtigere und gleichzeitig sperrigere Aspekte seines Untersuchungsgegenstandes. So geht es Berg, wie er in einem abschließenden Kommentar zu einem Diskussionsforum bei H-Soz-u-Kult nochmals klarstellte, im Kern um die These, dass "die deutsche Holocaustforschung über Jahrzehnte einen Diskurs ausgebildet hat, in welchem jüdische Historiker in einen speziellen Selbstlegitimierungs-Zwang genötigt" [2] worden seien. In der Tat handelt es sich bei diesem Vorwurf um den stärksten Punkt seiner Arbeit, die neben viel Zustimmung auch mancherlei Kritik auf sich gezogen hat. In jedem Falle aber hat sie anregende Diskussionen ausgelöst.
Berg stellt sich den Anspruch einer gedächtnistheoretisch untermauerten Diskursgeschichte der Auseinandersetzung westdeutscher Historiker mit dem Holocaust nach 1945. Dieser Aufgabe unterzieht er sich in vier Hauptkapiteln: Im Mittelpunkt des ersten Kapitels stehen Friedrich Meinecke, Gerhard Ritter und Hans Rothfels, anhand derer er den Versuch der Rettung einer positiv besetzten nationalgeschichtlichen Deutung noch einmal nachzeichnet. Dabei geht es Berg freilich vor allem darum zu zeigen, dass bereits in den frühesten Wortmeldungen prominenter deutscher Historiker nach 1945 Erfahrungen jüdischer Historiker "nicht zum Thema gemacht" worden seien. Vielmehr seien deren Themen "begründungspflichtig und ihre Perspektive auf das Ereignis des Holocaust marginalisiert" (192) worden, womit der Grundakkord des Buches kräftig angeschlagen wird.
Dies setzt sich im zweiten Hauptkapitel fort, das drei sehr unterschiedliche Ansätze zusammenbringt und damit exemplarisch die verschiedenen Möglichkeiten des Umgangs mit der Spannung zwischen Erforschung und Erinnerung präsentiert. Während also am Beispiel von Hermann Heimpel, Reinhard Wittram und Fritz Ernst Exerzitien in "protestantischer Bußfertigkeit" untersucht werden, führt Berg mit der Schilderung der Entstehung einer professionellen Zeitgeschichtsforschung am Münchner Institut für Zeitgeschichte einerseits und der Untersuchung der Arbeiten des jüdischen Amateurhistorikers Joseph Wulf die beiden Hauptprotagonisten seiner Erzählung ein. Vor allem am Beispiel des Letzteren versucht Berg jene "Konfliktlinie zu jüdischen 'Außenseitern' der Holocaust-Forschung" aufzuzeigen, die von deutscher Seite "mit der Differenz von 'Wissenschaft' und 'Erinnerung' begründet" worden sei. Tatsächlich habe es sich aber um "eine Dichotomie zweier verschiedener Gedächtnisse" (218 f.) gehandelt. Das Institut für Zeitgeschichte wird dabei als Ursprungsort der Genese eines Gegensatzes von "Sachlichkeit" und "Pathos" ausgemacht, mithilfe dessen der Gegensatz eines deutschen und jüdischen Gedächtnisses diskursiv gefasst worden sei - mit der Folge, dass jüdische (und nichtjüdische) Wissenschaftler ausgegrenzt worden seien. Freilich bleibt hier die Frage offen, inwieweit die Deutung dieses Konflikts allein in der von Berg angebotenen Deutungsdimension eines Gegensatzes zwischen "deutscher" und "jüdischer" Erinnerung aufgeht. Erstens fanden sich Juden und Nichtjuden auf beiden Seiten der Konfliktlinie. Und zweitens müsste in diesem Zusammenhang stärker der Frage der Grenzziehung zwischen Laien- und Expertenwissenschaft nachgegangen werden. In der Phase der Etablierung einer neuen Disziplin - und darum ging es bei der sich in der Nachkriegszeit erst allmählich professionalisierenden Zeitgeschichte ganz wesentlich - spielen derartige Grenzziehungen eine ausschlaggebende Rolle - und dies dürfte auch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die hier beschriebenen Konflikte gespielt haben.
