Rezension über:

Nils Jörn / Bernhard Diestelkamp / Kjell Åke Modéer (Hgg.): Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653–1806) (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 47), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, XI + 411 S., ISBN 978-3-412-18203-8, EUR 44,90
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Rezension von:
Christoph Schmelz
Wiesbaden / Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Schmelz: Rezension von: Nils Jörn / Bernhard Diestelkamp / Kjell Åke Modéer (Hgg.): Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653–1806), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 10 [15.10.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/10/5126.html


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Nils Jörn / Bernhard Diestelkamp / Kjell Åke Modéer (Hgg.): Integration durch Recht

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Ein Werk gleich zu Beginn der Rezension überschwänglich zu loben ist ungewöhnlich. Aber ein interessantes Werk hat es jedenfalls verdient. Es vereinigt unter dem Titel "Integration durch Recht" die anlässlich der Tagung zum 350. Jahrestag der Gründung des Wismarer Tribunals vom 15. bis zum 17. Mai 2003 in der ehrwürdigen Hansestadt Wismar gehaltenen Referate. Damit wird weiterhin ein Beitrag geleistet, das Wismarer Tribunal wieder in den Fokus der rechtshistorischen, geschichtswissenschaftlichen und politischen Forschung zu rücken. [1] Das Faszinosum, welches gleich einer sonnenhaften Anziehungskraft vom Tribunal ausgeht, manifestiert sich darin, dass das Oberappellationsgericht Wismar durch die Resultate des Westfälischen Friedens völkerrechtlich zu Schweden, aber staatsrechtlich weiterhin zum "sacrum imperium" gehörte. Dieses Spannungsverhältnis kommt auch immer wieder in den jeweiligen Referaten zum Ausdruck. Da der Tagungsband insgesamt 27 Referate in sich vereinigt und eine Besprechung aller Beiträge den Rahmen dieser Rezension sprengen würde, erlaube ich mir, eine subjektive Akzentsetzung vorzunehmen und folgende Referate pars pro toto näher zu analysieren: "... daß kein Theil mit Billigkeit zu klage Ursache habe: Die schwedische Untergerichtsreform der Jahre 1630 und 1632 in Livland und das Schicksal der bäuerlichen Gerichtsbarkeit" (Heikki Pihlajamäki, 197-214), "Das richterliche Personal am Tribunal" (Nils Jörn, 247-276) und "David Mevius" (1609-1670) (Ernst Holthöfer, 277-296).

Der erstgenannte Beitrag liefert einen interessanten Einblick in die Gerichtsstruktur Livlands, das im 17. Jahrhundert aufgrund des Waffenstillstandes von Altmark 1629 in beträchtlichem Maße an der schwedischen Justizverwaltung partizipieren konnte. Der Schutz von Untertanen nimmt in der Forschungsliteratur des "sacrum imperium" einen zentralen Raum ein. [2] Mit seinem Referat liefert der Autor Pihlajamäki einen weiteren Baustein für eine globale Bewertung der richterlichen Rechtsgewähr gegenüber Untertanen. Das "segensreiche Scepter" [3] Schwedens hat in Livland dazu geführt, dass die Bauern ein Klagerecht gegen große Unterdrückung vonseiten ihrer Gutsherren beim Dorpater Hofgericht bekamen. Die Ausführungen münden in die Bestätigung der Erkenntnis, dass es in Schweden niemals zu einer einheitlichen Rechtspolitik für das gesamte schwedische Reich kam. Exempli causa lässt sich das Faktum anführen, dass die Präsenz bäuerlicher Rechtsfinder am Dorpater Landgericht gerade zu Beginn der schwedischen Periode erstaunlich hoch war und sich in der Folgezeit zwar reduzierte, aber immer noch zahlenmäßig hinreichend war, um eine Beachtung historisch gewachsener rechtlicher Strukturen zu gewährleisten. Der Beitrag liefert einen wichtigen Impuls und Impetus, sich der Problematik der bäuerlichen Gerichtsbarkeiten in Livland zur Zeit der schwedischen Justizreformen anhand einer Auswertung von Prozessakten vertiefend zu widmen.

