Clemens Jabloner / Brigitte Bailer-Galanda / Eva Blimlinger u.a.: Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Zusammenfassungen und Einschätzungen (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historiker-Kommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich; Bd. 1), München: Oldenbourg 2003, 517 S., ISBN 978-3-486-56744-1, EUR 29,80
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Wolfgang Form / Oliver Uthe (Hgg.): NS-Justiz in Österreich. Lage- und Reiseberichte 1938-1945, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2004
Eleonore Lappin-Eppel: Ungarisch-Jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45. Arbeitseinsatz - Todesmärsche - Folgen, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2010
Gregor Spuhler / Ursina Jud / Peter Melichar / Daniel Wildmann: "Arisierungen" in Österreich und ihre Bezüge zur Schweiz, Zürich: Chronos Verlag 2002
Eberhard Czichon: Deutsche Bank - Macht - Politik. Faschismus, Krieg und Bundesrepublik, Köln: PapyRossa 2001
Henning Kahmann: Die Bankiers von Jacquier & Securius 1933-1945. Eine rechtshistorische Fallstudie zur "Arisierung" eines Berliner Bankhauses, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2002
Peter Melichar: Neuordnung im Bankwesen. Die NS-Massnahmen und die Problematik der Restitution, München: Oldenbourg 2004
Glückliches Österreich? Bis zum Ende der 1980er-Jahre waren im Nachkriegsösterreich große Teile der Öffentlichkeit der politischen Parteien sowie Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Medien nur allzu gerne bereit, der These zu folgen, dass die Republik Österreich 1938 von Hitlers Truppen überfallen und in das "Großdeutsche Reich" inkorporiert worden sei. Die alte Republik Österreich sei dadurch aufgelöst worden und habe bis 1945 nicht existiert, weshalb ihr Untaten des NS-Regimes nicht zuzurechnen seien. Völkerrechtlich habe es sich um eine Okkupation gehandelt, der nicht nur ein selbstständiges Staatswesen zum Opfer gefallen sei, sondern die auch souveräne Staatsorgane beseitigt habe. Erst im Zuge der Diskussion über die politischen Mechanismen und die wirtschaftlichen Dimensionen der NS-Expansionspolitik in Europa seit 1938, die Mitte der 1990er-Jahre einsetzte, wurde auch die "Opferthese" in Österreich selbst zunehmend in Frage gestellt. Immer lauter waren die Stimmen zu vernehmen, die in der "Opferthese" einen "bedenklichen innenpolitischen und moralischen Fehlschluss" (18) sahen, da sie von den tatsächlichen Opfern des NS-Regimes in Österreich ablenkte, wie in der Einleitung zum nun vorliegenden Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich zurecht hervorgehoben wird. Hinzu trat seit Mitte der 1990er-Jahre ein wachsender Druck durch die internationale Öffentlichkeit, die eine rasche Entschädigung für die noch lebenden Opfer des NS-Regimes forderte. Diesem Druck konnte sich die Republik ebenso wenig entziehen wie andere Länder in Europa. Mit Beschluss vom 1. Oktober 1998 wurde von der Bundesregierung der Republik Österreich eine weisungsfreie und unabhängige Historikerkommission eingerichtet, deren Aufgabe es sein sollte, "den gesamten Komplex Vermögensentzug auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich während der NS-Zeit sowie Rückstellungen bzw. Entschädigungen [...] der Republik Österreich ab 1945" zu erforschen (19). Finanziert durch Mittel der Republik Österreich und koordiniert durch ein eigenes Sekretariat begannen 160 Forscherinnen und Forscher in 47 Projekten damit, die verschiedenen Aspekte, Mechanismen und Folgen des Vermögensentzuges auf der einen und der Restitutionen und Wiedergutmachung auf der anderen Seite zu durchleuchten.
Nach mehr als vierjähriger intensiver Forschungsarbeit kann die Historikerkommission nun ihren Schlussbericht vorlegen, in dem summarisch die einzelnen Projektergebnisse vorgestellt und in einem gesonderten Schlussteil bewertet werden. Die hier präsentierte Forschungsleistung ist in der Tat imposant: Nach einer längeren Einleitung zur Genese der Historikerkommission werden im zweiten Teil des Schlussberichts die Ergebnisse aus den Projekten vorgestellt, in denen die Dimensionen des Vermögensentzuges Gegenstand der Forschung waren. Im Zentrum der hier skizzierten Forschungsergebnisse stehen die verschiedenen Aspekte und die Dimensionen der "Arisierung" in Österreich. In komprimierter, aber gut verständlicher und lesbarer Form werden die Ergebnisse aus den einzelnen Projekten zu diesem Themenkomplex zusammengefasst, sodass man einen anschaulichen Eindruck von den Etappen und Mechanismen des "Arisierungsprozesses" in Österreich erhält. Lobenswert ist zudem, dass sich die Historikerkommission durchaus der Herausforderung stellt, die verschiedenen Aspekte des Vermögensentzuges an den Juden in Österreich zu quantifizieren. Auch wenn sich aufgrund nicht immer vorhandener ausreichender Daten keine exakte Summe dessen errechnen lässt, was den Juden vor ihrer Auswanderung oder ihrer physischen Vernichtung abgenommen wurde, so ist dies doch der erste Versuch, für ein gesamtes Land einen solchen Betrag zu rekonstruieren.
