Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart (= Beck'sche Reihe; 1543), München: C.H.Beck 2003, 293 S., ISBN 978-3-406-49472-7, EUR 14,90
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Geschichtsfreunden aller Art, ob Berufshistorikern, Studentinnen und Studenten oder allgemeinen Leserinnen und Lesern, hat Lutz Raphael einen großen Dienst erwiesen. In wesentlichen Punkten unterscheidet sich dieser großartige historiografische Überblick von herkömmlichen Geschichten der Geschichtsschreibung, die sich hauptsächlich an einzelne Historiker oder Historikergruppen richten. Hier geht es vor allem darum, die institutionellen und namentlich die politischen Rahmenbedingungen der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts zu umreißen. Dabei ist die Reichweite des Überblicks - und das ist ein weiterer wesentlicher Unterschied - wahrlich global.
Die Ursprünge des Buches gehen zurück auf eine Universitätsvorlesung in Trier, die eine studentische Aufforderung zu einer Veröffentlichung mit sich brachte. Gründe für die positive Aufnahme der Vorlesung sind auf jeder Seite des Buches in der Klarheit der Ausführungen und der Zugänglichkeit der Analyse zu finden, die umso bewundernswerter wirken, als der Überblick eine gewaltige Masse von Literatur sammelt und organisiert. Gleich dem Titel, lehnt sich die narrative Gliederung des Buches an das von Eric Hobsbawm entworfene Bild des 20. Jahrhunderts an, in dem die Krisen sowohl des imperialen Nationalstaates als auch des Kommunismus die Hauptthemen ausmachen. Für Raphael liegt aber das Interesse vor allem darin, die Auswirkungen dieser Krisen auf die Geschichtsschreibung rund um die Welt darzustellen. Dabei wird die Analyse sowohl narrativ als auch thematisch organisiert und von rezensionsähnlichen "Beispielen" führender Arbeiten illustrativ begleitet, wie etwa Edward P. Thompsons "Making of the English Working Class" und Eugene Genoveses "Roll, Jordan, Roll" in einem Kapitel über die marxistische Geschichtswissenschaft.
Am Anfang werden die Grundlagen der modernen Geschichtswissenschaft in den europäischen Nationalstaaten am Vorabend des 20. Jahrhunderts untersucht. Das "europäische Wissenschaftsmodell" (25) wurde in diesem Zeitraum in den europäischen Universitäten verankert, die nicht weniger als die Bibliotheken und Archive, die zu den institutionellen Fundamenten der Geschichtswissenschaft gehörten, öffentliche, vom Nationalstaat abhängige Anstalten darstellten. Im Sog dieser Abhängigkeit gestalteten sich die "kollektiven Einstellungen, institutionellen Regelungen und Forschungsansätze", die Raphael, Pierre Bourdieu folgend, als nationale Berufsfelder oder "Historikerfelder" bezeichnet (17). Diese Felder waren durch eine "'Osmose' zwischen Geschichtskultur und Geschichtswissenschaft im Zeichen des Nationalen" (247) charakterisiert. Die Geschichte wurde folglich in Vergangenheitspolitik umgewandelt, als sich die Geschichtswissenschaft unter staatlicher Forderung und Aufsicht im Dienste der nationalen Sinnstiftung einspannen ließ. Die Internationalisierung der Geschichtswissenschaft, die auch eines der Hauptthemen des Bandes bildet, lässt sich dann im Verlauf des 20. Jahrhunderts als die Übertragung dieses Wissenschaftsmodells in die Länder verfolgen, die einst die Kolonialreiche der europäischen Mächte bildeten.
Die Kraft der "Osmose" blieb eine Konstante des 20. Jahrhunderts. Schon vor dem Ersten Weltkrieg reichte sie aus, um Versuche einer Öffnung der Geschichtsschreibung zu blockieren, die etwa die integrierende Ausrichtung des Faches nach angrenzenden Disziplinen, wie die Soziologie, oder die erweiterte Fragestellung nach den sozialen, ökonomischen oder kulturellen Grundlagen der Politik erstrebte. In der Zwischenkriegzeit wurde das nationale Moment aber vielerorts unter autoritärer staatlicher Kontrolle übersteigert, auch wenn die Betonung der ethnischen oder rassistischen Grundlagen der Politik durch Historiker in Mittel- und Osteuropa und Japan auf ein dem Staat übergeordnetes Erklärungsmuster hinwies.
