Rezension über:

Sigrid Mratschek: Der Briefwechsel des Paulinus von Nola. Kommunikation und soziale Kontakte zwischen christlichen Intellektuellen (= Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben; Bd. 134), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, ix + 732 S., 16 Abb., 2 Karten, ISBN 978-3-525-25232-1, EUR 99,00
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Rezension von:
Lars Meyer
Seminar für Alte Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Sabine Panzram
Empfohlene Zitierweise:
Lars Meyer: Rezension von: Sigrid Mratschek: Der Briefwechsel des Paulinus von Nola. Kommunikation und soziale Kontakte zwischen christlichen Intellektuellen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 9 [15.09.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/09/6211.html


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Sigrid Mratschek: Der Briefwechsel des Paulinus von Nola

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"Christen wie Paulinus, die vorgaben, das klassische Erbe abzulehnen, und gleichzeitig Briefe oder Gedichte voller klassischer Anspielungen schrieben, waren diejenigen, die es bewahrten, als die Germanen Rom überrannten" (600f.). Mit diesem Fingerzeig auf ein Bild der kulturellen Kontinuität verweist die Verfasserin Sigrid Mratschek am Ende ihrer Habilitationsschrift auf die eminente Bedeutung und Rolle des Bischofs Paulinus von Nola (353/55 bis 431) innerhalb eines Zeitalters, welches zum Ende des vierten Jahrhunderts nach Christus von einem Prozess der Transformation und des Wandels geprägt war. Damit wird dem aus dem südgallischen Aquitanien stammenden Aristokraten, Dichter und späteren Asketen ein Rang zugewiesen, den ihm die althistorische Forschung bisher vorenthalten hatte. [1] So betont Mratschek im Hinblick auf die Vielfältigkeit der Person Paulinus' durchaus zu Recht die Notwendigkeit einer interdisziplinären wissenschaftlichen Kooperation, innerhalb derer die Erkenntnisse von Klassischen Philologen, Theologen, Archäologen und Althistorikern gebündelt werden können (7-10). In dieser Hinsicht stellt das Buch von Mratschek ein Desiderat innerhalb der althistorischen Forschung dar. [2]

Gleichzeitig ordnet sich Mratscheks Untersuchung in die Reihe zahlreicher Publikationen ein, welche vor allem in der jüngeren Zeit einen Leitgedanken in das Zentrum ihrer Überlegungen gestellt haben: die Frage nach der Christianisierung der aristokratischen Oberschichten vornehmlich im westlichen Teil des spätantiken Imperium Romanum. [3] Insbesondere die Aristokraten innerhalb des gallischen Raumes erfreuten sich dabei verstärkter Beachtung: So erweisen sich denn auch Personen wie Sidonius Apollinaris oder Ausonius als beliebte Anschauungsobjekte bei der Frage nach der Integration christlicher Werte und Normen innerhalb der antiken Lebenswelt. [4] Bei der Frage nach der Anziehungskraft und dem allmählichen Vordringen christlich-asketischer Ideale innerhalb der senatorischen Eliten konzentrieren sich zahlreiche Untersuchungen hingegen vorzugsweise auf die Person des Hieronymus. [5]

Es ist nun das außerordentliche Verdienst Mratscheks, inmitten dieser Fragen die Aufmerksamkeit auf die Person des Paulinus von Nola gelenkt zu haben, indem sie die prosopografische und sozialhistorische Analyse seines Briefwechsels in das Zentrum ihrer Überlegungen stellt. Seinen insgesamt einundfünfzig Briefen und der daraus hervorgehenden Kommunikation zwischen christlichen Intellektuellen misst Mratschek denn auch einen "einzigartigen Wert" bei (2). So weist sie für den Bereich der Sozial- und Mentalitätsgeschichte ausdrücklich auf die eminente Bedeutung der brieflichen Korrespondenz des Paulinus hin, der maßgeblich an dem Aufbau von "literary networks" zwischen den christlichen Eliten beteiligt war. [6] Dabei betont sie, "dass gerade die Briefe christlicher Autoren wie Paulinus von Nola und Augustinus die Hauptquelle für die 'innere Geschichte' der spätrömischen Gesellschaft darstellen und den erstaunlichen Aufstieg des Christentums in die politisch führenden Schichten des Kaiserreiches besser verdeutlichen als beispielsweise die Schriften des wichtigsten spätantiken Historikers, Ammianus Marcellinus" (6-7).

