Thomas Flemming: Gustav W. Heinemann. Ein deutscher Citoyen. Biographie, Essen: Klartext 2014, 558 S., 40 s/w-Abb., ISBN 978-3-8375-0950-2, EUR 24,95
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Thomas Flemmings im Jahr 2012 von der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Duisburg-Essen als Dissertation angenommene Biographie Gustav W. Heinemanns bietet eine konventionelle Lebensbeschreibung. Ohne sich mit Fragestellungen, Forschungsproblemen oder methodischen Aspekten aufzuhalten, kommt der Verfasser nach einer gut zwei Seiten umfassenden "Einleitung" ohne Umschweife zur Sache und lässt seinen Protagonisten zur Welt kommen (12). Auf rund 450 Seiten werden im Folgenden ohne erkennbare Schwerpunktsetzung "Herkunft und frühe Erfahrungen" Heinemanns sowie insbesondere der Lebenslauf seines Vaters, die "Gründung einer bürgerlichen Existenz", Heinemanns Wirken in der Bekennenden Kirche und seine Karriere als Industriemanager mit juristischem Aufgabenfeld bei den Rheinischen Stahlwerken während der Herrschaft des Nationalsozialismus, ferner seine Arbeit als Kommunalpolitiker in Essen in der Nachkriegszeit abgehandelt. Weiter geht es mit Heinemann als Innenminister im ersten Kabinett Adenauer, seinem Engagement gegen Wiederbewaffnung, Westbindung und Atomrüstung, seiner Tätigkeit als Sozialdemokrat seit 1957 und schließlich seiner Amtszeit als Bundespräsident. Das Leitmotiv der Ausführungen soll Heinemanns Lebensweg "als spezifische Ausprägung bürgerlicher Existenz in Deutschland im 20. Jahrhundert" (11) bilden. Gelegentlich kommt Flemming auf diesen Gedanken zurück.
Der geduldige Leser erfährt vieles in diesem zitatenreichen Buch, das als eine Art Tatsachenbericht daherkommt, und er wird nach der Lektüre mehr über Heinemann wissen als vorher. Das gilt etwa für Heinemanns Haltung im Dritten Reich, als er kompromisslosen, streng sektoral begrenzten "abwehrenden Widerstand" (135) gegen die kirchenfeindliche Politik der Nationalsozialisten mit einer bedenkenlosen, erfolgreichen und einträglichen beruflichen Karriere in den wehrwirtschaftlich bedeutenden Rheinischen Stahlwerken verband, die vorwiegend in der Kohleförderung engagiert waren. Wilhelm Röpke, Heinemanns Freund aus Studienzeiten und vor den Nationalsozialisten ins Exil geflüchtet, hielt dem Laienprediger der Bekennenden Kirche mehrfach dessen politische Indifferenz vor; Heinemann indes signierte noch 1944 Geschäftsbriefe mit "Heil Hitler!" (152). Heinemanns Regimenähe wird in Flemmings Darstellung offenkundig, auch wenn der Verfasser mitunter eher abwiegelnd argumentiert (vgl. etwa 99f.). Der strikt theologisch orientierte Heinemann habe "dem NS-Regime als 'Obrigkeit' [...] bis in die letzte Kriegsphase eine gewisse Legitimität" zugebilligt (449). Insofern scheinen Reflexionen über den Bruch in Heinemanns politischer Vita 1945 angebracht, die Flemming vermeidet. Stattdessen vernimmt man mit Erstaunen, Heinemann habe sich im April 1945 (!) "keinerlei Illusionen mehr" über den Ausgang des Krieges gemacht.
Der Verfasser wählt einen additiven, kaleidoskopartigen Zugriff ohne durchgreifende interpretatorische Schneisen. Eigene Urteile scheut er; nur selten stößt man auf Einschätzungen wie die, Heinemanns Wirken als Bundesminister der Justiz im Kabinett der Großen Koalition von 1966 bis 1969 sei "außerordentlich fruchtbar" gewesen (381). Flemmings unangemessen knappe Darstellung von Heinemanns Zeit als Bundespräsident ist schlicht belanglos. Die eher journalistisch-deskriptive statt analytische Machart des Buches verbindet sich mit leichter Lesbarkeit, entgeht aber nicht der Gefahr sprachlicher Nachlässigkeiten. So wurde Heinemann vom "orthodoxen Patriarchen von Mosaku" in die Sowjetunion eingeladen, wo der Präses der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands auch "Vertreter stattlicher Stellen" traf (244), oder Flemming verzeichnet "ein gelungenes Beispiel für 'to aggree to disaggree' " (422). Zudem möchte man mitunter am Rand notieren: "Schreiben Sie bitte vollständige Sätze!" Sachliche Fehler oder Unstimmigkeiten gesellen sich hinzu: Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 hatte Heinemann angeblich "erstmals Gelegenheit, seiner politischen Überzeugung auch mit dem Stimmzettel Ausdruck zu verleihen" (43) - tatsächlich war er noch keine 20 Jahre alt; die Mitglieder der Nationalversammlung macht Flemming kurzerhand zu "Reichstagsabgeordneten" (49); Heinemann "trat der Deutschen Demokratischen Partei bei" (44) - in der entsprechenden Anmerkung heißt es, "dass Heinemann tatsächlich eingeschriebenes Mitglied der DDP war, ist nicht gesichert" (501, Anm. 105); schließlich kennt Flemming "zwei jüdische Lehrerinnen", die "als Getaufte Mitglieder der Freien Presbyterianer-Gemeinde" waren, und verweist ebenso umstands- wie gedankenlos auf "andere jüdische oder halbjüdische Gemeindemitglieder" der christlichen Presbyterianer (134).
Das mögen Quisquilien sein, und der Rezensent würde sich lieber mit wissenschaftlichen Auffassungen Flemmings auseinandersetzen. Doch damit ist das eigentliche Problem dieser Darstellung angesprochen: Flemming hat tatsächlich keine Fragen an seinen Gegenstand. Er entwickelt keine Haltung zu seinem Forschungsobjekt. Probleme der Interpretation, der Einordnung in einen wissenschaftlichen Kontext wirft er nicht auf. Kontroversen sieht er nicht, Stellungnahmen gibt er nicht ab, selbst die Anmerkungen seiner Dissertation bieten keine Hinweise auf eine Auseinandersetzung mit Forschungsproblemen. Es ist kein Zufall, dass Flemming zu Fragestellung, Intentionen seines Werkes und abweichenden Interpretationen keinerlei Auskunft erteilt und sich stattdessen mit einigen angehängten und wiederum rein additiven Hinweisen auf Forschungsstand und Quellenlage (454-459) sowie ein paar eklektischen, völlig inhalts- und beziehungslos hingeworfenen Bemerkungen "Zur historischen Gattung 'Biographie' " begnügt. Dieses Buch kommt zu keinen nennenswerten Aussagen, weil es keine Fragen stellt. "Es ist die Absicht eines jeden Biographen, möglichst viel Erhellendes über die Persönlichkeit, über Leben und Werk seines Protagonisten zu präsentieren" (462): Diese Anforderung an seine eigene Arbeit erfüllt Flemming gewiss leidlich. Den Kriterien einer wissenschaftlichen Dissertation entspricht das nur bedingt.
Rainer Behring