Rezension über:

Karen Piepenbrink: Christliche Identität und Assimilation in der Spätantike. Probleme des Christseins in der Reflexion der Zeitgenossen (= Studien zur Alten Geschichte; Bd. 3), Berlin: Verlag Antike 2005, 432 S., ISBN 978-3-938032-06-0, EUR 54,90
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Rezension von:
Lars Meyer
Seminar für Alte Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Sabine Panzram
Empfohlene Zitierweise:
Lars Meyer: Rezension von: Karen Piepenbrink: Christliche Identität und Assimilation in der Spätantike. Probleme des Christseins in der Reflexion der Zeitgenossen, Berlin: Verlag Antike 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10 [15.10.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/10/8842.html


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Karen Piepenbrink: Christliche Identität und Assimilation in der Spätantike

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"Die Bedingungen für das Christsein änderten sich in der Spätantike grundlegend. Mit der Hinwendung der römischen Kaiser zum Christentum und der Förderung der Kirche verbreitete sich die christliche Religion in einem zuvor ungekanntem Tempo und Ausmaß. Christliches und Nichtchristliches verschmolzen - und es wurde immer schwieriger zu bestimmen, was überhaupt das Christsein ausmacht." (11). Mit dieser Feststellung einer zäsurhaften Neupositionierung des Christentums innerhalb des staatlichen und gesellschaftlichen Gefüges des spätantiken Imperium Romanum verweist die Verfasserin Karen Piepenbrink gleich zu Beginn ihrer Habilitationsschrift auf die für die Entwicklung der christlichen Kirche und des christlichen Glaubens sowie für das Selbstverständnis christlicher Glaubensbrüder so entscheidenden und bedeutenden Phase von der konstantinischen Zeit bis zum Tod des Augustinus - eine Epoche, in der "the most crucial changes in the way Christians viewed their place in the world" stattfanden. [1]

Gleichzeitig stellt Karen Piepenbrink mit dieser Einschätzung einer veränderten Lebenssituation für die Christen des Römischen Reiches innerhalb des vierten und beginnenden fünften Jahrhunderts n. Chr. einen grundlegenden Aspekt in das Zentrum ihrer Überlegungen: die Frage nach dem Verhältnis der Christen zu ihrer weltlichen Umgebung, welches in seiner Komplexität mit den Begriffen von Konfrontation und Assimilation nur annähernd beschrieben wird (14). [2] Dass die im Vergleich zu den ersten drei Jahrhunderten veränderten Rahmenbedingungen für das Christsein innerhalb der Grenzen des Imperium Romanum bisher unbekannte und neuartige Problemfelder für die christliche Kirche und ihre Repräsentanten evozierten, wird durch die thematischen Verschiebungen im christlichen Diskurs deutlich: In den Mittelpunkt patristischer Literatur traten nun zunehmend Diskussionen und Reflexionen über den inneren Zustand der Kirche und ihrer Mitglieder, welche einerseits durch dogmatische Kontroversen und andererseits durch asketische Gegenmodelle geprägt waren, mit deren Hilfe zahlreiche christliche Autoren den Prozess einer - aus ihrer Perspektive - drohenden Säkularisierung der Kirche kritisierten und als (destruktive) Lösung Distanz und Abgrenzung propagierten. So spiegelte sich in diesem innerchristlichen Diskurs das gesteigerte Bedürfnis jener Zeit wider, "sich mit der Frage nach christlicher Identität auseinanderzusetzen" (16).