Im dritten Hauptkapitel untersucht Berg die Rolle von 'Auschwitz' im Rahmen verschiedener theoretischer Modelle, wobei Totalitarismus, Faschismus und Antisemitismus im Mittelpunkt stehen. Hier verschärft Berg seine These dahingehend, dass Pioniere der deutschen Zeitgeschichtsforschung wie Hans Buchheim und Martin Broszat "Mitläufer-Erzählungen" produziert hätten, die "ausschließlich die gedächtnisgeschichtliche Perspektive derer, die mitgemacht haben" (424), expliziert hätten. Aber auch im Rahmen von Faschismus-Theorien, die eine Antihaltung gegen die Mitläufer-Perspektive inszeniert hätten, sei der Holocaust allenfalls unter dem Aspekt eines Nebenwiderspruchs behandelt worden. Die Erinnerung der Opfer habe deshalb weder in der DDR noch in der Bundesrepublik ihren Platz gefunden, wie Berg am Beispiel Helmut Eschweges wie Joseph Wulfs ausführt. Dass sich Letzterer 1974 das Leben nahm, überhöht den Konflikt gewissermaßen ins Tragische. Von dem Vorwurf mangelnder Sensibilität für die "Opfer-Erfahrungen und das Gedächtnis der Überwältigung" (500) nimmt Berg dabei auch Hannah Arendt nicht aus, der er ähnlich wie den deutschen Zeithistorikern den Vorwurf macht, dem Erinnerungskonzept der Täter über Gebühr auf den Leim gekrochen zu sein, wie er anhand ihrer Eichmann-Deutung argumentiert.
Dieser Vorwurf wird im vierten Hauptkapitel, das sich mit der Debatte zwischen Intentionalismus und Strukturalismus befasst, weiter ausgebaut: So interpretiert Berg die Entstehung der strukturalistischen Herangehensweise, die er bereits in die 50er-Jahre zurückverlagert, als "apologetischen Reflex". Auch hier sieht er wieder eine Dichotomie zwischen deutscher und jüdischer gedächtnistheoretischer Perspektivenwahl obwalten: In strukturfunktionalistischer Deutung, die in großer Nähe zu der von den ehemaligen Tätern nach dem Krieg angebotenen Selbstinterpretation stehe, seien weder "die Motive der Täter noch die Herkunft der Opfer"(529) ins Zentrum der Interpretation der nationalsozialistischen Judenvernichtung gerückt. Diesen Vorwurf untermauert Berg insbesondere mit der "Hagen-Affäre". Im Mittelpunkt stand ein mehrjähriger Briefwechsel in den 60er-Jahren zwischen Broszat und Wulf über Wilhelm Hagen, der während des Krieges Leiter des Warschauer Gesundheitsamtes und später Präsident des Bundesgesundheitsamtes war. Die Art und Weise, in der Broszat Versuche Wolfs, Hagen eine persönliche Verstrickung in die Vernichtung der Juden im Warschauer Ghetto anzulasten, abwehrte, wirkt in der Tat irritierend. Berg interpretiert dies als Ausdruck einer "unausgesprochenen Entlastungssehnsucht" (614). Dies dient ihm dazu, das von Broszat und anderen deutschen Zeithistorikern seiner Generation kultivierte "Pathos der Nüchternheit" insgesamt als eine Chimäre zu diskreditieren. Was für Broszats Auseinandersetzung mit Wulf gegolten habe, sieht Berg auch für dessen Haltung in seiner berühmten Kontroverse mit Saul Friedländer als gegeben an: Hier hätten sich nicht einfach subjektive jüdische Erinnerung und objektive deutsche Zeitgeschichtsforschung gegenübergestanden, vielmehr seien zwei in die Wissenschaft verlängerte Gedächtnisse aufeinander gestoßen. Hinter dem Anspruch deutscher Zeithistoriker auf "Objektivität" habe somit das Leugnen der Bedeutung der eigenen Erinnerung für Perspektivenwahl und Erklärungsansätze gestanden. Nur so ließen sich Berg zufolge auch die "blinden Flecken" der deutschen Zeitgeschichte erklären, zu denen lange Zeit auch der Holocaust gehört habe.
Etwas überraschend kommt in Bergs Studie die Erlösung aus diesem gedächtnistheoretischen Konflikt durch den so genannten Konzeptionalismus, durch den die eingefahrene Dichotomie zwischen Strukturalismus und Intentionalismus von Forschern wie Götz Aly, Ulrich Herbert und Michael Zimmermann überwunden worden sei. Die Versöhnung von Erforschung und Erinnerung wird im Berg'schen Narrativ letztlich durch den Wandel der Generationen bewirkt, und so liegt, wendet man einmal die Kategorien der Analyse von Erzählformen auf diese Studie selbst an, ein leiser Hauch von Teleologie auf dem ganzen Unterfangen.
