William Taubman: Khrushchev: The Man and His Era, New York: W.W. Norton & Company 2003, XX + 876 S., ISBN 978-0-393-05144-5, USD 35,00
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Jeremy Smith / Melanie Ilic (eds.): Khrushchev in the Kremlin. Policy and government in the Soviet Union, 1953-1964, London / New York: Routledge 2010
James H. Billington: Russia in Search of Itself, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2004
Helmut Altrichter (Hg.): Adenauers Moskaubesuch 1955. Eine Reise im internationalen Kontext, Bonn: Bouvier 2007
Mit den Reformbemühungen Michail Gorbačevs geriet in den Achtzigerjahren auch die Politik und Persönlichkeit Nikita S. Chruščevs wieder verstärkt in den Blickpunkt von Öffentlichkeit und Wissenschaft. Das personenbezogene Interesse hat den Zusammenbruch der UdSSR nicht allzu lange überdauert. [1] Dagegen hat die Forschung neue Fragestellungen wie erweiterte archivalische Möglichkeiten genutzt, um die historische Analyse der Sowjetunion in vielen Bereichen und Themenfeldern - von der Kulturgeschichte bis zur Geschichte des Kalten Krieges - wesentlich voranzutreiben. Da Chruščevs Leben Kerndaten der UdSSR umspannt (XIII), war eine neue umfassende Würdigung seiner ambivalenten Person und seines zwiespältigen Wirkens ein wichtiges Forschungsdesiderat. William Taubman hat sich dieser gewaltigen Aufgabe mit großem Erfolg gestellt: Seine Biografie wurde im Frühjahr mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet.
Taubmans Darstellung fußt auf einer beeindruckenden Fülle von Archivalien, Quellenpublikationen - wenn auch mit einigen überraschenden Lücken [2] -, Sekundärliteratur, sinnvoll ausgewähltem und hervorragend integriertem Bildmaterial sowie einer großen Zahl von Zeitzeugengesprächen. Die Quellenbasis spiegelt zugleich spezifische Archivprobleme der historischen Forschung in Russland wider, wenn der Autor etwa auf ansonsten unzugängliche Dokumente des Archivs des Außenministeriums oder des Militärarchivs zurückgreifen konnte. Auf der anderen Seite bleibt die Quellenlage auch in Zukunft durchaus im Fluss, wie kürzlich publizierte Editionen zeigen. [3] Ob sich allerdings offene Fragen im Kontext des Aufstiegs Chruščevs in den Zwanzigerjahren oder hinsichtlich seiner Stellung im Spätstalinismus jemals klären lassen, ist ungewiss. Unumstritten wird allerdings die enge Orientierung Chruščevs auf Stalin hin bleiben. Taubman bestätigt in seiner Untersuchung noch einmal nachdrücklich, dass sich Chruščev und mit ihm der gesamte Führungszirkel auch noch lange nach dem XX. Parteitag in innen- wie außenpolitischen Belangen über die Haltung zu Stalin mitdefinierten (450, 534). Die Rehabilitierung Stalins durch Brežnev hat Chruščev schließlich auch zum Verfassen seiner Memoiren bewegt, die der ehemalige Partei- und Staatschef in dissidentenhafter Weise in den Westen bringen ließ. Die Erinnerungen waren zugleich vom Drang nach eigener Rechtfertigung und "Mythologisierung" geprägt (38): Taubmans Biografie liest sich so immer auch als glänzende Auseinandersetzung mit Chruščevs Versuch, seine eigene Autobiografie zu glätten, zu harmonisieren und in ein positives Licht zu rücken, ja, zu beschönigen.
