Leandro Prados de la Escosura (ed.): Exceptionalism and Industrialisation. Britain and its European Rivals, 1688-1815, Cambridge: Cambridge University Press 2004, XV + 335 S., ISBN 978-0-521-79304-9, GBP 55,00
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Im März 2001 fand in Madrid eine Tagung zu Ehren des an der London School of Economics als Centennial Professor of Economic History lehrenden Patrick Karl O'Brien statt. Gegenstand der Tagung, aus der dann dieses Buch hervorging, war ein von den Arbeiten von O'Brien wesentlich befruchtetes, aber immer noch offene Fragen aufwerfendes Gebiet der wirtschaftshistorischen Forschung: Wie wurde der Wettstreit zwischen Britannien und seinen kontinentalen Widersachern während der Jahre 1688 bis 1815 ausgetragen und warum errang letztlich Britannien die Vormachtstellung in der Welt?
Im Vorwort (XV) wird betont, dass es sich hier trotz des Charakters einer Ehrengabe nicht um eine übliche, inhaltlich meist heterogene "festschrift" handelt, sondern um eine "textschrift" (Markierungen im Original). Für die herausragende Qualität der insgesamt 15 Beiträge zeichnen renommierte Fachvertreter verantwortlich, die als Schüler, Weggefährten und befreundete Kollegen von O'Brien an führenden englischen, amerikanischen, kanadischen, spanischen, italienischen und niederländischen Universitäten lehren. Durch die an Problemfeldern orientierte Organisation des Buches und wohl abgestimmte Fachbeiträge gelingt eine konsistente Gesamtschau des komplexen Themas.
Einführend fragt de la Escosura, ob der Beginn des Industriezeitalters in Britannien ein einzigartiges Phänomen gewesen und auf eine außergewöhnliche Konstellation verschiedener Faktoren zurückzuführen sei. Da herausragende Positionierungen Britanniens bereits vor der Glorious Revolution stattfanden, muss die Zeit vor dem im Titel genannten Jahr 1688 in die Analyse einbezogen werden. Es müssen zudem die "richtigen", oft unkonventionellen Fragen gestellt und mit unterschiedlichen Erkenntnismethoden untersucht werden. Dies definiert das logische Konzept des ganzen Buches.
In Teil I suchen Robert C. Allen und Javier Cuenca Esteban allgemein nach möglichen Ursprüngen britischer Überlegenheit in einer vergleichenden Analyse zu anderen Staaten in Europa, auch im Kolonialhandel.
Teil II thematisiert dann die Bereiche der Landwirtschaft und der Proto-Industrialisierung Britanniens als Erklärungsfaktoren für eine spätere Hegemonialstellung. James Simpson identifiziert eine bereits früh angelegte, organisatorisch überlegene Struktur der britischen Landwirtschaft. N.F.R. Crafts und C. Knick Harley zeigen mithilfe eines Gleichgewichtsmodells, wie stark die frühe kapitalistische Orientierung des Agrarsektors die für die spätere Industrialisierung wichtige Beschäftigungsstruktur vorteilhaft prägte.
Teil III widmet sich mit dem technischen Wandel einem Bereich, der allgemein als entscheidend für jede wirtschaftliche Entwicklung anerkannt ist. Christine MacLeod stellt fest, dass eine technologische Vorherrschaft Britanniens nur bei wenigen, aber später dann äußerst bedeutsamen Gebieten, wie bei den auf Kohle beruhenden Industrien (115), auf eigene britische Erkenntnisse zurückgeführt werden kann. Erfindungsfreude war vielmehr ein gesamteuropäisches Phänomen, aber die Rahmenbedingungen in Britannien führten manche Erfindungen erst einer wirtschaftlichen Verwertung zu. James Thomson verdeutlicht dies für die Erfindungen in der Baumwollindustrie, warum sich Baumwolle wirtschaftlich durchsetzen konnte - und warum dies von Britannien ausging (131). Mit seiner Analyse kontinental-europäischer Reaktionen auf britische Innovationen in der Eisenindustrie zeigt Rainer Fremdling, wie wichtig insbesondere der in Britannien durchgesetzte Umstieg auf Kohle als Energieträger war. Damit errang Britannien eine deutliche Vormachtstellung in Europa, die auch durch eine Ausbreitung britischer Neuerungen auf dem Gebiet der Eisenproduktion nach dem Festland von den dortigen Volkswirtschaften nicht aufgeholt werden konnte.
