Rezension über:

Sarah Jansen: "Schädlinge". Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts 1840-1920 (= Campus Historische Studien; 25), Frankfurt/M.: Campus 2003, 434 S., ISBN 978-3-593-36307-3, EUR 45,00
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Rezension von:
Frank Uekötter
Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Frank Uekötter: Rezension von: Sarah Jansen: "Schädlinge". Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts 1840-1920, Frankfurt/M.: Campus 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 12 [15.12.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/12/3966.html


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Sarah Jansen: "Schädlinge"

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Margit Szöllösi-Janze bemerkte kürzlich, dass die Agrarwissenschaften "eines der letzten wirklich großen Dunkelfelder im Bereich der Wissenschaftsgeschichte darstellen." [1] Das trifft zu, aber es gibt einige Inseln in diesem Themenfeld, zu denen sich inzwischen eine umfängliche Literatur entwickelt hat. Zu diesen Inseln zählt zweifellos die Geschichte der Insektenbekämpfung und der Pestizide, die seit Rachel Carsons Silent Spring zu den zentralen Themen der Umweltbewegung zählt; zu den wichtigeren Arbeiten gehören die Veröffentlichungen von James Whorton, Frank Graham, John Perkins, Christopher Bosso, Thomas Dunlap, Paolo Palladino, Edmund Russell und Jürgen Büschenfeld. Da stellt sich dem Rezensenten bei einem weiteren Buch zu diesem Themenfeld zunächst einmal eine sehr grundsätzliche Frage: Gibt es zum Thema noch etwas wirklich Neues zu sagen?

Sarah Jansen zeigt: Das gibt es sehr wohl. Jansen setzt grundsätzlicher an als die früheren Forscher und nimmt das Konzept des Schädlings per se in den Blick: Das Buch will "den Prozeß der Konstitution eines wissenschaftlichen und politischen Gegenstandes aufzeichnen" (14). Zugleich setzt sie breiter an als frühere Arbeiten und nimmt zum Beispiel auch Hygienebewegung und Kriegsführung mit in den Blick. Die Arbeit behandelt die Zeit zwischen 1840 und 1920, mit einem Ausblick zum nationalsozialistischen Genozid und zum ökologischen Zeitalter.

Die Breite ihres Ansatzes verdeutlicht die Zahl der Diskurse und Wissensfelder, die sie als relevant für den Begriff des "Schädlings" erkennt und die sie in der Einleitung auflistet: "im biologischen Wissen die vergleichende Systematik Linnés, die Humboldtsche Naturgeschichte, die Darwinsche Evolutionslehre, die aus dem Darwinismus hervorgehende Ökologie, die Physiologie mit ihren Experimentalpraktiken und mathematischen Repräsentationstechniken; über die Biologie hinaus die Überwachungspraktiken der 'medizinischen Polizei', die Sozialstatistik, die öffentliche Hygiene; die Lehre von Erregern als Krankheitsursachen in der Medizin; ökonomische Praktiken der Bilanzierung; naturwissenschaftliche Techniken der Kriegsführung; Kolonialisierung und Welthandel sowie die entlang polaren 'Wesensunterschieden' geordneten Geschlechterverhältnisse" (16 f.). Fürwahr eine beeindruckende Liste - und doch eine unvollständige; denn die Situation in der land- und forstwirtschaftlichen Praxis kommt in diesem Buch nur am Rande und mit durchaus zweifelhaften Behauptungen vor. Dabei ist der realexistierende Acker in den Agrarwissenschaften ein zentraler Referenzpunkt, dessen Bedeutung bis in die epistemischen Grundlagen der landwirtschaftlichen Forschung hinein nachzuweisen ist. Bei allem Scharfsinn, den die Autorin in die Analyse von Tabellen und Formblättern investiert: Inwiefern diese wichtiger sind als die Impulse aus der forstlichen und landwirtschaftlichen Praxis, wäre eine kontroverse Debatte wert.

