Johannes Bähr / Ralf Banken / Thomas Flemming: Die MAN. Eine deutsche Industriegeschichte, München: C.H.Beck 2008, 624 S., 77 Abb., ISBN 978-3-406-57762-8, EUR 38,00
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Thomas Flemming: Gustav W. Heinemann. Ein deutscher Citoyen. Biographie, Essen: Klartext 2014
Ralf Banken: Die Industrialisierung der Saarregion 1815-1914. Band 2: Take-Off-Phase und Hochindustrialisierung 1850-1914, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003
Johannes Bähr: Werner von Siemens 1816-1892. Eine Biografie, München: C.H.Beck 2016
Mit der vorliegenden Arbeit liegt erstmals eine wissenschaftliche Gesamtdarstellung zur MAN-Geschichte vor. Das ist doppelt erfreulich: Zum einen, weil dies ein Desiderat war und bislang lediglich traditionelle Firmengeschichten existieren, zum anderen, weil dieser wie auch vergleichbare Bände, etwa zur Geschichte von Krupp oder der BASF, signalisieren, dass Unternehmen auch über die Phase der Zwangsarbeiterdiskussion und der Unternehmensgeschichte des Nationalsozialismus hinaus bereit sind, auch weiterhin ihre Geschichte mit Hilfe von Fachwissenschaftlern erarbeiten zu lassen. Dass dies, so ließe sich drittens noch hinzufügen, nicht auf eine rein deskriptive Unternehmensdarstellung hinauslaufen muss, zeigt der Band ebenfalls, fragt er doch gezielt nach unternehmerischen Entscheidungen sowie nach zentralen ökonomischen, technischen und organisatorischen Weichenstellungen im Laufe der 250-jährigen Unternehmensgeschichte.
Um diese Fragen zu beantworten, wurden neben den Historischen Archiven der MAN in Augsburg und Nürnberg auch das Archiv der Gutehoffnungshütte (GHH) beim Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv in Köln sowie zahlreiche staatliche Archive und schließlich auch gedruckte Quellen und Fachliteratur ausgewertet.
Der mehr als 600 Seiten starke Band ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil widmet sich Ralf Banken der Entstehungsgeschichte der GHH von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Jahr 1920. Dieser weite Ausgriff ist deshalb relevant, weil die GHH 1921 die Mehrheit der Anteile an der MAN übernahm. Dabei geht es um die unternehmerischen Wurzeln des Konzerns in Form der drei Eisenhütten St. Antony, Gutehoffnung und Neu-Essen im Ruhrgebiet, die sukzessive Angliederung neuer Bereiche wie dem Schiffs- und Brückenbau sowie der Schienenproduktion und deren Ausbau zu einem gemischten Großunternehmen. Über die rein deskriptive Darstellung ist die Geschichte der GHH entsprechend der selbst gewählten Fragestellung vor allem da von Interesse, wo es um Weichenstellungen oder auch um den "Streit um den Unternehmenskurs" vor dem Ersten Weltkrieg geht (100ff.).
Dies gilt auch für die von Johannes Bähr verfasste Parallelgeschichte der MAN zwischen 1840 und 1920. Nach der Beschreibung der Anfänge der Unternehmen in Augsburg und Nürnberg sind es vor allem die strategischen Entscheidungen einzelner Akteure - etwa zum Bau des Dieselmotors (159ff.) oder die Reaktionen auf externe Herausforderungen und Krisen (119ff.) -, die aus unternehmenshistorischer Perspektive von besonderem Interesse sind. Das betrifft insbesondere auch den Zeitraum zwischen 1920 und 1960, für dessen Darstellung ebenfalls Johannes Bähr verantwortlich zeichnet. Hier - wie im übrigen für den gesamten Band - wird besonders deutlich, wie sich die spezifische Geschichte eines Unternehmens nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Kontexte und der neuesten unternehmenshistorischen Forschung angemessen darstellen lässt. Das zeigt etwa der Abschnitt zur NS-Geschichte. Ausführlich, gleichwohl nicht überproportional, dabei sehr differenziert und auf Grautöne achtend, widmet sich Bähr u.a. der Person Paul Reuschs, Vorstandsvorsitzender der GHH, und dessen Rolle beim Übergang zum Nationalsozialismus bis in die frühen vierziger Jahre hinein. Reusch, der der DNVP nahe stand, war zwar "kein Anhänger" der NSDAP, "aber er hatte eine Sympathie für sie" (263), und "mit seinen maßlosen Attacken gegen die Weimarer Demokratie hat er dazu beigetragen, den Nationalsozialisten den Weg an die Macht zu ebnen" (266). Die GHH profitierte fortan nicht nur von Rüstungsaufträgen im großen Stil, sie war auch Mitbegründerin der "Metallurgischen Forschungsgesellschaft" (Mefo), die schon frühzeitig die geheime Aufrüstung zu finanzieren half. Auf der anderen Seite zeichneten sich bereits 1933 massive Konflikte zwischen der MAN und der NSDAP ab, Paul Reusch wurde vom SD überwacht und schließlich sogar aus dem Vorstand des Unternehmens gedrängt. Hier zeigt Bähr sehr eindrucksvoll die Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz eines Großunternehmens bzw. -unternehmers zum Nationalsozialismus.
Es ist aus wirtschaftshistorischer Perspektive zunehmend üblich, bei der Periodisierung nicht mit dem Jahr 1945 eine Zäsur zu setzen, sondern den Untersuchungszeitraum bis zum "Ende der Nachkriegszeit" zu legen. Dies tut auch der vorliegende Band, indem er die Entflechtung des Konzerns und die erfolgreiche Rückkehr auf den Weltmarkt auf die Jahre um 1960 datiert und dann einen Einschnitt macht.
Im letzten Teil widmet sich dann Thomas Flemming der jüngsten Entwicklung des Konzerns, die geprägt war durch eine Akzentuierung im Bereich des Maschinen- und Fahrzeugbaus sowie durch einen grundlegenden Konzernumbau ab Mitte der sechziger Jahre. Und auch hier sind es Fragen nach der strategischen Ausrichtung des Unternehmens sowie nach Handlungsspielräumen und Entscheidungen der Akteure und entsprechenden Konflikten, die von besonderem Interesse sind; so etwa das Auftauchen der Allianz als Großaktionär Ende der sechziger Jahre, die dann in der Krise der frühen achtziger Jahre einen entscheidenden Einfluss auf die Neubesetzung des Vorstands in der Person Klaus Göttes hatte und damit auch auf eine grundsätzliche Neustrukturierung des Konzerns (445ff.) setzte.
Je mehr sich die MAN-Darstellung der Gegenwart nähert, und dies ist aus wissenschaftlicher Perspektive manchmal eine eher undankbare Aufgabe, so erscheint sie mehr und mehr im Stile einer klassischen Firmenerfolgsgeschichte. In der MAN-Darstellung zeigt sich dies beispielsweise daran, dass auf den abgedruckten Fotos zunehmend die Vorstandsvorsitzenden der letzten Jahre auftauchen und sich zum Ende schließlich auch der Hinweis findet, dass das Geschäftsjahr 2007 "das erfolgreichste der Unternehmensgeschichte" war (472). Andererseits: Erfolglose Unternehmen lassen auch keine Unternehmensgeschichten schreiben und schließlich ist es begrüßenswert, dass dies im Falle der MAN auf hohem unternehmenshistorischem Niveau geschieht.
Christian Kleinschmidt