Teil IV untersucht die Institutionen, die wirtschaftliches Wachstum und Vorteile gegenüber konkurrierenden Volkswirtschaften erzeugen können, als weitere Erklärungsfaktoren für die Herausbildung der Überlegenheit Britanniens. Larry Neal gibt dazu einen vergleichenden Überblick über das Geld- und Finanzwesen sowie dessen politische Einbettung in England, Frankreich und Holland. Die zentrale Frage lautete, warum gerade die britische Regierung, verglichen mit Frankreich und Holland, in der Lage war, ihren Untertanen eine hohe Steuerlast aufzuerlegen; gilt dieses doch üblicherweise als schädlich für wirtschaftliches Wachstum. Wie die hohe Steuerlast während des so genannten "langen 18. Jahrhunderts" dem Wachstum nicht schädlich werden konnte, diskutiert dann detailliert Richard Bonney. Die Interdependenzen zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und einem funktionsfähigen Geldwesen behandelt anschließend Forrest Capie. Als zentrales Problem identifiziert Capie die Stabilität des Geldwertes und das Vertrauen darin, welches keine Regierung zerstören darf - wie es im Gegensatz zu Britannien in Frankreich der Fall war.
Teil V ist überschrieben mit "War and hegemony". Daniel A. Baugh präsentiert die Faktoren, welche die britische Marine auf der Weltbühne überlegen machten: Als zentral werden die Organisation der Marine und die auf die Kontrolle des Handels ausgerichteten Seekriegsstrategien identifiziert.
Abschließend reflektiert Stanley L. Engerman den Aufstieg Britanniens zur Weltmacht, das "British Miracle" (261) vor dem Hintergrund institutionellen Wandels: Ist es für eine Gesellschaft langfristig besser, wenn sie es "leicht" oder "schwer", eine Pionier- oder eine Verfolgerrolle hat? Wie stehen kulturelle Faktoren und die Umwelt zueinander und wie wirken Beziehungen zwischen den Institutionen "zu Hause" und in den Kolonien? War neben der ökonomischen Offenheit insbesondere auch die Aufgeschlossenheit für Ideen und deren produktive Umsetzung bedeutsam? Die Laudatio auf O'Briens und seine Arbeiten in Bezug auf die diskutierten Fragen nimmt Gianni Tonioli vor.
Die präsentierten Ergebnisse können manchen Leser auf den ersten Blick aber auch etwas ratlos zurücklassen: Gegenüber einer ähnlich angelegten Analyse, nämlich der Erklärung des "European Miracle" durch Eric Jones, wurde von prominenter Seite eingewandt, dass es sich bei solch multi-kausalen Erklärungen um einen Schrotflinten-Ansatz handele: Wie bei einem Schrotschuss werden viele Faktoren als relevante Erklärungsbeiträge identifiziert, aber letztlich bleibt unklar, welches Schrotpartikel den Vogel erlegte, also welcher Erklärungsfaktor letztlich entscheidend war. Doch dieses Problem bleibt unlösbar, wenn es - wie hier - um den "Referenzfall" geht. Darauf weisen die Autoren ausdrücklich hin.
Die herausragende Stärke des angenehm lesbaren Werkes liegt darin, dass explizit und pointiert die "richtigen" Fragen gestellt und dann abgewogen diskutiert werden, auch durch die Einbeziehung andere Meinungen. Jeder der Fachbeiträge zeichnet sich durch ein klares Ergebnis dahingehend aus, dass der jeweils diskutierte Einflussfaktor, zusammen mit den in den übrigen Beiträgen diskutierten anderen Faktoren, als mitverantwortlich für den Aufstieg Britanniens zur Hegemonialmacht identifiziert wurde: Im Fall "Britannien" passte sozusagen alles ideal und jederzeit zusammen, beziehungsweise zur richtigen Zeit wurden die richtigen Entwicklungen veranlasst und gefördert.
Helmut Braun