Während sich zahlreiche Untersuchungen der modernen Forschung intensiv mit der Propagierung asketischer Gegenentwürfe auseinandergesetzt haben [3], rücken bei Karen Piepenbrink nun diejenigen - bisher weitgehend unbeachteten - Reflexionen christlicher Autoren in den Vordergrund, "welche die Situation 'durchschnittlicher' Christen beleuchten" sollen (20). Das Hauptaugenmerk der Verfasserin liegt demnach auf Reflexionen des innerchristlichen Diskurses, welche die grundlegenden Probleme 'gewöhnlicher' Christen im komplexen Kontext einer zum Teil noch erheblich geprägten paganen Umwelt aus nichtasketischer Perspektive thematisieren und gegebenenfalls im argumentativen Umgang mit ihnen konstruktive Lösungsansätze entwickeln. Die literarische Basis für eine derartige Untersuchung ist dabei von Karen Piepenbrink bewusst breit gewählt worden: Auch wenn sich die Autorin in ihrer Analyse auf die lateinische patristische Literatur des westlichen Reichsteils und den Zeitraum des vierten bis frühen fünften Jahrhunderts n. Chr. beschränkt, ist - angesichts der umfassenden und quantitativ weitgefächerten Quellenbasis - das Ergebnis ihrer analytischen Vorgehensweise bei der Zusammenstellung und Strukturierung der zum Teil aus den Textzusammenhängen gelösten Reflexionen über die Probleme spätantiken Christseins bemerkenswert. Diesbezügliche Aussagen lokalisiert Karen Piepenbrink - unter besonderer Berücksichtigung der literarischen Corpora der Kirchenväter Ambrosius, Augustinus und Hieronymus - sowohl in Predigten, Briefen und pastoralen Schriften als auch in exegetischen und dogmatische Kontroversen behandelnden Schriften (392). Die Ursache für diesen erhöhten Grad einer Perzeption derartiger Problemfelder und einer daraus resultierenden konstruktiven Auseinandersetzung mit ihnen erkennt Karen Piepenbrink zum einen in dem konkreten realen Handlungsbedarf und zum anderen in dem Bemühen um Relativierung rigoroser asketischer Positionen (396).

Die zentralen Themengebiete und Bereiche dieser Reflexionen innerchristlichen Diskurses spiegeln sich schließlich in der inhaltlichen Gliederung der Untersuchung Karen Piepenbrinks wider: Die Hinwendung zum Christentum beziehungsweise das Phänomen christlicher conversio (23-124), die Frage nach der Zugehörigkeit zur Kirche und einer hierarchischen Binnendifferenzierung ihrer Mitglieder (125-161), das Problem der Zugehörigkeit von Christen zu verschiedenen Gemeinschaften und die daraus resultierenden Normen- und Rollenkonflikte (162-282), die Auseinandersetzung mit der paganen Religion (283-339) sowie die Relation christlicher Glaubensbrüder zu klassisch-antiker Bildung, Philosophie und Rhetorik (340-391) werden - in überaus strukturierter und differenzierter Form präsentiert - ausführlich und stets mit Bezug auf die Fragestellung untersucht. Eine kurze und übersichtliche Zusammenfassung stellt jeweils am Ende eines Kapitels wichtige Thesen und Argumente noch einmal in prägnanter Art und Weise dar.

Gerade hier werden immer wieder an zahlreichen Stellen einerseits das Streben der Verfasserin nach inhaltlicher Abgrenzung zu den Reflexionen asketischer Schriftsteller und andererseits das Bemühen um die Darstellung von Problemfeldern 'gewöhnlicher' Christen und deren Behandlung in nichtasketischer Perspektive besonders deutlich: So stellt Karen Piepenbrink unter anderem dem zäsurhaften topischen Charakter asketischer conversio innerhalb der christlichen Literatur [4] die reale 'schlichte' Hinwendung zum Christentum in ihrer Prozesshaftigkeit gegenüber (24-28) und markiert dabei gleichzeitig einen deutlich reduzierten Anspruch an die Bedingungen für eine christliche conversio, welcher eher die Kompromiss- und Konzessionsbereitschaft innerhalb der Reflexionen christlicher Autoren als asketischen Rigorismus widerspiegelt (119-124).

