Lutz Raphael: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914-1945 (= C.H.Beck Geschichte Europas; 1987), München: C.H.Beck 2011, 319 S., mit 4 Abb., 4 Karten und 1 Grafik, ISBN 978-3-406-62352-3, EUR 14,95
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Lutz Raphaels Monographie zur europäischen Geschichte im Zeitalter der Weltkriege beginnt mit einem einleitenden Überblick über Europa um 1900 als dem politischen und wirtschaftlichen Machtzentrum der Welt. Sie endet mit einer resümierenden Betrachtung des Kontinents im Jahre 1947, als es offenkundig wurde, "dass Europa nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Platz als Macht- und Wirtschaftszentrum der Welt endgültig räumen musste" (297). Sechs größere Abschnitte gliedern den Hauptteil. Sie befassen sich mit dem Ersten Weltkrieg, den Chancen und Problemen von Demokratie und Nationalstaat in der Zwischenkriegszeit, den gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen und Ordnungsentwürfen der ersten Jahrhunderthälfte, der Weltwirtschaftskrise als Wetterscheide, dem Aufstieg der Diktaturen und ihren radikalen Neuordnungsmodellen, schließlich dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen. Dabei dienen die ineinander verwobenen Leitbegriffe von Imperium und Nation als zwei zentrale Schneisen der Darstellung, die im übrigen erfolgreich darum bemüht ist, die Geschichte von Weltkriegen und Zwischenkriegszeit in sozialgeschichtliche Perspektiven einzubetten, die bis in die 1880er Jahre zurück- und auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart vorausweisen.
Raphaels Zugriff auf die Thematik erfolgt gleichermaßen konsequent sozial- und strukturgeschichtlich wie gesamteuropäisch. Darin überzeugt das Buch ebenso wie in seiner aktuelle Forschungsinteressen aufgreifenden besonderen Berücksichtigung der Staaten und Gesellschaften Ostmittel- und Südosteuropas sowie des Stellenwerts der Kolonien und Mandatsgebiete in ihren Verflechtungen mit den europäischen Mächten. Die vergleichende Analyse von verfassungspolitischen Systemen und Entwicklungen, von demographischen, sozioökonomischen oder religiösen Trends, von Wandlungen in Kultur und Alltagsleben, von Parteienlandschaften oder Nationalitätenkonflikten geht dabei stets regional differenzierend vor und führt zu treffenden Urteilen und plausiblen, mitunter überraschenden Einsichten.
So verdeutlicht Raphael, wie die historischen Phänomene des Nationalismus und des Nationalstaats, die "'Nationalisierung' der Gesellschaften", erst im 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichten, und "dass in einer europäischen Perspektive der Durchbruch der Nation zum primären politischen und kulturellen Bezugspunkt für die wirtschaftlichen und sozialen Ordnungen erst zwischen 1910 und 1945 erfolgte" (17). Tatsächlich habe im Gefolge der Massenmorde und Bevölkerungsverschiebungen der Weltkriege erst nach 1945 für einige Jahrzehnte "in ganz Europa eine Periode nationalgesellschaftlicher und nationalkultureller Homogenität" eingesetzt, "die außergewöhnlich ist" (295). In diesen Kontext verortet Raphael die Bemühungen demokratischer wie autoritärer Regime besonders in Ostmitteleuropa um die sprachliche und kulturelle Kohärenz und Dominanz der jeweiligen Titularnationen, die mit der Vertreibung, Ausgrenzung oder Assimilierung von Minderheiten ebenso verbunden war wie mit zwischenstaatlichen Konflikten sowie mit Übergriffen oder gar pogromartigen Massakern gegen die jüdischen Bevölkerungsteile. Raphael spricht geradezu von einer "Geographie der großen antisemitischen Brandherde" (120), die im später deutsch beherrschten Europa "einen günstigen Nährboden für die Deportation, Ghettoisierung und Ermordung der Juden" (249) schufen.
Eine Grundfrage jeder Darstellung der europäischen Zwischenkriegszeit ist die nach der Stabilität und den Erfolgsaussichten der liberal-demokratischen Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg. Während Raphael die Ergebnisse der Pariser Vorortverträge insgesamt eher kritisch betrachtet und über die damit verbundenen Chancen nicht spricht - die Einbeziehung und Analyse der internationalen Beziehungen zählt allerdings ohnehin nicht zu den Stärken seines Buches -, sieht er die demokratischen Nationalstaaten Europas nach 1918 keineswegs zum Scheitern verurteilt. In einem wichtigen Abschnitt über die "Stabilitätszonen der Demokratien" (122-130) legt er dar, dass auch die vielen neuen nationalen Demokratien nicht chancenlos waren; sie hätten lediglich "mehr Zeit und stabilere wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen" benötigt, "als sie in vielen Ländern Europas in den 1920er und 1930er Jahren zu finden waren" (130). Erst die Weltwirtschaftskrise habe einer bis 1929 zu beobachtenden umfassenden Erholung und Normalisierung die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen entzogen.