Es berührt merkwürdig, dass dieses Buch, das ansonsten ein bemerkenswertes Gespür für die theoretischen Implikationen scheinbar harmloser Praktiken beweist, ausgerechnet bei den Praktikern in ziemlich schlichte Klischees verfällt. Erkenntnis ist, so Jansens implizite Annahme, die Sache von Wissenschaftlern und anderen Funktionseliten, aber keinesfalls des einfachen Volkes: "Es ging im 19. Jahrhundert darum, den Landwirten überhaupt die Sichtweise zu vermitteln, daß Insekten Schäden verursachen" (51) - eine Behauptung, die doch arg nach dem schlechten alten Topos des "tumben Bauern" klingt. Zudem behauptet Jansen, es gebe keinen Beleg für die These, die landwirtschaftliche Insektenbekämpfung sei eine Reaktion auf gesteigerten Insektenbefall, um wenig später die Reblauskrise zu schildern, die im späten 19. Jahrhundert zunächst in Frankreich und dann in Deutschland und anderen Ländern etliche Weinberge dahinraffte. Es bleibt zu diskutieren, ob es bei den folgenden hektischen Bemühungen tatsächlich in erster Linie um die "deutsche Weinkultur" ging. War das Spektrum ruinierter Winzer nicht Anreiz genug? Zumal der deutsche Weinbau ja zu erheblichen Teilen in politisch sensiblen Regionen lag.

Die Arbeit schildert unter Rückgriff auf vielfältige Belege die Entwicklung vom "schädlichen Insekt" im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, dem ein spezifischer forstlicher Schaden zugeschrieben wurde, zum "Schädling", der etwas sehr viel umfassenderes bedrohte, nämlich naturalisierte, symbolische Imaginationen wie etwa den "deutschen Wald" und schließlich das "deutsche Volk". Gerade vor dem Hintergrund dieses großen Zeitraums und der vielfältigen Kontexte, die Jansen in ihrer Arbeit erschließt, mutet es jedoch merkwürdig an, wie glatt die Geschichte bei ihr wirkt. Der Gesamteindruck ist der einer zwar nicht kontinuierlichen, aber doch sehr geradlinigen Entwicklung, in der es divergierende und gegenläufige Tendenzen offenbar kaum gab. Manchmal drängt sich der Eindruck auf, dass doch zu sehr in eine Richtung hin interpretiert wird. So assoziiert sie mit der Kreuzesform des verlausten Hemds eines russischen Kriegsgefangenen "Unterwerfung, Kreuzigung und Opfer" (252). Dabei weiß jeder gute Christ, dass das Kreuz zunächst einmal Erlösung symbolisiert - aber das hätte halt nicht gepasst.

Die von Jansen geschilderte Geschichte ist, wie sie selbst schreibt, "eine deutsche Geschichte" (19). Gerade vor dem Hintergrund ihrer provozierenden These, die Formierung des "Schädlings" gehöre zu den "Möglichkeitsbedingungen" des nationalsozialistischen Genozids, wäre eine vergleichende Perspektive wünschenswert gewesen, was Jansen auch erfreulich offen einräumt. Allerdings sei dies "bei der derzeitigen Forschungslage nicht machbar", schreibt Jansen, da die verfügbaren Arbeiten andere Fragestellungen verfolgen (19). Das ist, wie erwähnt, nicht völlig falsch - und ist doch zugleich denkbar unbefriedigend. Wäre es nicht möglich gewesen, vorliegende Veröffentlichungen ein wenig gegen den Strich zu bürsten? Im Übrigen stimmt es nicht, dass die von ihr favorisierte Fragerichtung bislang völlig ignoriert worden wäre. "Describing insects as national enemies on par with Japanese soldiers elevated 'bugs' from the category of 'nuisance' to national threat", schreibt Edmund Russell in 'War and Nature' über die Rhetorik des amerikanischen Militärs im Zweiten Weltkrieg. [2] Es ist unerfreulich, dass Jansen eines der besterforschten Themenfelder der Geschichte der Agrarwissenschaften bearbeitet, als handelte es sich um ein jungfräuliches Forschungsfeld.

Bei allen kritischen Anmerkungen ist jedoch eines deutlich zu sagen: Dieses Buch ist eine Provokation - und das ist gut so. Gerade schien es so, als sei zu den Pestiziden alles gesagt - und jetzt bringt Jansen einen neuen, irritierenden Ton in die Debatte. Man kann sich unschwer vorstellen, dass etliche Forscher dieses Buch am liebsten verreißen würden. Damit würden sie nur zeigen, wie wichtig es ist.


Anmerkungen:

[1] Margit Szöllösi-Janze: Die institutionelle Umgestaltung der Wissenschaftslandschaft im Übergang vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik, in: Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, 60-74, 72.

[2] Edmund Russell: War and Nature. Fighting Humans and Insects with Chemicals from World War I to Silent Spring, Cambridge u.a. 2001, 233.

Frank Uekötter