Herbert W. Rott (Hg.): Ludwig I. und die Neue Pinakothek. Mit Beiträgen von Hubert Glaser und Frank Büttner, München / Köln: Pinakothek-DuMont 2003, 376 S., zahlr. Farb- und s/w-Abb., ISBN 978-3-8321-7387-6, EUR 24,00
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Für die deutsche Museumslandschaft des 19. Jahrhunderts ist München angesichts der Fülle realisierter Museumsgebäude, umfangreicher Bildprogramme und ausgreifender Sammlungskonzeptionen ein zentrales Experimentierfeld gewesen, dessen Vorbildcharakter weder von den traditionellen Standorten fürstlicher Sammlungen des 18. Jahrhunderts, wie Dresden, Kassel oder Braunschweig, noch von den neuen Museumszentren in den Industrie- und Handelsmetropolen West- und Norddeutschlands erreicht werden konnte. So kann auch die Erforschung der Münchner Museumsgeschichte dieser Epoche mit einer besonderen, überregionalen Aufmerksamkeit rechnen. Seit den 1970er-Jahren widmen sich die Münchner Museumsverwaltungen in regelmäßigen Abständen der Reflexion der eigenen Vergangenheit durch museumsgeschichtliche Untersuchungen zu den örtlichen Beständen und Institutionen. Anlass für eine solche Form der Selbstvergewisserung sind häufig runde Jubiläumstermine, wie im vorliegenden Fall die 150. Wiederkehr der Eröffnung der Neuen Pinakothek, die von den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen gleich mit zwei umfangreichen Publikationen und einer Neupräsentation der Sammlung gewürdigt worden ist. Der für das 19. Jahrhundert zuständige Kurator und Herausgeber der wissenschaftlichen Publikation, die im Mittelpunkt dieser Rezension steht, hat zugleich einen reich illustrierten Überblick über die Hauptwerke der Sammlung zusammengestellt, dem weitere Beiträge zur Geschichte des Hauses und seines museumshistorischen Kontextes beigefügt sind.
Die Festschrift mit dem programmatischen Titel "Ludwig I. und die Neue Pinakothek" konzentriert sich dagegen ganz auf die Person und das unmittelbare zeitliche Umfeld des königlichen Museumsgründers, aus dessen Privatschatulle die Gemälde erworben worden waren, die über seinen Tod hinaus im Privatbesitz des Hauses Wittelsbach verblieben und deren Museumspräsentation während des gesamten 19. Jahrhunderts der Charakter einer öffentlich zugänglichen Privatsammlung anhaftete. Diese für Museen zeitgenössischer Kunst in der ersten Jahrhunderthälfte durchaus typischen Entstehungsbedingungen rechtfertigen sicherlich die Beachtung, die das bayerische "Kunstkönigtum" Ludwig I. hier erfährt, obwohl seine Relevanz in einem etwas weiter gefassten Horizont noch deutlicher geworden wäre. Drei längere Aufsätze umkreisen also den Gründungsmoment der neuen Institution und werden durch einen umfangreichen, akribisch recherchierten Katalog des Bestandes ergänzt, der zum Zeitpunkt des Todes Ludwig I. im Jahre 1868 in den Galerieräumen ausgestellt war. Schon vom Umfang her ist diese beinahe vollständig illustrierte Rekonstruktion der heute verstreuten Sammlung (123-359) das Kernstück der Festschrift und ihr wesentlicher Beitrag zur Forschung.
Im ersten Aufsatz versucht Hubert Glaser, durch seine kulturhistorischen Forschungen zum 19. Jahrhundert ausgewiesen, die persönliche und politische Motivation des bayerischen Königs für das umfangreiche Projekt der Umgestaltung Münchens zur Kulturmetropole zu ermitteln. Sein Ansatz reicht weit über die Gründung der Neuen Pinakothek hinaus, von den Bildungsreisen des Kronprinzen nach Italien bis zu der städtebaulichen Neugestaltungen der Residenz, bietet jedoch nicht viel mehr als eine Parforcetour durch das allgemein bekannte Spektrum der kulturpolitischen Aktivitäten ludovizianischer Zeit. Am interessantesten ist die Auswertung der größtenteils unveröffentlichten Tagebücher des Königs, von denen der Autor einige einschlägige Auszüge in einem Anhang publiziert und philologisch kommentiert. Doch auch mithilfe dieser bislang noch nicht erschlossenen Quellen gelingt es dem Autor kaum, über den bisherigen Forschungsstand hinaus zu kommen. Das allgemeine Lebensgefühl des Italienreisenden mit seiner Begeisterung für die Künstler als Festgenossen und unverstellte Gesprächspartner erscheint ebenso geläufig wie die Widersprüchlichkeit der politischen Ambitionen des Königs zwischen "teutschem" Patriotismus und Partikularstaatlichkeit. Hier vermisst man vor allem eine Rückbindung an die Institution der Neuen Pinakothek, in deren Sammlungsprofil solche Widersprüche möglicherweise ausgetragen worden sein könnten.