Nils Jörn richtet in seinem Beitrag "Das richterliche Personal am Tribunal" den Fokus auf den manchmal mehrere Generationen umfassenden sozialen Mikrokosmos des judizierenden Personals am Summum tribunal. Hierbei gelingt ihm meisterhaft die Synthese von höchstem Informationsgehalt und knapper und konziser Darstellung. Es handelt sich geradezu um ein "Kontrastprogramm" zu dem Opus von Sigrid Jahns "Das Kammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich", das mit seinem fast schon befremdlich anmutenden Seitenumfang aus meiner Sicht die Geduld des Lesers arg strapaziert. Jörn gelingt es in besonderer Weise durch biografische "Tiefenbohrungen" in die Gesellschaft des Alten Reiches die frühneuzeitlichen Mechanismen sozialen Aufstiegs und sozialer Verflechtung sichtbar zu machen. Der Autor kommt bei seiner Untersuchung zu der "edition raisonnée", dass die familiären und teils wissenschaftlichen Sozialisationen mit den Bindungen an die Universität Greifswald prägende Strukturmerkmale des judizierenden Personals waren.

Ernst Holthöfer übernimmt mit seinem Beitrag über Mevius erstmals die Pionierarbeit, eine facettenreiche Skizze über Leben und Wirken des ersten Vizepräsidenten am Summum tribunal zu liefern. Damit präpariert er anschaulich die Bedeutung von Mevius für die Rechtswissenschaft und die Bewegung des "usus modernus pandectarum" heraus. Vor allem mit seinem Œuvre "Commentarius in ius Lubecense" hat David Mevius ein Werk geschaffen, das dem bedeutendsten aller niederdeutschen Stadtrechte, nämlich dem lübischen Recht, die Autorität gegenüber dem subsidiär geltenden "ius commune" zu festigen und ihm als dem deutschen Stadtrecht des Ostseeraums bis hin nach Kurland, Livland und Estland seine Geltung zu sichern verhalf. Die Bedeutung des lübischen Rechts endete in Deutschland erst (sic!) mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahre 1900. Selbst Schweden - und hier zeigt sich elementar das Spannungsverhältnis zwischen den Rechtssphären Schwedens und des "sacrum imperium" - konnte sich dem Einfluss des lübischen Rechts nicht entziehen und hat, vor allem im Handelsrecht, daraus das Sveriges Rikes Lag von 1734 rezipiert. Mevius ist also neben Benedikt Carpzov einer der bedeutendsten Juristen, die durch die gelungene Synthese von wissenschaftlicher Systematik und rechtspraktischer Erfahrung die für den deutschen Rechtskreis typische Auseinandersetzung zwischen Rechtssprechung und Lehre eingeleitet haben.

Dieses Faktums nimmt sich Holthöfer dergestalt an, indem er auf den um 1700 erschienenen Titel "Codex Mevianus" verweist, eine Ausgabe, welche die Decisionen nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in systematischer Ordnung abdruckte. Gerade auf diesem Werk beruht die überragende Bedeutung von Mevius für die deutsche Rechtswissenschaft. Abgerundet wird der gelungene Beitrag von Holthöfer mit einigen Ausblicken auf weitere Forschungsdesiderata. So wird beispielsweise hervorgehoben, dass die Bedeutung von Mevius in puncto "Beitrag zur juristischen Dogmengeschichte" bis dato noch nicht geleistet wurde und erst durch ein umfassendes Studium seiner reichhaltigen Schriften und Gutachten möglich sein wird. Auch sein rechtspolitisches Engagement ist noch nicht hinreichend diskutiert worden und bietet durch seine monografischen Arbeiten zum Vollstreckungsschutz, Zinswucher und Leibeigenen - Vindikation eine inspirierende Quelle für zukünftige Forschungsprojekte.

Als resümierendes Meinungsbild über den Tagungsband bleibt festzuhalten, dass er sich aufgrund seiner kulturellen Farbigkeit und seines Facettenreichtums als wahrer (rechts-) historischer Schatz erweist. Eine Anschaffung dieses Werkes ist "conditio-sine-qua-non" für einen exakten und erfolgreichen wissenschaftlichen Zugang zum Wismarer Tribunal.


Anmerkungen:

[1] An dieser Stelle sei der Hinweis erlaubt, dass vom Rezensenten im Verlag Duncker & Humblot (= Schriften zur Rechtsgeschichte) alsbald die Dissertation "Die Entwicklung des Rechtswegestaates am Beispiel der Trennung von Justiz und Policey im 18. Jh. im Spiegel der Rechtsprechung des Reichskammergerichts und des Wismarer Tribunals" erscheinen wird.

[2] Vgl. Rita Sailer: Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht: Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 33), Köln / Weimar / Wien 1999.

[3] Astaf v. Transehe-Roseneck: Gutsherr und Bauer in Livland im 17. und 18. Jahrhundert (= Abhandlungen aus dem Staatswissenschaftlichen Seminar zu Straßburg; Bd. 7), Straßburg 1890, 6.

Christoph Schmelz