Die umfangreiche und ausführliche Arbeit ist augenfällig in vier Abschnitte gegliedert. Darin bildet der erste Teil "Rhetorik und Askese" (17-182) das Fundament für die gesamte Untersuchung. Hier spiegelt sich vor dem kulturellen und politischen Hintergrund des spätantiken Gallien das Portrait des aquitanischen Intellektuellen und Aristokraten Paulinus wider (17-77). Deutlich markiert Mratschek die Rahmenbedingungen für das gesellschaftliche Wirken eines südgallischen Aristokraten, der - eingebettet in die "Kulturlandschaft Aquitanien" (50) - sein Leben im Spannungsfeld von aristokratischer Lebensweise einerseits und Hinwendung zur christlichen Askese andererseits führte.

Mratscheks Überlegungen zeigen hier, dass Paulinus für die Integration asketischer Ideale innerhalb der zeitgenössischen christlichen Eliten die Position einer überaus wirksamen Leitfigur eingenommen hatte (78-182). Das für das Askeseverständnis des Paulinus zentrale Kapitel zur "Theorie des Reichtums" (120-135) belegt eindrucksvoll, dass sich dessen asketische Ideale dabei weder dogmatisch noch radikal, sondern vielmehr kompromissbereit und flexibel gestalteten: Eine Asketisierung der Aristokratie bedeutete zugleich auch immer eine Aristokratisierung der Askese. [7] So ist denn auch der aufsehenerregende Vermögensverzicht des Aristokraten Paulinus lediglich ein partieller, sein Rückzug aus der Gesellschaft nur ein scheinbarer. Dadurch dass Paulinus schließlich für seine aristokratischen Briefpartner stets individuelle Ratschläge im Hinblick auf die Durchführung einer asketischen Lebensweise und attraktive Lösungsvorschläge zur Überwindung des Problems 'Vermögensverzicht' parat hatte, förderte dieser als Vorkämpfer der asketischen Bewegung das Eindringen christlich-asketischer Wertvorstellungen in die Gedankenwelt seiner Standesgenossen.

So konnten - mit Blick auf den jeweiligen Standort des angesprochenen Aristokraten - partieller Vermögensverzicht, die Übertragung der Vermögensverwaltung innerhalb der eigenen Familie, der Verzicht auf eine Karriere im Staatsdienst oder auch lediglich die innere Distanzierung von Besitz und Status durchaus den Anforderungen der christlichen Askese genügen (140-173). Die Wichtigkeit dieser paulinischen Konzeption von dem Wert und der Funktion des Reichtums und des Verzichts auf diesen hebt Mratschek in einem diesen zentralen Abschnitt zusammenfassenden und abschließenden Kapitel noch einmal deutlich hervor (174-182). So erfüllten denn auch im Hinblick auf die spätantike aristokratische Lebenswelt "in dem Prozess der Integration und Annäherung an christlich-asketische Ideale [...] die Briefe des Paulinus eine Aufgabe von fundamentaler Bedeutung (182)."

Auf der Basis dieses Leitgedankens werden in der zweiten Hälfte des Buches die grundlegenden Aspekte für das Handeln und Wirken des Paulinus konkretisiert. Mithilfe einer detaillierten prosopografischen Analyse der paulinischen Briefpartner werden in den drei Abschnitten "Der Zirkel" (183-394), "Der Briefwechsel" (395-485) und "Der Mönch und die Gesellschaft" (487-591) die Möglichkeiten der Propagierung der asketischen Ideale des Paulinus untersucht. Mratschek kann überzeugend belegen, dass sich der Ort Nola in Kampanien unter dem Bischof Paulinus zu einem zentralen Knotenpunkt des spätantiken Briefverkehrs entwickelte (266-273). Dabei zeigt sie durch die anschauliche Rekonstruktion des spätantiken Postwesens, dass Paulinus die Wege und Möglichkeiten der Kommunikation zur Verbreitung seiner asketischen Ideale nahezu vollständig ausschöpfte (274-394). Hier wird das gesamte Ausmaß und die Vielfalt der Kommunikation und der sozialen Kontakte zwischen den christlichen Intellektuellen und Aristokraten insbesondere innerhalb des westlichen Teils des spätantiken Imperium Romanum ersichtlich. Paulinus' Bemühungen um die öffentliche Wirkung seines Briefwechsels, die praktische Umsetzung der Kommunikation mit seinen Briefpartnern, die auch den gegenseitigen Austausch von Geschenken beinhaltete (395-485), sowie die gründliche Pflege seiner brieflichen und persönlichen Kontakte (487-591) belegen diese Intensität: Mithin gewann Nola als "Nahtstelle der Kommunikation" (590) unter Paulinus einen entsprechend hohen Grad an Bedeutung und Einfluss.