Grund für derartige Verfälschungen hatte Chruščev selbst in der eigenen Rückschau mehr als genug (639). Sein Aufstieg in der UdSSR lässt sich nicht von der Gewalt und Brutalität der gesamten Periode trennen, und Chruščev gab sich schon Ende der Zwanzigerjahre mitunter stalinistischer als Stalin selbst (64, 98). Die Amtsführung als Moskauer Parteisekretär bzw. als ukrainischer Partei- und Staatschef war im Zeitalter der Säuberungen, der Sowjetisierung Ostpolens sowie der Wiederbesetzung der deutsch besetzten Gebiete in der Ukraine nach dem Zweiten Weltkrieg unweigerlich eng mit Terror und Repressionen verzahnt: Die aktive, indes nicht exzessive Mitwirkung Chruščevs steht hier außer Frage. Auch nach dem Tode Stalins stellte Gewalt in den Augen Chruščevs eine Lösungsoption für Probleme dar: Die Hinrichtung Berijas 1953, aber auch die zur Amtszeit Chruščevs erfolgte Ermordung des ukrainischen Nationalistenführers Banderas (1959) sowie Truppeneinsätze bei inneren Unruhen in Tbilisi (1956) und Novočerkassk (1962) zeugen davon.
Zugleich aber steht Chruščev für eine - beschränkte - Abkehr vom Stalinismus: Sie lässt sich nur als längerer Prozess verstehen, in dem nach stiller Kritik gegen einzelne Verfolgungsfälle die Kriegserfahrung und damit die genaue Kenntnis der tödlichen Defizite Stalins eine wichtige Rolle spielten. Nach 1953/54 wurden Machtkämpfe nicht mehr auf Leben und Tod geführt, was Molotov und anderen 1957, Chruščev selbst 1964 zu Gute kam. Vor allem aber steht Chruščevs Name für die Entlassung von Millionen von Häftlingen aus dem Gulag, einschließlich vieler tausender ausländischer Häftlinge. Die nationalitätenpolitische Dimension Chruščev'scher Rehabilitierungspolitik wird von Taubman nur gestreift. Chruščevs Destalinisierungskampagnen waren natürlich immer auch ein Kampfmittel gegen Konkurrenten, dienten der gesellschaftlichen Mobilisierung und eigenen Selbstdarstellung. Zudem richteten sie sich nie gegen die systemischen Grundlagen der UdSSR. So sind der Mut wie die Kurzatmigkeit in der Destalinisierungspolitik im engeren Sinne zugleich Muster für wirtschafts- und parteipolitische Maßnahmen Chruščevs, deren Mängel sich wiederum aus den begrenzten Zielsetzungen der Destalinisierung im weiteren Sinne erklären.
Eine gemischte Bilanz stellt Taubman zu Recht auch für die Außenpolitik auf. Die neue Diplomatie gegenüber dem Westen zielte vor dem Hintergrund des atomaren Schreckens unter dem wieder entdeckten Schlagwort der friedlichen Koexistenz auf Kriegsverhinderung und Entspannung. Zugleich suchte Chruščev im als Nullsummenspiel verstandenen Kalten Krieg sowjetische Stärke, revolutionären Optimismus und eigene Führerschaft zu demonstrieren. Berlin und Kuba markieren Kernpunkte der neuen Außenpolitik Chruščevs und stehen letztlich für die Unvereinbarkeit der Ziele. In beiden Fällen zeigt Taubman zudem den wichtigen Einfluss der Persönlichkeit Chruščevs, der recht unbekümmert, ohne wirklich mögliche Abläufe und Gefahren zu Ende zu denken, explosive Prozesse in Gang setzte. Das gilt sicherlich auch für die Beziehungen im sozialistischen Lager selbst. Der Bruch mit Peking lässt sich heute mit der russisch-chinesischen Quellenlage genauer beschreiben, aber noch nicht abschließend klären. Taubman verweist auf die Bedeutung des chinesischen Faktors auch für die Osteuropapolitik Chruščevs (Polen, Ungarn). [4] Die Dritte Welt als Ort sowjetisch-chinesischer Konkurrenz, in der die intuitive Außenpolitik Chruščevs zugleich für die Systemkonkurrenz mit dem Westen große Chancen sah und wahrnehmen wollte, kommt in der Darstellung Taubmans trotz der äußerst spannenden Schilderung der Kuba-Krise indes etwas zu kurz.
