Eduard Mühle (ed.): Germany and the European East in the Twentieth Century (= German Historical Perspectives; Vol. 17), Oxford: Berg Publishers 2003, 187 S., ISBN 978-1-85973-710-1, EUR 69,50
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die Reihe "Deutsche historische Perspektiven", herausgegeben von dem Stiftungslehrstuhl für deutsche Gastprofessoren am St. Antony's College in Oxford und dessen European Studies Centre, erscheint seit 1965. Sinn und Zweck dieser Reihe ist es, der nur zögerlichen Kenntnisnahme deutscher Historiographie in den angelsächsischen Ländern Abhilfe zu schaffen. Inzwischen hat man aber auch die wachsende Europäische Union als Adressat im Auge, für deren Mitgliedsländer es wichtig ist, sich gegenseitig in ihren historischen, sozialen und kulturellen Grundlagen zu verstehen. Ohne Zweifel kommt dabei dem Thema des vorliegenden Bandes - "Deutschland und der europäische Osten im 20. Jahrhundert" - ein besonderes Gewicht zu. Denn es war deutsche Ostpolitik, die nach der Reichsgründung (zunächst mit ihren preußischen Traditionen, sodann im 20. Jahrhundert mit ihren aggressiven Plänen und Aktionen und schließlich auch noch nach deren Scheitern) die Epochengrenzen und den Epochencharakter dieses "Zeitalters der Extreme" wesentlich bestimmt hat.
An Studien zu wesentlichen Teilkomplexen der Geschichte der deutschen Ostpolitik fehlt es, wie auch der Herausgeber ausdrücklich betont, nicht. Man denke nur an Fritz Fischers "Griff nach der Weltmacht", die Arbeiten zur Weimarer Ostpolitik, zu Hitlers wahnhaften Vorstellungen vom deutschen Lebensraum im Osten und seinen Vernichtungskrieg gegen Russland und Polen, zur Niederlage Deutschlands, der Auflösung Preußens und der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa sowie der langen Teilung Deutschlands und zu den konträren Auffassungen der beiden deutschen Staaten über die Westgrenze Polens an Oder und Neiße. Schließlich gilt ein lebhaftes Interesse der Forschung der friedlichen Revolution von 1989, durch die alles anders geworden ist, weil Deutschland im Gefolge des weltgeschichtlichen Wandels unverhofft seine staatliche Teilung zu überwinden und - mit der definitiven vertraglichen Regelung der Grenze mit Polen - seine preußisch-deutsche Staatstradition hinter sich zu lassen vermochte.
Dies alles ist in vielfältiger Diskussion. Was hingegen wenig ausgeprägt ist, ist das Bemühen, "to draw a comprehensive picture" (2). Der Herausgeber versteht deshalb seine Edition nicht ohne synthetische Ansprüche, die freilich in einem Sammelband, der aus einer Vortragsreihe hervorgegangen ist, schwer zu erfüllen sind. In diesem Genus wird die Prägung durch die unvermeidbare Partikularität der chronologisch, regional oder systematisch spezialisierten Einzelbeiträge immer die Oberhand behalten. Ein rascher Blick auf das diversifizierte Tableau des vorliegenden Bandes lässt dies auch hier erwarten. Doch bei genauerem Studium erkennt man, dass die Autoren bemüht sind, sich dem Generalthema zu stellen. Zumindest gibt es Ansätze, von den Einzelfragen aus ergiebige Perspektiven auf die deutsche Ostpolitik als Epochenproblem des - kurzen - 20. Jahrhunderts zu eröffnen.
So lässt Peter Krüger in seiner weitgefassten Kompetenz für die Weimarer Außenpolitik ("The European East and Weimar Germany", 7-27) darüber reflektieren, welche einerseits europaweiten, andererseits innerdeutschen Rückwirkungen sich daraus ergaben, dass die erste deutsche Republik ihre Ostpolitik rein preußisch traditionell und daher revisionistisch begründete. Es fragt sich, wie weit Weimar damit nicht seinerseits eine für das 20 Jahrhundert (bis 1989/91) spezifische Tradition - eben die des Revisionismus - aufgebaut hat, die anfangs sogar Hitler dabei dienlich war, seinen dann gänzlich solitären Vernichtungskrieg im Osten vom Zaun zu brechen: Dieser begann, wie gesagt worden ist, als "Weimarer Krieg" gegen Polen.