Noch einmal: Mit dem Vorwurf, dass die deutsche Zeitgeschichtsforschung lange Zeit die Bedeutung der eigenen Erinnerung und das heißt letztlich der eigenen Geschichtlichkeit für die Konstitution ihres Forschungsgegenstandes wie der eigenen Epistemologie über lange Zeit hinweg systematisch ausgeblendet habe, indem sie sich hinter einem Ideal der "Objektivität" beziehungsweise der "Nüchternheit" verschanzte und zugleich den jüdischen Opfern "Subjektivität" und "Betroffenheit" zuschrieb, legt Berg seinen Finger auf einen wunden Punkt. Diese diskursive Entgegensetzung von "objektiv" und "subjektiv" tradiert in gewisser Weise ältere mit Geschlechterpolaritäten korrespondierende Muster, die bereits seit dem 19. Jahrhundert zur Beschreibung von Wissenschaftlern und Nichtwissenschaftlern benutzt wurden. Zudem aktualisiert diese Gegenüberstellung auch Polarisierungen von "reiner" und "unreiner Wissenschaft", die nach 1945 dazu gedient hatten, einen großen Teil der deutschen Wissenschaftler durch Ausgrenzung einiger weniger "Pseudowissenschaftler", welche die "objektive Wissenschaft" verraten hätten, von einer Mitverantwortung an den nationalsozialistischen Verbrechen zu exkulpieren. Perfiderweise wurden nun gerade jüdische Historiker mit jenen Pseudo-Wissenschaftlern gleichgesetzt, die durch mangelnde Trennung subjektiven, politischen Engagements und objektiver wissenschaftlicher "Faktentreue" die "reine Wissenschaft" prostituiert hätten. Als bedrückendes Ergebnis dieser Studie bleibt somit der Befund, in welchem Ausmaß deutsche Historiker nach 1945 in einer Opposition von "Wir" und "die Anderen" befangen blieben, die einerseits eine mentale Kontinuität der zur deutschen Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft transformierten "Volksgemeinschaft" und andererseits den Ausschluss der jüdischen Opfer perpetuierte.
Gleichwohl bietet Bergs normativ aufgeladener Ansatz zum Verhältnis von Erforschung und Erinnerung auch Probleme. So definiert er das Gedächtnis "nicht als 'das Andere' der Forschung, sondern [...] als Teil von kollektiven Erinnerungen in der Sprache der Wissenschaft." (42) Die damit tendenziell vollzogene theoretische Einebnung der Differenz von Erforschung und Erinnerung positioniert sich gegen die Vorstellung, wonach es sich hierbei um ein Konkurrenzverhältnis handle und das Gewinnen von Abstand zur eigenen Erinnerung eine Grundoperation des Historikers darstelle. [3] Dem stehen unter anderem auch Bergs eigene Befunde entgegen: So zeigt er, dass es den jüdischen Historikern, denen von deutscher Seite "Objektivität" und "Nüchternheit" abgesprochen wurde, ja keineswegs darum ging, die konventionellen methodischen Prämissen historischen Arbeitens infrage zu stellen, sondern genau jenen methodischen Schritt von der eigenen Erinnerung zur Erforschung zu vollziehen, ohne dabei die zwischen beiden Polen existierende Spannung aufzuheben. Aber hier schreibt sich der kulturtheoretische Diskurs, innerhalb dessen Berg argumentiert, vielleicht gelegentlich zu sehr selbst fort. Überdies erweckt diese Studie gelegentlich den Eindruck, dass die vielfach auf Metaphern wie "Speicher" und "Archiv" beruhenden erinnerungstheoretischen Kategorien reifiziert werden und dabei ganz unkulturtheoretisch die Konstruktivität der eigenen Kategorien verloren geht. Hinzu kommt, wie auch andere Rezensenten mehrfach bemerkt haben, Bergs gelegentlich ahistorischer Umgang mit dem Begriff des Holocaust: Es scheint so, dass sein Ansatz nicht nur eine normative Erwartungshaltung zum Umgang mit dem historischen Faktum der Ermordung der europäischen Juden, sondern auch bezüglich des erst seit den 80er-Jahren konstituierten Holocaust-Bewusstseins zu Grunde liegt. Gelegentlich befiel den Rezensenten der Eindruck, dass über dem Buch die Frage steht, warum westdeutsche Historiker in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren den Holocaust nicht so erinnert haben, wie es seit den 80er-Jahren allmählich üblich geworden ist.
Trotz solcher Kritikpunkte muss man Berg in der Summe zugute halten, ein wichtiges Buch geschrieben zu haben, das trotz seines monumentalen Umfanges hoffentlich nicht den Schlussstein, sondern den Ausgangspunkt für weitere Expeditionen in das Spannungsfeld von Erforschung und Erinnerung bilden wird.
Anmerkungen:
[1] Nicolas Berg: Die Lebenslüge vom Pathos der Nüchternheit. Subjektive jüdische Erinnerung und objektive deutsche Zeitgeschichtsforschung in den sechziger Jahren, in: Süddeutsche Zeitung vom 17.07.2002.
[2] Nicolas Berg: Historiographiegeschichte und ihre Kontexte, in: H-Soz-u-Kult [ http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/type=diskussionen&id=439]. Siehe auch ebenda die umfangreiche Sammlung von Einzelbesprechungen und -kommentaren zu dieser Studie im Forum "Der Holocaust und die westdeutschen Historiker".
[3] Jakob Tanner: Die Historikerkommission zwischen Forschungsauftrag und politischen Erwartungen, in: ders. / Sigrid Weigel (Hrsg.), Gedächtnis, Geld und Gesetz. Vom Umgang mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges, Zürich 2002, 33 ff.
Constantin Goschler