Der narrative Angelpunkt in Raphaels Darstellung liegt, wie bei Hobsbawm auch, im Zeitraum zwischen 1945 und 1989. Diese Epoche, die in Europa anfänglich von der Krise des Nationalstaates überschattet war, wurde historiografisch vor allem durch die Karriere der Sozialgeschichte geprägt. Als entsprechendes Vorspiel nimmt der Verfasser die Frühgeschichte der "Annales-Tradition" in den Blick, die er als einen zunächst in einer Universität und einer Zeitschrift verwurzelten "Denkstil" analysiert. Schon in der Zwischenkriegszeit konnten die Annales-Historiker aber die früher gescheiterte Öffnung der Geschichtswissenschaft über das Nationalpolitische hinaus vollziehen, bevor sich ihr Einfluss nach 1945 weit über die französische Grenze ausbreitete. Der zweite Hauptpfeiler der Sozialgeschichte nach 1945, so Raphael, war der Marxismus, dessen Vorgeschichte auch bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nachgezeichnet wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkte der Marxismus in mehreren und vielfältigen Variationen fort. Im Ostblock wurde er in einer staatlich beziehungsweise parteilich gegängelten Form gepflegt, die Raphael eine "Sackgasse" nennt. Im Westen aber florierte er nicht nur in lockerer und fruchtbarer Form, sondern wirkte auch als eine der mehreren Grundlagen von Modernisierungstheorien, die sich sowohl im Westen als auch in den Ländern der Dritten Welt einer großen Popularität erfreuten.
Gefördert von den großen politischen und sozialen Umbrüchen der Nachkriegszeit - unter anderem Demokratisierung, Dekolonisierung und Ausbau der Universitäten -, erreichte die Sozialgeschichte in den 1960er- und 1970er-Jahren ihren wirkungsgeschichtlichen Höhepunkt. Auch die Geistesgeschichte und die Geschichte der internationalen Beziehungen, die zwei Linien der Geschichtsschreibung, die am nachhaltigsten die Traditionen der nationalpolitischen Historiografie pflegten, gerieten unter den Einfluss sozialgeschichtlicher Fragestellungen, wenn es sich etwa um die innenpolitischen Wurzeln der Außenpolitik oder um die Geschichte des europäischen und nordamerikanischen Imperialismus handelte, die zunehmend in die Geschichte der Dekolonisierung mündete.
Trotzdem waren auch in dieser Epoche die Zeichen der Fragmentierung der Sozialgeschichte unübersehbar. Wie Raphael zeigt, fehlte der Sozialgeschichte eine einheitliche und integrierende Theorie, die dem wachsenden historiografischen Pluralismus standhalten konnte, der wiederum die studentischen Unruhen und Politisierung der Universität sowie auch den sozialen Wandel im historischen Beruf und den zunehmenden Einfluss der Medien als alternative Formen der Geschichtsdarstellung begleitete. Schon in den 1980er-Jahren erhoben die historische Anthropologie und die "neue" Kulturgeschichte ihre Ansprüche, mindestens als gleichberechtigte Schwester in der "Familie Sozialgeschichte" zu gelten. Wie schon die Entwicklung der Annales-Tradition verdeutlichte, waren die Grenzen zur Kulturgeschichte stets fließend, wenn es um die Sozialgeschichte der Ideen ging. Vorangetrieben aber vom Zusammenbruch des osteuropäischen Marxismus, wurden die Akzente zunehmend auf die Geschichte der Mentalités, der Volkskultur und auf das Problem der "Alterität" gesetzt. Dabei sorgten der kulturelle Relativismus und die hitzigen Debatten über die Rolle der Sprache in der historischen Wahrnehmung des "Anderen" für die methodologischen Unruhen, die man nun mit dem Postmodernismus assoziiert. Raphael kann aber auch mit Recht betonen, dass die neuen methodologischen Streitigkeiten im Grunde die alten Debatten über den Historismus im ausgehenden 19. Jahrhundert nachvollzogen. Der Niederschlag dieser neuen Ansätze lässt sich wohl vor allem in der Geschlechtergeschichte, in der neuen Nationalismusforschung und paradoxerweise auch in der wachsenden Internationalisierung des geschichtswissenschaftlichen Diskurses spüren, die das Hauptthema auch des frühen 21. Jahrhundert bildet.
Die historiografischen Wandlungen, deren Geschichte in diesem Buch untersucht werden, lassen sich, wie Raphael überzeugend argumentiert, nicht als eine Folgenreihe von "Paradigmen" analysieren, weil der Einfluss der außerwissenschaftlichen Faktoren erheblich größer war als in den Naturwissenschaften. "Die Geschichte der Kontroversen", schreibt er, muss "auch als Geschichte der Konflikte um die Aneignung von Ressourcen, von Macht und Einfluss im Fach analysiert werden" (16). In dieser Geschichte handelte es sich aber auch, wie das Buch schön zeigt, um Konflikte um Deutungsmuster, die den gewaltigen Umbrüchen des Jahrhunderts einen historischen Sinn verleihen konnten. Wenn man überhaupt von einem "einheitsstiftenden Element" in der historischen Entwicklung des Faches im 20. Jahrhundert reden kann, so ist es schließlich das Ideal einer "gemeinsamen Methodik", die Übereinstimmung über die Regeln der Erzeugung von "wissenschaftlichen 'Tatsachen'" (21). Dass sich auf Grundlage dieser Übereinstimmung eine atemberaubende Vielfalt an Theorien, Ansätzen und Methoden historisch entwickeln konnte, ist der so plastisch wie überzeugend dargelegte Schluss dieses Buches.
Roger Chickering