Insbesondere in dieser christlichen Kompromissbereitschaft und -fähigkeit erkennt Karen Piepenbrink denn auch die zentrale Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von spätantikem Christsein und weltlicher Umgebung. Das Christentum und die herkömmlichen traditionellen Beziehungsgeflechte stehen sich in der Perspektive christlicher Reflexionen mitnichten diametral und unvereinbar gegenüber. Vielmehr sind die christlichen Autoren um vermittelnde Positionen bemüht und stellen nicht selten mögliche Kongruenzen christlichen Gedankengutes mit traditionellen Wertvorstellungen und Verhaltensnormen heraus (275-282).

Eine derartige - von patristischen Autoren reflektierte - Nähe christlicher Normen zu traditionellen lokalisiert Karen Piepenbrink in nahezu allen gesellschaftlich relevanten Bereichen: So wird auch in der Frage 'Ehe oder Jungfräulichkeit?' der Wert der Virginität nicht selten zu Gunsten eines 'matrimonialen' Diskurses relativiert, der das traditionelle Ideal der univira perpetuiert und altbekannte Begriffe wie continentia, pudicitia und pietas im Kontext von christlicher Ehe und Familie thematisiert (206-236). Auch das Streben nach sozialer und gesellschaftlicher Distinktion in Form von politischem Ruhm oder materiellem Reichtum scheint keine Unvereinbarkeit mit dem spätantiken Christsein zu beinhalten. Entscheidend bleibt hier in erster Linie der rechte Gebrauch (= usus iustus) materieller Ressourcen: Eine übermäßige liberalitas ist in gleicher Weise zu tadeln wie übertriebene avaritia. Vielmehr liegt in einem partiellen Vermögensverzicht die vermittelnde Position christlicher Schriftsteller (236-259). Eine grundsätzliche normative Neuorientierung - häufig gefordert in den asketischen Schriften - erscheint für den 'normalen' Christen im gesellschaftlichen Kontext des spätantiken Imperium Romanum demnach schwerlich als akzeptabel: So stellt Karen Piepenbrink abschließend fest, dass "der Anspruch, sich exklusiv an christlichen Werten zu orientieren und damit nach perfectio zu streben, in den betrachteten Reflexionen als nicht praktikabel zurückgewiesen" wird (275).

Die Einnahme dieser vermittelnden und kompromissbereiten Position innerhalb der Reflexionen christlicher Autoren demonstriert Karen Piepenbrink schließlich am Beispiel der Relation von Christentum zu paganer Religion und zur traditionell-klassischen Bildung mit deren Gütern Philosophie und Rhetorik. Während die Beschäftigung christlicher Autoren mit der paganen Religion nicht so sehr auf Abgrenzung zielt, sondern speziell die "Auseinandersetzung mit paganen Praktiken" zur Sprache bringt (334-339), bleiben gerade für den spätantiken Christen aus den Reihen der Oberschichten - insbesondere im städtischen Milieu - die Inhalte der traditionellen Bildung weiterhin unverzichtbar: Die Nähe bestimmter philosophischer Richtungen zur christlichen Lehre (Akademie, Neuplatonismus, Stoa) wirkt hier teilweise integrativ. Entscheidend bleibt dabei das Kriterium der Nutzanwendung - deutlich erkennbar am Beispiel der Ethik (385-391).