Weitere Projekte und weitere Unterkapitel dieses großen Abschnitts behandeln den Vermögensentzug und die Entrechtung der Sinti und Roma, der Tschechen, Kroaten und Ungarn, aber auch von Regimegegnern. Bemerkenswert ist es, dass die Frage thematisiert wird, wie viel die österreichische und / oder die reichsdeutsche Industrie vom Einsatz von Zwangsarbeitern in Österreich profitiert hat. Auch hier wird versucht, einen konkreten Betrag zu präsentieren. Schließlich werden in einem gesonderten Abschnitt und quer durch alle Gruppen von Verfolgten und Regimegegnern Ergebnisse zu der Frage vorgelegt, in welchem Ausmaß sich das NS-Regime und seine Platzhalter in Österreich am Vermögen von Vereinen, Fonds oder Stiftungen bereicherte, und wie die Mechanismen dieser Bereicherung verliefen. Gerade diese Frage ist von der Forschung vergleichsweise wenig behandelt worden, sodass hier bedrückende und in ihren Dimensionen bisher nicht bekannte Zahlen genannt werden.
Die Abschnitte drei und vier des Schlussberichtes behandeln die einzelnen Probleme, die sich aus der Entschädigung und Restitution, in Österreich "Rückstellung", ergaben. Punkt drei fasst die Rückstellungsgesetzgebung und -praxis bis zum Staatsvertrag in Österreich im Jahr 1955 zusammen, Punkt vier beleuchtet die gleiche Thematik nach dem Staatsvertrag. Hier geht es weniger um eine genaue quantitative Analyse, sondern eher um eine Darstellung der rechtlichen Grundlagen für die Rückstellung und ihre Anwendbarkeit in der Praxis. Die Diskussion oftmals komplexer juristischer Sachverhalte wirkt für den Laien etwas ermüdend. Als Essenz gilt es jedoch festzuhalten, wie schwer man sich in Österreich angesichts der dominierenden "Opferthese" damit tat, eine großzügige Rückstellungspraxis zu sanktionieren. Gleichwohl ist zu betonen, dass Österreich bereits lange vor der öffentlichen Debatte um Entschädigung auf der völkerrechtlichen Grundlage des Staatsvertrags Rückstellungen geleistet hat.
Der fünfte und letzte Teil des Schlussberichtes behandelt die Probleme, mit denen sich Opfer und Geschädigte des NS-Regimes konfrontiert sahen, wieder in ihre alten Rechte eingesetzt zu werden. Sehr anschaulich werden die einzelnen Etappen vorgeführt, in denen zum Beispiel überlebende Geschädigte des NS-Regimes und Verfolgte wieder ihre österreichische Staatsbürgerschaft zurück erlangen konnten - ein ausgesprochen langwieriges Verfahren. Ähnliches ist zu konstatieren, wenn es um Probleme bei der Inanspruchnahme von sozialversicherungsrechtlichen Leistungen ging oder um die Regelung steuerrechtlicher Fragen. Ein abschließendes Kapitel zur Rückgabe von Kunstgegenständen beendet diesen Abschnitt.
Mit ihrem Schlussbericht kann die Historikerkommission einen eindrucksvollen Beweis ihrer intensiven Forschungstätigkeit vorlegen. Sie konnte viele offene Fragen zur Verfolgung, Entrechtung und schließlich Vernichtung von Juden, nationalen Minderheiten und Regimegegnern in Österreich beantworten, auch wenn sich nicht alle Details klären ließen. Zudem gelang es ihr, die Probleme und die einzelnen Etappen bei der Rückstellung und der Entschädigung darzulegen. Abgesehen von der Schweiz hat bisher kein Land ein solches, an den Kriterien der modernen Wirtschafts- und Sozialgeschichte ausgerichtetes Großprojekt zur Barbarei des NS-Regimes durchgeführt. Kaum ein Land kann daher auf ein derart dichtes Netz neuer Forschungsergebnisse zurückgreifen, die sicherlich zu einer Versachlichung der Debatte über die Dimensionen des Vermögensentzuges und der Entrechtung durch das NS-Regime führen werden. Dies ist ein großes Verdienst der österreichischen Historikerkommission. Deutschland als der Ursprung, Auslöser und mit ungeheurem Abstand größte Profiteur des NS-Regimes kann nicht auf eine solche Forschungsleistung blicken. Dies ist beschämend. Trotz aller Anstrengungen der letzten Jahre geschieht hier die Forschung zum Nationalsozialismus weiterhin parzelliert und unkoordiniert, wobei zentrale Aspekte zur Wirtschaftsgeschichte des Regimes weiterhin gar nicht oder unzureichend behandelt werden, wie zum Beispiel die Dimensionen und Mechanismen bei der Ausbeutung der besetzten Gebiete. Erst wenn man in Deutschland eine Ergebnisdichte wie in Österreich oder etwa der Schweiz vorlegen kann, lässt sich konstatieren, dass viele offene Fragen zur Geschichte des Nationalsozialismus geklärt sind. Vielleicht braucht auch Deutschland eine staatlich initiierte und zentral koordinierte Historikerkommission, um dieses Ziel zu erreichen. Österreich und auch die Schweiz weisen dabei den Weg. Es ist die Aufgabe der Historiker in Deutschland dafür zu sorgen, dass er beschritten wird.
Harald Wixforth