Rezension über:

Elazar Barkan: The guilt of nations. Restitution and Negotiating Historical Injustices, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2001, 456 S., ISBN 978-0-8018-6807-8, USD 18,95
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Rezension von:
Constantin Goschler
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Constantin Goschler: Rezension von: Elazar Barkan: The guilt of nations. Restitution and Negotiating Historical Injustices, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 9 [15.09.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/09/3423.html


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Elazar Barkan: The guilt of nations

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1952 verpflichtete sich die Bundesrepublik gegenüber dem Staat Israel sowie einer internationalen Non-Governmental Organization, der "Jewish Conference on Material Claims against Germany", zu Wiedergutmachungsleistungen für die vom nationalsozialistischen Deutschland verfolgten Juden. Gegenwärtig werden in den USA politische Fantasien diskutiert, die auf eine Entschädigung für die Nachfahren der afrikanischen Sklaven zielen. Zwischen diesen beiden Vorgängen liegt die dramatische Zunahme der Bereitschaft von Nationen zur Anerkennung beziehungsweise sogar zur Wiedergutmachung "historischer Verbrechen". Handelt es sich bei der vor allem im letzten Jahrzehnt auffällig zunehmenden Bedeutung der Anerkennung von "historischer Schuld" um die Entwicklung eines neuen internationalen moralischen Standards?

Diese Frage steht im Mittelpunkt der Studie von Elazar Barkan über "The guilt of nations", in der nicht nur eine profunde Übersicht über die wichtigsten Auseinandersetzungen um die Wiedergutmachung "historischer Verbrechen" in den letzten Jahrzehnten, sondern zugleich auch der Versuch einer systematischen Deutung geboten wird. Die Analyse historischer Beispiele einer Wiedergutmachung "historischen Unrechts" dient ihm dazu, Grundsätze für die künftige Bewältigung nationaler und internationaler Konflikte zwischen rivalisierenden Gruppen und Nationen zu entwickeln, was für deutsche Historikerinnen und Historiker gewiss ein ungewöhnlicher Anspruch ist. Inwieweit dieser Versuch einer politischen Nutzanwendung tragfähig ist, muss vorerst offen bleiben. Fest steht aber, dass Barkan eine bemerkenswerte Analyse eines Phänomens geglückt ist, das an der Schnittstelle von Zeitgeschichte, Gegenwartsbewältigung und Zukunftsherausforderung liegt.

Im Mittelpunkt seiner Untersuchung stehen zwei unterschiedliche Fallgruppen. Erstens geht es um solche Fälle der Anerkennung historischen Unrechts, die sich auf Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkriegs beziehen. Dazu gehört die deutsche Wiedergutmachung für die Juden ebenso wie die Entschädigung für die Internierung japanischstämmiger US-Bürger in den USA während des Krieges, die Auseinandersetzung um die asiatischen Zwangsprostituierten der japanischen kaiserlichen Armee, der deutsch-russische Disput über die Rückführung geraubter Kunstgegenstände, der Streit um das "Nazi Gold" und die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg sowie schließlich die Auseinandersetzung um die Restitution jüdischen Eigentums in Mittelosteuropa.

In einer zweiten Fallgruppe untersucht Barkan postkolonialistische Konflikte um die Wiedergutmachung historischer Schuld. Dazu gehören die Forderungen der Nachfahren von Ureinwohnern in europäisch kolonisierten Ländern ebenso wie die der Nachfahren der afrikanischen Sklaven in den USA. Die Beispiele werden von Barkan auf der Grundlage der vorhandenen Forschungsliteratur souverän diskutiert und bilden zugleich die Bausteine einer von ihm entwickelten "Theorie der Wiedergutmachung".