Die von Karen Piepenbrink an mehreren Stellen angesprochene und in den Reflexionen christlicher Autoren häufig demonstrierte Kompromissbereitschaft bei der Behandlung von verschiedenen Problemen 'durchschnittlicher' Christen im sozial-gesellschaftlichen Kontext des spätantiken Imperium Romanum (Westen) wird in der Zusammenfassung ihrer Untersuchung noch einmal ausführlich behandelt (392-397). Abschließend stellt die Verfasserin hier fest, dass die in den asketischen Schriften geäußerte und propagierte Kompromisslosigkeit im Umgang der spätantiken Christen mit ihrer Umwelt "für die Mehrzahl von ihnen nicht realistisch ist" (394). Vielmehr werden - so Karen Piepenbrink - in den Schriften patristischer Literatur statt eines asketischen Rigorismus Lösungsansätze formuliert, die einen kompromisshaften Blick der Christen auf ihre Umwelt nahe legen. Dabei stellt sie verschiedene von christlichen Autoren angebotene Strategien dar: so zum Beispiel die Transformation von Nichtchristlichem im christlichen Sinn (paganer Kult, antike Bildung), eine christlich orientierte Hierarchisierung von Werten und Handlungsoptionen (Familie, Staat und materielle Güter), im Bereich religiöser Praktiken synkretistische Ansätze oder die Säkularisierung paganer Phänomene (394-395). Somit stellt Karen Piepenbrink am Ende ihrer Untersuchung als Resultat noch einmal deutlich heraus, dass sich die Fragen nach christlicher Identität und Christsein im Selbstverständnis spätantiker Zeitgenossen eher durch Begriffe wie Assimilation und Kontinuität als durch Distanz und Brüche beantworten lassen: "Insgesamt steht in den nichtchristlichen Reflexionen eine vorsichtige, um Vermittlung bemühte Haltung im Vordergrund" (396).

Mit dieser Feststellung am Ende ihrer Untersuchung bietet Karen Piepenbrink dem Leser einen wichtigen und wertvollen Einblick in das - innerhalb der modernen Forschung viel diskutierte - Themenfeld zur Transformation der spätantiken Gesellschaft. Garanten für eine Gewinn bringende Lektüre sind dabei zum einen der innovative Ansatz der Verfasserin, Reflexionen eines innerchristlichen Diskurses aus nichtasketischer Perspektive und die darin behandelten Problemfelder 'gewöhnlicher' Christen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu stellen, und zum anderen die übersichtliche, differenzierte und überzeugende argumentative Struktur ihrer Analyse. Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis (398-429) sowie ein auf die bedeutsamen Aspekte beschränktes Sachregister (430-432) ermöglichen dem Leser darüber hinaus auch eine zielgerichtete Verwendung des Buches.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Bart D. Ehrman / Andrew S. Jacobs (eds.): Christianity in Late Antiquity, 300-450 C.E. A Reader, Oxford 2004, 2.

[2] Vgl. hier vor allem die von der Verfasserin konkret dargestellten Forschungsansätze von Robert Markus: The End of Ancient Christianity, Cambridge 1990 und Christian Gnilka: Usus iustus. Ein Grundbegriff der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur, in: ABG 24 (1980), 34-76; dazu auch Michele Renee Salzman: The Making of a Christian Aristocracy. Social and Religious Change in the Western Roman Empire. Cambridge / London 2002 unter besonderer Berücksichtigung des Vordringens des Christentums innerhalb der senatorischen Oberschichten im westlichen Teil des spätantiken Imperium Romanum.

[3] Vgl. unter anderem Peter Brown: The Body and Society. Men, Women and Sexual Renunciation in Early Christianity, New York 1988 (deutsche Übersetzung: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum, München / Wien 1991) sowie Jan Willem Drijvers: Virginity and Asceticism in Late Roman Western Elites, in: J. Blok / P. Mason (eds.): Sexual Asymmetry. Studies in Ancient Society. Amsterdam 1987, 241-273 und Barbara Feichtinger: Zäsuren, Brüche, Kontinuitäten. Zur aristokratischen Metamorphose des christlichen Askeseideals am Beispiel des Hieronymus, in: WS 110 (1997), 187-221 unter besonderer Berücksichtigung der spätantiken Eliten im westlichen Teil des Imperium Romanum; dazu auch Ines Stahlmann: Der gefesselte Sexus. Weibliche Keuschheit und Askese im Westen des Römischen Reiches, Berlin 1997 unter besonderer Berücksichtigung des ersten bis dritten Jahrhunderts n. Chr.

[4] Vgl. neben zahlreichen anderen Beispielen aus der christlichen Literatur vor allem die asketisch-missionarische Wirkung der Vita Antonii des Athanasius von Alexandria auf zwei hochrangige Staatsbeamte in der Darstellung des Augustinus Augustin. Conf. 8, 6, 15.

Lars Meyer