Die Darstellung ihrer Baugeschichte, Sammlungsentstehung und ersten Ausstellung durch Herbert W. Rott führt dagegen direkt auf den Ausgangspunkt zurück und fasst als Ergebnis zusammen, was heute in Hinblick auf den Gründungsvorgang bekannt ist. Von der vorausgegangenen Publikation zur Geschichte der Neuen Pinakothek von 1977 unterscheidet sich der gegenwärtige Forschungsstand jedoch nur geringfügig. Seit der Zerstörung des Gebäudes und der Bauakten im Zuge des Zweiten Weltkrieges besteht keine Möglichkeit mehr, über den seinerzeit von Werner Mittlmeier erreichten Befund hinaus eine Präzisierung der Bauentstehung und des Planungsprozesses zu gewinnen. Auch dem damals von Christoph Heilmann untersuchten Sammlungsprofil vermag der Autor trotz mancher Korrekturen und Ergänzungen im Detail kein grundlegend neues Verständnis abzugewinnen. Dies erscheint umso erstaunlicher, wenn man berücksichtigt, dass ihm die umfangreiche Rekonstruktion der Bestände im Katalogteil zur Verfügung stand, deren in detektivischer Kleinarbeit ermittelten Sachverhalte anscheinend nicht dazu beigetragen haben, die etablierte Einordnung in das deutsche Sammlungsspektrum der Jahrhundertmitte zwischen Klenze, Wagener und Raczyński zu modifizieren.
Dagegen eröffnet der Autor mit seiner Rekonstruktion der ursprünglichen Ausstellungspraxis des 1853 eröffneten Museums eine eigenständige Perspektive, die deutlich über den Horizont der vorangegangenen Forschung zur Neuen Pinakothek hinausgeht und Anschluss an aktuelle Methoden der Museumsgeschichte sucht. Zwar wird das Bemühen um den Gewinn einer visuellen Vorstellung der Erstausstellung durch den Mangel an wirklich zeitgenössischen Bilddokumenten beeinträchtigt, aber allein die Auffindung des bislang unbekannten ersten Publikumskataloges aus dem Eröffnungsjahr ermöglicht eine neue Lektüre der Reaktion in der zeitgenössischen Publizistik. Zusammen mit der späteren fotografischen Evidenz, die bei Museumsbauten des 19. Jahrhunderts oft Rückschlüsse auf frühere Zustände ermöglicht, entsteht ein abgerundetes Bild der inhaltlichen Konzeptionslosigkeit und des konventionellen Hängeplanes der Galerieräume, aus denen allein die ungewöhnliche, in ihrer historischen Herleitung noch rätselhafte Inszenierung des Griechenland-Zyklus von Carl Rottmann heraussticht. Diese ursprünglich für eine Anbringung im Freien entstandenen, enkaustisch auf Putztafeln gemalten Landschaftsbilder wurden in Einzelkojen rings um einen großen Oberlichtsaal präsentiert, dessen Beleuchtung durch Vorhänge auf die Bilder gelenkt wurde.
Auch mit dem Beitrag von Frank Büttner zu Wilhelm von Kaulbachs Wandbilderzyklus an der Außenwand des ursprünglichen Museumsgebäudes, von dem heute noch die für eine Museumspräsentation überarbeiteten Ölskizzen erhalten sind, gewinnt die Forschung zur Neuen Pinakothek Anschluss an die Diskussion über den politischen, kulturpolitischen und kunsttheoretischen Horizont der zeitgenössischen Rezeption solcher Bildprogramme, wie sie in jüngster Zeit etwa für Kaulbachs Ausmalung des Treppenhauses des Neuen Museums oder die Ausstattung der Nationalgalerie in Berlin vorgetragen worden sind. Der Münchner Zyklus ist in der Forschung schon häufig diskutiert und in seinem auf den König als Kunstmäzen zugeschnittenem Programm zur Geschichte der neueren deutschen Kunst in den Kontext der musealen Bildprogramme des ludovizianischen München eingeordnet worden. Überzeugend gelingt es dem Autor, dieses Programm und seine unterschiedlichen Stillagen als Ausdruck der inneren Widersprüche im Werk des Künstlers und in der gesamten zeitgenössischen Monumentalmalerei zu entschlüsseln. Im bewussten Gegensatz zu dem benachbarten Zyklus von Peter von Cornelius in der Loggia der Alten Pinakothek, dessen gehobene Tonlage die Kunstgeschichte nach dem Prinzip der Arabeske allegorisiert, präsentiert Kaulbach eine Kritik des nazarenischen Kunstideals, die teilweise mit den Gestaltungsmitteln der Karikatur arbeitet und den Geltungsanspruch der Monumentalmalerei in Frage stellt.
Insgesamt liegt mit der Festschrift eine quellengesättigte Darstellung der Neuen Pinakothek in ihrem Entstehungszeitraum vor, die den Stand der Erkenntnis umfassend präsentiert und in mancher Hinsicht erweitert. Zumal der Katalog des Sammlungsbestandes von 1868 ist eine unentbehrliche Grundlagenarbeit, die in Zukunft für eine Neubewertung dieses ersten Museums zeitgenössischer Kunst in Deutschland herangezogen werden kann. Demgegenüber relativiert sich die Kritik von Einzelheiten, die unter den Bedingungen eines anspruchsvollen Museumsbetriebes entschuldbar erscheinen. Die Kraftanstrengung einer solchen detaillierten Katalogrecherche ist vor diesem Hintergrund nur zu bewundern.
Alexis Joachimides