Gerhard Hirschfelds Beitrag ("Nazi Germany and Eastern Europe", 67-90) regt denn auch vor allem zum Nachdenken über die Prägung des 20. Jahrhunderts durch dieses Zentralereignis, den 1. September 1939, an. Vor Hitlers Bruch mit dem Paktkomplizen Stalin lief der zentrale Traditionsstrang deutscher Ostpolitik außenpolitisch-diplomatisch nach Petersburg beziehungsweise Moskau, auch als ideologisch bereits antibolschewistische Töne angeschlagen wurden. Manfred Hildermeier ("Germany and the Soviet Union", 29-44) versucht die ältere Tradition sogar zur "Wahlverwandtschaft" zu stilisieren - fast wie der alte Stechlin, ist man geneigt zu sagen. Solche Reflexionen zu den deutsch-russischen Beziehungen gewinnen ihren für das kurze 20. Jahrhundert im Ganzen erklärenden Konspekt, wenn die longue durée der "negativen Polenpolitik" Preußens und Russlands in ihrem Grundlagencharakter erkannt wird. Michael G. Müller ("Poland and Germany from interwar period through time of détente", 91-106) interpretiert dieses Machtspiel sowohl in seiner langen Genese als auch in seinen zähen Nachwirkungen, wie sie über das Ende der Kaiserreiche hinaus in Gestalt des modernen (preußisch-deutschen) Antipolonismus in Erscheinung traten. Dieser überdauerte die so genannte Zwischenkriegszeit und bewahrte in antikommunistischem Gewand seine - latente - Geltung auch in den Auseinandersetzungen um die "neue Ostpolitik" bis an das Ende der kommunistischen Volksrepublik in Polen und der Teilung Deutschlands. Das Heranwachsen der Entspannung tritt dabei in ein helles Licht.
Neben solchen Beiträgen, die an die grands thèmes und den Charakter der ganzen Epoche deutscher Ostpolitik im kurzen 20. Jahrhundert heranführen, stehen Aufsätze, die durch einen spezifischen Fokus hohen Informationsgehalt bieten. Gerd von Pistohlkors ("Germany and the Baltic region in the short twentieth century", 45-65) deutet die Geschichte der Baltischen Länder - bei zentraler Gewichtung der wirtschaftlichen Interessen Deutschlands im Baltikum vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs - auch als deutsch-russisches Beziehungsproblem. Hans Lemberg ("The mutual reception of Czechs and Germans from the interwar period until the Prague spring", 131-151) erläutert die gegenseitigen Wahrnehmungen von Tschechen und Deutschen anhand von drei deutschen "mental maps" - von Reichsdeutschen (nach 1871), Österreichern und Sudetendeutschen. Zu begrüßen ist, dass in einem solchen Sammelband mit Anspruch auf Synthese auch die Geschichte der "Ostforschung" nicht fehlt. Sie war lange vernachlässigt, findet aber heute vielfältiges Interesse. Der Herausgeber ("The European East on the mental map of German Ostforschung", 107-130) untersucht die Raumvorstellungen in der Ostforschung, indem er exemplarisch drei Texte Hermann Aubins im Themen- und Problemfeld des mental mapping verortet. Am Schluss des Bandes versucht Axel Schildt ("Mending fences: The Federal Republic of Germany and Eastern Europe", 153-179) sich mit der Wahrnehmung Osteuropas in Politik und Öffentlichkeit der alten Bundesrepublik auseinanderzusetzen.
Im Ganzen möchte man dem ergiebigen Band die erhoffte Verbreitung im wachsenden Europa wünschen.
Klaus Zernack