Barkan gebraucht dabei den Begriff "restitution", der bei ihm nicht im Sinne einer juristischen Kategorie, sondern eines kulturellen Konzepts verwendet wird. So umfasst "restitution" hier nicht nur die Rückerstattung geraubten Eigentums und die Entschädigung persönlicher Schäden, sondern auch die Entschuldigung für historische Verbrechen. Dieser Begriffsverwendung entspricht im Deutschen am ehesten der umfassende Begriff der "Wiedergutmachung", dem man nicht von vornherein apologetische Tendenzen unterstellen sollte. Anders als es in öffentlichen Diskussionen oftmals der Fall ist, vermeidet Barkan bei der Erklärung historischer Verbrechen die Gefahr der präsentistischen Verkürzung, die aus der unreflektierten Übertragung moderner, scheinbar universaler Gerechtigkeitsstandards auf historische Vorgänge resultiert. Vielmehr ist die Antwort auf die Frage nach dem Wesen eines historischen Verbrechens für ihn oftmals bereits Teil jenes Verhandlungsprozesses zwischen den "Opfern" und "Tätern", dem sein eigentliches Interesse gilt. Während also bei bestimmten historischen Verbrechen den Zeitgenossen und gelegentlich sogar den Tätern auch nach damaligen moralischen Standards ihr Handeln als verbrecherisch erschien, verhielt sich dies in anderen Fällen, etwa bei der Sklaverei, aber auch etwa bei der Sammlung anthropologischer und archäologischer Artefakte anders: Was heute als Verbrechen gilt, galt damals als normales Geschäft oder gar als wissenschaftliche Heldentat.

Wiedergutmachung ist für Barkan somit in erster Linie "verhandelte Geschichte", in der verschiedene durch ein "historisches Verbrechen" verknüpfte Gruppen durch die Suche nach einem gemeinsamen Narrativ den Konflikt bewältigen und damit zugleich auch ein Stück weit ihre Identität verändern. Zugleich dekonstruiert Barkan den in der öffentlichen Diskussion oftmals verbreiteten Hang zur Verbreitung möglichst fantastischer Zahlen, die sich auf die den Opfern historischer Verbrechen zugefügten Leiden und Verluste beziehungsweise auf die daran geknüpften Forderungen beziehen. Er spricht deutlich aus, dass ein Grundprinzip jeglicher Wiedergutmachung der Verzicht auf einen Großteil der Ansprüche ist. In einer prinzipiell ungerechten Welt, so sein pragmatistisches Credo, sei etwas Gerechtigkeit besser als gar keine.

Barkan hat sein Untersuchungsfeld, das heißt die Wiedergutmachung historischer Schuld, auch in weiterer Hinsicht eingeschränkt: Er behandelt nur solche Fälle, in denen Ungerechtigkeiten gegen Gruppen auf Grund ihrer besonderen Identität erfolgten. So zielen seine Thesen auf ein Plädoyer für die von ihm so bezeichnete "Neo-Aufklärung". Gemeint ist damit die Einbeziehung bislang davon ausgeschlossener Gruppen in die liberalen Grundrechte, wobei die in der klassischen liberalen politischen Theorie auf das Individuum beschränkten Rechte nunmehr um Gruppenrechte erweitert werden. Auf diese Weise versucht er zugleich, die im postmodernen wie im postkolonialen Diskurs vielfach geschmähte "westliche Aufklärung" zu rehabilitieren.

Für Barkan dient "Wiedergutmachung" somit als Modell einer spezifischen Form von Gerechtigkeit. "Wiedergutmachung" schaffe keine abstrakte Gerechtigkeit, deren Maßstäbe zu bestimmen ohnehin schwierig sei - vor allem wenn unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen kollidieren. Aber "Wiedergutmachung" stelle im Medium von Verhandlungen einen Ausgleich für historisches Unrecht her. Gegen die Annahme universaler Gerechtigkeitsstandards betrachtet Barkan Gerechtigkeit somit als Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen verschiedenen Gemeinschaften unter Berücksichtigung vager globaler Gerechtigkeitsstandards. Auf diese Weise könne Wiedergutmachung zum Instrument des Ausgleichs zwischen multikultureller Gesellschaft und Nationalstaat beziehungsweise zum Modell der Konfliktlösung in solchen Fällen werden, in denen die traumatisierenden Wirkungen historischer Verbrechen die Beziehungen zwischen Völkern beziehungsweise verschiedenen Gruppen nachhaltig belasten.

An dieser knappen Zusammenfassung seiner Argumentation sollte deutlich geworden sein, dass Barkans Modell, das er am Ende in einer Theorie der Wiedergutmachung zuspitzt, sich stärker auf die von ihm diskutierten postkolonialen Beispiele als auf die Auseinandersetzung mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs bezieht. Dies mag daran liegen, dass sein Modell in vielerlei Hinsicht aktuellen Debatten um das Verhältnis zwischen individuellen Rechten und Gruppenrechten verpflichtet ist, wie sie in den USA seit einiger Zeit intensiv geführt werden. Diese Konflikte resultieren vor allem aus der Spannung zwischen nationaler Identität einerseits und ethnischen Teilidentitäten andererseits.

