Eduard Mühle (Hg.): Die Chronik der Polen des Magisters Vincentius (= Ausgewählte Quellen zur Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe; Bd. 48), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2014, 424 S., ISBN 978-3-534-24775-2, EUR 79,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die Chronik des polnischen Magister Vincentius (später "Kadłubek" genannt) zählt zu den bedeutendsten Quellen der früh- und hochmittelalterlichen Geschichte Polens. Es ist daher das große Verdienst des Osteuropahistorikers und Mediävisten Eduard Mühle, die Chronik des Magister Vincentius erstmals in vollständiger deutscher Übersetzung vorzulegen. Das Fehlen einer deutschen Übersetzung ist umso erstaunlicher, als die Chronica Polonorum als "ein zentrales Denkmal der 'Nationalkultur', das über Jahrhunderte das historische und literarische Bewusstsein der Polen mitgeprägt hat", gilt (11). Die Übersetzung ist zudem deshalb hilfreich, weil Vincentius' Latein zwar hochgelehrt (systematisch latinisiert er slawische Namen und Begriffe), aber auch komplex und daher nur schwer verständlich ist, zumal die Chronik im ornatus gravis verfasst ist. Der Chronist demonstriert seine klassische Bildung und präferiert rhetorische Mittel und Anspielungen, wobei seine eigenen Urteile oft in den komplexen Strukturen verborgen sind. Die große Gelehrsamkeit des Vincentius belegen die Quellen und Vorlagen, zu denen etwa Ambrosius von Mailand, Aristoteles, Cicero, kirchliche Rechtsliteratur, die Bibel, Ovid, Vergil und Seneca gehören. Im 15. Jahrhundert galt die Chronik zunächst als Geschichts- und Rhetoriklehrbuch, aber schon in der zweiten Jahrhunderthälfte wurde Vincentius gerade wegen der eingeschobenen legendenhaften Erzählungen zunehmend kritisch betrachtet, was sich über die Zeit des Positivismus bis in die 1950er Jahre fortsetzte. Hinsichtlich des lateinischen Textes orientiert Mühle sich im Wesentlichen an der neueren Monumenta Poloniae Historica-Edition Marian Plezias [1], die als maßgeblich anzusehen ist.
Mühles umfangreiche und instruktive Einleitung befasst sich eingehend mit der Chronik selbst und ihrem Verfasser, sie überprüft kritisch den Forschungsstand und revidiert ihn, wo nötig. Mühle bestätigt mit einiger Sicherheit den Magister, Propst des Sandomirer Kollegiatsstifts zur Heiligen Jungfrau und späteren Bischof von Krakau Vincentius (1208-1218) als Urheber der Chronik. Vincentius wurde zwischen 1150 und 1160 geboren und entstammte einer kleinpolnischen, zur Elite des Landes zählenden Familie. Der spätere Beiname Kadłubek ("Rümpfchen") ist immer noch Teil einer Forschungsdiskussion. In der Einleitung legt Mühle die Forschungen zu Vincentius und seiner Herkunft, seiner Bildung, seiner Amtsführung, seinen literarischen Vorlagen und seinem Tod im Zisterzienserkloster in Jędrzejów sowie das Nachleben in Form des Seligenkults und des Werks im Detail dar. Der 1223 verstorbene Vincentius wurde von Papst Clemens XIII. 1764 seliggesprochen, nachdem sich sein Kult in und um Jędrzejów entwickelt hatte. Die Abfassung der Chronik fällt in eine Zeit der polnischen Geschichte, die von Fehden gekennzeichnet war und in der die Einheit des piastischen Königreichs zerbrach. Die Senioratsordnung war 1227 zugunsten von fünf gleichrangigen Herzogtümern aufgegeben worden. Der genaue Abfassungszeitraum der Chronik bleibt aber ungewiss (42).
Die Chronica Polonorum ist in vier Bücher unterteilt: In den Büchern 1-3 führen der Erzbischof Johannes von Gnesen und der Bischof Matthäus von Krakau einen gelehrten Dialog über die Geschichte Polens und der Piasten seit der Antike bis zu Bolesław IV. (1146-1173), immer wieder durchsetzt von Anekdoten, Legenden und phantastischen Erzählungen, die längst Eingang in die polnische Kultur gefunden haben, so die Geschichte von Wanda und dem Tyrannen oder von dem Waweldrachen. Das 4. Buch, hier konnte Vincentius aus eigenem Erleben schöpfen, erzählt über weite Strecken polnische Geschichte und endet mit dem Herrschaftsantritt von Władysław III. Laskonogi "Dünnbein" als Seniorherzog im Jahr 1202. Hinzu kommt ein Epikedeion auf den Tod Kasimirs II., gestaltet als Streitgedicht in 58 Strophen. Störend wirkt einzig die weitgehende Verschreibung des Namens des baltischen Stammes der Prußen als "Pruzzen" in der deutschen Übersetzung.
Die Absicht des Chronisten besteht in der Erzählung der Geschichte der Piastenherrschaft. Die Anfänge der polnischen Geschichte werden legendenhaft in der Antike verortet und reichen bis in das Jahr 1202. Das Werk besitzt durchaus erzieherische und bildende Kraft und will die Herrschenden zum Wohle des Staates zu Recht und Tugend verpflichten. Vincentius bietet ihnen nachahmenswerte Beispiele und entwickelt damit "eine Art Fürstenspiegel" (51). Zusätzliche Bemerkungen des Herausgebers zu Textüberlieferung und Texteditionen, bisherigen Teilübersetzungen sowie Quellen und Vorlagen der Chronica Polonorum runden das überaus positive Bild dieser vollumfänglich gelungenen Chronik-Edition mit deutschsprachiger Übersetzung für ein breiter interessiertes Publikum ab.
Anmerkung:
[1] Marian Plezia (Hg.): Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica Polonorum / Mistrza Wincentego zwanego Kadłubkiem Kronika polska, Kraków 1994 (Monumenta Poloniae Historica, Nova Seria; 11).
Marcus Wüst