Manfred Jakubowski-Tiessen (Hg.): Religion zwischen Kunst und Politik. Aspekte der Säkularisierung im 19. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2004, 190 S., ISBN 978-3-89244-747-4, EUR 24,00
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Die acht Beiträge, darunter zwei, die schon andernorts veröffentlicht wurden, sind aus dem Kolloquium im Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen zu Hartmut Lehmanns 65. Geburtstag hervorgegangen. Was unter Säkularisierung, ein deutungsoffener und umstrittener Begriff, verstanden werden kann [1], erläutert der Jubilar, der dazu viel Lesenswertes publiziert hat, in einem abschließenden Beitrag. Mit ihm die Lektüre des Buches zu beginnen, ist zu empfehlen, denn die Autoren verwenden den Begriff unterschiedlich. Dies gilt auch für Religion. Manche Autoren, auch der Herausgeber in der knappen Einleitung, nennen den Nationalismus "säkulare Religion" oder sprechen von "politischer Religion", "Ersatz-Religion" und "Kunstreligion", ohne diese Begriffe näher zu betrachten. Es wird also der informierte Leser vorausgesetzt, denn über die Widersprüche zu diesen Begriffen in der Fachdiskussion erfährt er nichts Genaueres.
Lehmann informiert thesenhaft verdichtet, welche Kernpunkte das Säkularisierungstheorem umfasst, warum es seine Überzeugungskraft verloren hat, um dann die Bedeutung des Kollektivbegriffs "Volk" für die "politische Instrumentalisierung des Religiösen" von den protestantischen Rechristianisierungsbewegungen des 19. Jahrhunderts bis zu den Deutschen Christen und zu den Vorstellungen eines "Chosen People" in den USA, Großbritannien oder in der Apartheidpolitik in Südafrika zu skizzieren. Er endet mit einem Plädoyer, die unterschiedlichen religiösen Prägungen in den globalen Modernisierungsprozessen zu untersuchen.
Die anderen Beiträge bieten Detailstudien in dem weiten Themenfeld, das der Buchtitel nennt. Der Herausgeber analysiert, wie ein Pastor im Herzogtum Lauenburg auf die Gefährdung der Sonntagsheiligung durch die 1846 eröffnete Eisenbahnstrecke von Berlin nach Hamburg reagierte und was er mit seinen Eingaben an das Konsistorium erreichte: An jedem dritten Sonntag sollten die Bahnbediensteten keinen Dienst haben, um zum Gottesdienst gehen zu können, und der sonntägliche Güterverkehr wurde eingeschränkt. Es folgt Gerhard Binders Aufsatz über die nationalen Umdeutungen der "Germania" des Tacitus im 19. Jahrhundert, die nun aus dem christlichen Wertekanon in den nationalen transformiert und so zu einem "Versatzstück" in der Liturgie nationaler "Ersatz-Religion" wurde. Mit empirischen Beobachtungen im Untersuchungsfeld wird dieser Begriff allerdings nicht gefüllt. Daran schließt die eindringliche Analyse der Novelle "Aquis submersus" Theodor Storms durch Heinrich Detering an. Ob jedoch die Kennzeichnung als "Kunstreligion" angemessen ist, ließe sich wohl nur klären, wenn die Rezeption Storms in der damaligen Gesellschaft untersucht würde. Dies gilt auch für Lars Olof Larssons Untersuchung, wie Leben, Liebe und Tod im Werk von Edvard Munch und Gustav Vigeland gestaltet werden. Kunst und Künstler erhalten hier einen "pseudosakralen Status", doch wird die Kunst dadurch eine "Ersatzreligion"? Heinrich W. Schwab vermeidet eine solche Zuschreibung in seinem Beitrag "Zur Präsenz von Gebet und Choral auf der Opernbühne". Er zeigt, wie lange sich das Tabu, die Christusfigur auf die Bühne zu stellen, gehalten hat, sich jedoch unterhalb dieser Schwelle der Konzertsaal im 19. Jahrhundert in einen "neuzeitlichen Tempel" verwandeln konnte. Auf der Bühne wird "Religion gepredigt", urteilte Richard Wagner über Giacomo Meyerbeers 1836 in Paris erstaufgeführte Oper "Die Hugenotten". Es gab jedoch auch erheblichen zeitgenössischen Widerspruch, wenn der "kirchliche Indifferentismus" dazu verleite, dass sich "die Kirche hinter die Coulissen" flüchte - so die Dresdner Abendzeitung 1846 in ihrem Artikel "Die Kirche auf der Bühne".
An diese Studie schließt Hans Hattenhauers Aufsatz über das preußische Religionspatent vom 30. März 1847 an - eine weite Perspektiven eröffnende Analyse, wie der preußische Staat die Religionsfreiheit seiner Bürger gewähren und zugleich eine Bestandsgarantie für die etablierten Großkirchen sichern wollte. Am Beispiel der Baptisten verfolgt der Autor, welche Schwierigkeiten staatliche Stellen einer Freikirche weiterhin bereiten konnten.
Die Reihe der Detailstudien endet mit der Studie "Tholucks Sicht auf den Rationalismus und seine 'Vorgeschichte'" von Thomas Kaufmann. Er arbeitet präzise heraus, wie an "die Stelle der göttlichen Einwirkung in die Geschichte" im späteren Werk Tholucks die "Dialektik des geschichtlichen Lebens selbst" tritt. Darin bestehe sein "gegenüber der Weltdistanzierung der Erweckungsfrömmigkeit durch Historisierung geläuterter spezifischer Beitrag zur theologischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts" (176).
Wer an aspekthaften Einblicken in Säkularisierungsprozesse und deren Grenzen interessiert ist, findet in diesem Buch lesenswerte Beiträge.
Anmerkung:
[1] Als Überblicke Hugh McLeod: Secularisation in Western Europe, 1848-1914, London 2000; ders. / Werner Ustorf (Hg.): The Decline of Christendom in Western Europe, 1750-2000, Cambridge 2003; engagierter und stimulierender Widerspruch gegen den unreflektierten Gebrauch des Begriffs Säkularisierung: Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004; mit weiterer Literatur Heinz-Gerhard Haupt / Dieter Langewiesche (Hg.): Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2004.
Dieter Langewiesche