Die Biografie Taubmans belegt in beeindruckender Weise die Bedeutung des individuellen Faktors in der Geschichte. So beeinflusste Chruščevs hypomanischer Charakter (XX) wie seine spezifischen Lebenserfahrungen auch der vorrevolutionären Jugend sowohl seine Formulierung beziehungsweise Umsetzung ideologischer Axiome wie die - immer sprunghaftere - Politikplanung oder sein gespaltenes Verhältnis zur Intelligenz. Struktur, Organisation, Bürokratie und Politikverständnis des sowjetischen Staats trugen das ihre dazu bei, persönliche Schwächen einerseits zu potenzieren - deutlich am cäsarenhaften Führungsstil ab 1956/57 -, andererseits im politisch-ideologischen Kampf zu instrumentalisieren. So las Chruščev erst nach seinem Sturz Pasternaks "Doktor Živago" und fand entgegen der wüsten Kampagne der späten Fünfzigerjahre "nichts anti-sowjetisches" darin (628). Vor diesem generellen Hintergrund erscheint der Sturz Chruščevs, den eigene Zöglinge monatelang vorbereiteten, als komplexes Resultat persönlicher Animositäten, politischer Fehleinschätzungen und ideologischer Auseinandersetzungen.
Taubman zeichnet detailliert und überzeugend die Gemengelage persönlicher, gesellschaftlicher und politisch-ideologischer Faktoren einer russischen Biografie in einer hoch explosiven Zeit nach. Der Weg führte keineswegs zwangsläufig vom aufstrebenden Arbeiter, wie er sich im Ersten Weltkrieg stolz den Fotografen präsentierte, zum Staats- und Parteichef der Sowjetunion, der ungewollt das eigene System dauerhaft unterminierte. Der Autor versteht es meisterhaft, seine eigene Neugier auf diesen Lebensweg auf den Leser zu übertragen. Bei aller spürbaren Sympathie für die Person Chruščevs werden die Negativa offen benannt, diskutiert und abgewogen: Lebensweg wie Karrieremuster und -schritte müssen sich dabei einer widerspruchsfreien Gesamtwürdigung nahezu zwangsläufig entziehen. Zumindest in dieser Hinsicht liegen Wissenschaft und öffentliche Meinung wieder eng beieinander: Bei Meinungsumfragen 1998 sahen 50 Prozent der befragten jungen Russinnen und Russen zwischen 18 und 29 Jahren mehr Gutes als Schlechtes an der Führerschaft Chruščevs, die anderen 50 Prozent waren genau gegenteiliger Meinung (650).
Anmerkungen:
[1] Vgl. zum Stand der Forschung vor der hier besprochenen Biografie Donald Filtzer, The Khrushchev Era. De-stalinisation and the limits of reform in the USSR, 1953-64, London 1993; William J. Tompson, Khrushchev. A political life, London 1995. Aus russischer Perspektive, von Taubman leider nicht mehr eingearbeitet: Aleksandr Pyþikov, Chruščevskaja "ottepel'", Moskau 2002.
[2] Georgij Öukov. Stenogramma oktjabr'skogo (1957 g.) plenuma CK KPSS i drugie dokumenty, V. Naumov (Red.), Moskau 2001; Reabilitacija: Kak àto bylo. 2 Bände, zusammengestellt von A. Artizov u.a., Moskau 2000-2003. Nützlich auch: Sovetskij Sojuz i Vengerskij krizis 1956 goda. Dokumenty, V. K. Volkov u.a. (Red.), Moskau 1998.
[3] Zu nennen sind hier v.a.: Prezidium CK KPSS 1954 - 1964, Band 1: ªernovye protokol'nye zapisi zasedanij. Stenogrammy, A. A. Fursenko (Red.), Moskau 2003; Doklad N. S. Chruščeva o kul'te ličnosti Stalina na XX s-ezde KPSS. Dokumenty, K. Ajmermacher (Red.), Moskau 2002. Die Zeitschrift Istočnik resp. die Beilage Vestnik hat 2003 in den Heften 4-5 in Analogie zur Stalinära die Besucher Chruščevs in seinem Kreml'-Büro aufgelistet, das Heft Nr. 6 enthält Dokumente der Jahre 1954-1964.
[4] Vgl. auch Mercy A. Kuo, Contending with contradictions. China's policy toward Soviet Eastern Europe and the origins of the Sino-Soviet split, 1953-1960, New York 2001.
Andreas Hilger