Diese Krise erweist sich erst im Rückblick als "Wetterscheide" der europäischen Geschichte: Es handelte sich zunächst "um eine Belastungsprobe mit offenem Ausgang" (184 f.). Jedenfalls lasse sich "in vergleichender europäischer Perspektive [...] kein Modell finden, dass [!] zufriedenstellend alle Fälle von Erfolg oder Scheitern der Demokratien erklären könnte". Raphael verweist stattdessen zutreffend auf "das Gewicht der situativen Faktoren, die in der politischen Ereignisgeschichte eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen": "An dieser Stelle führt kein Weg an der Detailanalyse der politischen Geschichte jedes europäischen Landes vorbei" (124 f., vgl. auch 192) - ein bemerkenswertes Zugeständnis an die Erklärungskraft einer politisch akzentuierten Ereignisgeschichte in einer dezidiert sozial- und strukturgeschichtlich argumentierenden Darstellung, die in der Frage des Scheiterns demokratischer Ordnungsmodelle angesichts der Herausforderung durch autoritäre und totalitäre Herrschaft an Grenzen ihrer Erkenntnismöglichkeiten gerät.
Eine Detailanalyse der politischen Geschichte kann Raphael im vorgegebenen Rahmen nicht liefern. Er bietet aber hervorragende knappe Strukturanalysen der faschistischen Herrschaft in Italien, der nationalsozialistischen Diktatur im Deutschen Reich und des kommunistischen Systems in der Sowjetunion Stalins (196-222), die in ihrer sprachlichen und inhaltlichen Dichte und Komplexität ebenso zu überzeugen vermögen wie seine Porträts der europäischen Kriegsgesellschaften in den Jahren des Zweiten Weltkriegs (250-270). Dabei spricht Raphael durchweg in einem Atemzug von der "imperialistische[n] Gewaltherrschaft des Deutschen Reiches, Italiens und der Sowjetunion" (267), von den "drei modernen Diktaturen" (145), ohne indes wesentliche Unterschiede zu verwischen: Gesellschaftspolitisch etwa sei der Nationalsozialismus mit seiner klassenübergreifenden Integrationspolitik weitaus erfolgreicher gewesen als der Faschismus, der weder der Industrie- noch der Landarbeiterschaft etwas zu bieten gehabt und letztlich die soziale Ungleichheit in Italien zementiert habe; allein der kommunistischen Diktatur sei es gelungen, sämtliche traditionellen gesellschaftlichen Strukturen und Bindungen aufzulösen.
Beachtlich ist der illusionslose Blick, den Raphael auf die umfassende Vernichtungspolitik als Wesensmerkmal der Sowjetunion wirft. Während des Zweiten Weltkriegs seien sich Nationalsozialismus und Stalinismus "in Hinblick auf Gewalttätigkeit, Terror und ideologische Mobilisierung" ähnlicher geworden, ja es sei das NS-Regime gewesen, "welches sich radikalisierte und in seinem imperialen Eroberungskrieg Machttechniken [so im Text; gemeint sind wohl eher Techniken der Gewaltausübung, R. B.] nutzte, die bereits vor 1939 vom stalinistischen Regime im Kampf gegen die inneren Feinde angewandt worden waren": "Deportationen, Erschießungen und Inhaftierung ganzer Bevölkerungsgruppen" (230). Hier haben Vergleiche und die Suche nach wechselseitigen Beeinflussungen zwischen den totalitären Weltanschauungsdiktaturen Eingang in eine wissenschaftliche Synthese gefunden, die noch vor wenigen Jahren von nicht unbeträchtlichen Teilen von Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit empört zurückgewiesen wurden.
Insgesamt handelt es sich bei Lutz Raphaels Darstellung der europäischen Geschichte im Zeitalter der Weltkriege um ein gelungenes Werk, das in der Strukturierung der ungeheuren Stoffmasse zu dieser vielfach behandelten und bis in feinste Verästelungen erforschten Epoche ebenso wie in seinen Wertungen und Interpretationsangeboten zu überzeugen vermag, eine Vielfalt von Perspektiven bündelt und neue eröffnet.
Rainer Behring