Die zum großen Teil bereits im ersten Abschnitt des Buches gewonnenen zentralen Erkenntnisse fasst Mratschek in dem Kapitel "Aufbruch in ein neues Zeitalter" (592-602) abschließend zusammen. Mit Blick auf die Transformation der spätantiken Gesellschaft präsentiert Mratschek Paulinus noch einmal als eine integrative Schlüsselfigur im historischen Geschehen, das weniger durch Wandel als vielmehr durch Kontinuität der kulturellen und gesellschaftlichen Normen geprägt war: Als "erster Adelsheiliger" begründete der Bischof Paulinus ein "neues Leitbild der Gesellschaft" und der spätantiken Kultur, welche "die Fermente ihrer eigenen Umgestaltung bereits in sich trug" (598).

Ein ausführlicher Anhang mit ausgewählten Zeugnissen zum paulinischen Leitbild der Askese, einer prosopografischen Übersicht über Briefboten und -partner, einer Chronologie von 395 bis 431 sowie einer Übersetzung der berühmten Epistula imperatoria Galla Placidias an Paulinus mit Kommentar ermöglichen dem Leser eine zielgerichtete Verwendung des Buches. Ebenso hilfreich sind das übersichtliche Quellen- und Literaturverzeichnis sowie die wegweisenden Indices (603-732).

Der Leser findet in der detaillierten und akkurat ausgearbeiteten Untersuchung Mratscheks einen wichtigen Beitrag im Hinblick auf die zahlreichen Fragen zur Transformation der spätantiken Gesellschaft. Insbesondere der erste Abschnitt des Buches fördert Ergebnisse zu Tage, welche für die historische Durchleuchtung der Spätantike und ihrer Protagonisten unverzichtbar sind. Der angenehme Schreibstil Mratscheks steigert dabei den Gewinn der Lektüre. Hervorzuheben ist darüber hinaus die leserfreundliche deutsche Übersetzung der Paulinusbriefe, welche die Verfasserin vor Abfassung ihrer Studie in mühsamer Arbeit selbst erstellt hat (4). Zahlreiche Abbildungen und anschauliches Kartenmaterial unterstützen den Text und tragen zur ästhetischen Ausgestaltung des Bandes in besonderem Maße bei.


Anmerkungen:

[1] Bis vor kurzem war hier nur ein Rückgriff auf die Biografie von Adolf Buse: Paulin, Bischof von Nola und seine Zeit, 350-450, Regensburg 1856, möglich.

[2] Vergleiche dazu neuere Untersuchungen zu Paulinus von Matthias Skeb: Christo vivere. Studien zum literarischen Christusbild des Paulinus von Nola (= Hereditas, 11), Bonn 1997; Dennis E. Trout: Paulinus of Nola. Life, Letters, and Poems(= The Transformation of the Classical Heritage; 27), Berkeley / Los Angeles / London 1999; Catherine Conybeare: Paulinus Noster. Self and Symbols in the Letters of Paulinus of Nola, Oxford 2000.

[3] Vergleiche unter anderem Beat Näf: Senatorisches Standesbewusstsein in spätrömischer Zeit(= Paradosis; 40), Freiburg / Schweiz 1995; Michele Renee Salzman: The Making of a Christian Aristocracy. Social and Religious Change in the Western Roman Empire. Cambridge, Mass. / London 2002; auch für den Osten die in der Zeitschrift Arethusa 33 (2000) im Rahmen des von der University of California (UCLA) veranstalteten Kolloquiums Elites in Late Antiquity veröffentlichten Beiträge.

[4] Vergleiche allgemein zu Gallien in der Spätantike John Drinkwater / Hugh Elton (eds.): Fifth Century Gaul. A Crisis of Identity?, Cambridge 1992 und Ralph W. Mathisen: Roman Aristocrats in Barbarian Gaul. Strategies for Survival in an Age of Transition, Austin 1993; zu Sidonius Apollinaris Jill Harries: Sidonius Apollinaris and the Fall of Rome, AD 407-485, Oxford 1994 und Frank-Michael Kaufmann: Studien zu Sidonius Apollinaris(= Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; 681), Leipzig 1995; zu Ausonius Altay Coskun: Die gens Ausoniana an der Macht. Untersuchungen zu Decimius Magnus Ausonius und seiner Familie (= Prosopographica et Genealogica; 8), Oxford 2002.

[5] Vergleiche unter anderem Stefan Rebenich: Hieronymus und sein Kreis. Prosopographische und sozialgeschichtliche Untersuchungen(= Historia; 72), Stuttgart 1992.

[6] Dieser von Mratschek verwendete Begriff stammt von Averil Cameron: Education and Literary Culture, in: CAH XIII, Cambridge 1998, 665-707.

[7] Vergleiche dazu Barbara Feichtinger: Zäsuren, Brüche, Kontinuitäten. Zur aristokratischen Metamorphose des christlichen Askeseideals am Beispiel des Hieronymus, in: Wiener Studien 110 (1997), 187-220.

Lars Meyer