Im Hinblick auf die Bewältigung der Folgen des Zweiten Weltkriegs wirkt Barkans Versuch, dem Prinzip einer interessengeleiteten Machtpolitik den Erfolg einer neo-aufklärerischen Moral entgegenzusetzen, die auf Bewältigung traumatisierender historischer Verbrechen zielt, dagegen weniger überzeugend. So widerspricht beispielsweise das auch von Barkan als Präzedenzfall bemühte Beispiel der deutschen Wiedergutmachung für die vom Nationalsozialismus verfolgten Juden in verschiedener Hinsicht seinen Schlussfolgerungen. Es ist zweifelhaft, ob es im Zuge der Wiedergutmachung zur Entwicklung eines gemeinsamen deutsch-jüdischen Narratives der nationalsozialistischen Judenverfolgung gekommen ist und ob dies jemals möglich sein kann. Und um als ein anderes Beispiel den deutsch-französischen Konflikt heranzuziehen, so trug überspitzt formuliert Ernst Jüngers literarische existenzielle Überhöhung des Kriegserlebnisses vermutlich mehr zu einem gemeinsamen deutsch-französischen Narrativ der Weltkriege bei als die in diesem Falle ohnehin geringen Bemühungen zu einer "Wiedergutmachung". Dem scheinen auch die gegenwärtigen Tendenzen zur Entwicklung des Holocaust-Diskurses als Element einer europäischen Identität nicht zu widersprechen. "Opfer-" und "Täter-" Perspektiven, so soll hier behauptet werden, sind zumindest in diesem Fall prinzipiell unvermittelbar, zumindest was die hier im Mittelpunkt stehenden öffentlichen historischen Narrative betrifft.

Eine Auseinandersetzung mit den Thesen Barkans ließe sich so vielleicht auch auf die alte Frage des Verhältnisses beziehungsweise der Vermittlung von Interessen und Weltbildern zuspitzen. Sein Ansatz verweist auf die Begrenzungen einer den "cultural studies" verpflichteten Betrachtungsweise gesellschaftlicher Konflikte beziehungsweise der internationalen Beziehungen, die sich in erster Linie auf die Rolle der Untersuchung von Narrativen und Diskursen bezieht und Realität so letztlich in erster Linie in Weltdeutung aufgehen lässt. Demgegenüber gesteht er der Rolle von Interessen und damit auch von "Realpolitik" in der Auseinandersetzung um "historische Schuld" von vorn herein wenig Relevanz zu. Auf diese Weise schätzt er das Potenzial des Modells der Wiedergutmachung, ein versöhnendes, gemeinsames Narrativ der belastenden historischen Ereignisse zu produzieren, vielleicht zu optimistisch ein. So argumentiert auch Ian Buruma im Gegensatz zu Barkan, dass das zunehmend verbreitete politische Modell der "Viktimisierung", bei dem der Status als Opfer eines historischen Verbrechens zum Mittel der Identitätsvergewisserung sowie politischer Anerkennungskämpfe wird, historische Konflikte weitertrage und im schlimmsten Fall sogar verschärfe statt zu einem Ausgleich zu führen. [1]

Diese Kontroverse kann noch nicht als endgültig entschieden gelten, zumal hier zwischen konkreten historischen Einzelfällen einer Wiedergutmachung historischer Schuld einerseits sowie dem von Barkan konstruierten Idealtyp "Wiedergutmachung" andererseits zu unterscheiden sein wird. Für die künftige Forschung zum Umgang mit "historischen Verbrechen", die sich an seinen Ausführungen wird messen lassen müssen, hat Barkans Buch jedenfalls faszinierende Fragen aufgeworfen und wichtige Thesen formuliert. Der Nachschub des historischen Stoffs zu diesem Thema wird vermutlich nicht so bald versiegen.

Anmerkung:

[1] Ian Buruma, The Joys and Perils of Victimhood, in: New York Review of Books vom 8.4.1999.


Constantin Goschler