Mary S. Hartman: The Household and the Making of History. A Subversive View of the Western Past, Cambridge: Cambridge University Press 2004, XI + 297 S., ISBN 978-0-521-53669-1, GBP 16,99
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Mit sehr großem aufklärerischen Impetus schickt sich Mary Hartman in diesem Band an, die Geschichte der europäischen Vormoderne umzuschreiben ("a radically altered approach to Western past", 5). Sie stützt sich bei diesem Unterfangen im Wesentlichen auf eine in den 1960er-Jahren von John Hajnal durchgeführte soziodemografische Untersuchung, die zum ersten Mal auf das spezifische Heiratsverhalten der nordwesteuropäischen Bevölkerung im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit aufmerksam gemacht hatte. Hajnal hatte zeigen können, dass Frauen in Nordwesteuropa durchschnittlich zehn Jahre später heirateten als ihre Geschlechtsgenossinnen in anderen Agrargesellschaften, die in der Regel zu Beginn der Pubertät verheiratet wurden. Das Heiratsalter der Männer variierte hingegen nicht ganz so stark zwischen Süd- und Nordwesteuropa (in der Regel Mitte bis Ende 20). Hajnals Studie ist zwar verschiedentlich rezipiert worden, nie jedoch in dem Ausmaß und der Konsequenz ausgedeutet worden, wie sie Hartman in diesem Buch vorführt. Unter anderem hatte sich Peter Laslett von Hajnals Arbeiten inspirieren lassen, er und die von ihm geleitete Cambridger Forschungsgruppe legten den Schwerpunkt auf die mit dem Heiratsalter unmittelbar korrelierende Größe der Familienverbände. Damit konnte Mitte der 1980er-Jahre gezeigt werden, dass es bereits vor dem Beginn der industriellen Revolution in Nordwesteuropa zur Ausbildung von Kleinfamilien mit vier bis sechs Familienmitgliedern gekommen war. Die Existenz dieses spezifischen Familienmodells konnte bis ins 13. Jahrhundert zurückgeführt werden. Ob und wann eine Entwicklung von einem Verhaltensmuster zum anderen stattgefunden hat, ließ sich aufgrund des dürftigen Quellenbestandes allerdings nicht verbindlich nachweisen.
In einem (für angloamerikanische Gender-Historikerinnen und -Historiker eher untypischen) Rückgriff auf die Familiengeschichte will Hartman zeigen, dass historischer Wandel sich nicht nur auf einer alles übergreifenden Makroebene abspielt und auf das Wirken einer (männlichen) gesellschaftlichen Elite zurückzuführen ist, sondern dass Konfigurationen der Familienverbände weitreichende geschichtliche Auswirkungen zeitigen. Sie übernimmt dazu die soziodemografischen Ergebnisse von Hajnal und Laslett, bevorzugt dabei aber eindeutig Hajnals Beobachtungen: Ihrer Meinung nach hatte nicht die Größe der Familie Auswirkungen über den unmittelbaren Familienverband hinaus (zumal die Kleinfamilien in der Regel durch außerfamiliäre Dienerschaft unterstützt wurden - und somit die Größe der Haushalte nur unwesentlich variierte), sondern das späte Heiratsalter der Frauen. Sie interpretiert dieses Verhalten als eine Anomalie, die ausschlaggebend war für eine (im Vergleich zum Rest der Welt) außergewöhnliche Entwicklung westlicher Geschichte. Wie schon Thomas Malthus im 18. Jahrhundert beobachten konnte, bewirkt ein allgemeines Herauszögern des Zeitpunkts der Eheschließung eine Reduktion des Bevölkerungswachstums. Hartman sieht darüber hinaus einen direkten Zusammenhang zwischen dem besonderen Heiratsverhalten und der zunehmenden Stärkung des Gemeinwesens in Nordwesteuropa aufgrund der Tatsache, dass Aufgaben, die in Gesellschaften mit frühem Heiratsalter von Familienverbänden übernommen wurden, in Gesellschaften mit spätem Heiratsalter von den zunehmend instabileren Haushalten an staatliche Institutionen delegiert wurden. Dies hatte auf lange Sicht die Stärkung staatlicher Strukturen zur Folge, ein Element, das in der historischen Debatte für die Ausdifferenzierung der westlichen Welt verantwortlich gemacht worden ist. Ebenso stellt sie die Entwicklung des kapitalistischen Systems und der Industrialisierung in eine Linie mit dem Wandel, der durch das außergewöhnliche Heiratsverhalten verursacht wurde.
Hartman argumentiert, dass Frauen in Nordwesteuropa (und Nordamerika), die später heirateten und damit über größere emotionale und ökonomische Unabhängigkeit verfügten als ihre in frühestem Alter verheirateten Geschlechtsgenossinnen, größere Mitbestimmungsrechte zuerkannt wurden. Bei frühem Heiratsalter entschied der Familienvorstand über die Verheiratung, die jungen Eheleute wurden in den Familienverband des Mannes aufgenommen, in dem ältere Verwandte den familiären Alltag dominierten. Bei einem späteren Heiratsalter waren die Eheleute hingegen selbst in die Partnerwahl involviert, die Frau hatte vor ihrer Eheschließung einen eigenen Beruf erlernen und ausüben können und durfte daher auch über die Reproduktion hinausgehende Funktionen übernehmen. Im ersten Fall wirkten Traditionsbewusstsein und konservatives Verhalten bestimmend, im letzteren waren zukunftsorientierte Strategien entscheidend. Unterschiedliches Heiratsverhalten hat ganz entscheidende Auswirkungen auf die Wertschätzung des weiblichen Geschlechts, was sich auch an den Überlebenschancen von Mädchen ablesen lässt. Hartman führt dazu nicht nur Beispiele aus der Frühen Neuzeit an, sondern vergleicht mit der Situation im heutigen China und Marokko, um zu zeigen, dass in Gesellschaften, in denen das durchschnittliche Heiratsalter von Frauen relativ hoch ist, die Rate an Vernachlässigung oder Tötung von Mädchen im Kindsalter sehr viel geringer ist.
Die Auswirkungen des späten Heiratsalters gehen aber noch darüber hinaus: Hartman leitet unterschiedliche geschichtliche Phänomene ab: die Hexenjagd, den Wandel von Moralvorstellungen und Versuche, Sexualverhalten zu kontrollieren. Auf Geschlechterrollen basierende soziale Hierarchien hingen unmittelbar vom Heiratsverhalten ab. Heirateten die Ehepartner früh, dann war die Ausdifferenzierung ihrer geschlechtlichen Rolle sehr groß, Frauen und Männern wurden zwei unterschiedliche Bereiche zugeschrieben, die sich nicht überschnitten, die weibliche Rolle war eindeutig durch die biologische Funktion der Frau festgeschrieben.
Im ausführlichen Vergleich zwischen der Situation im Dorf Montaillou im 14. Jahrhundert (mit frühem Heiratsalter) und im Ort Salem (Massachussetts) im 17. Jahrhundert (mit spätem Heiratsalter) stellt Hartman fest, dass in Montaillou die Frauen zwar offen diskriminiert wurden, in Salem aber, wo auch Frauen "Männerarbeit" übernehmen konnten, als Gefährtinnen und nicht mehr ausschließlich als Mütter betrachtet wurden, die weniger klare Geschlechterrollenverteilung zu sehr viel drastischeren Konsequenzen führte. Da die Männer im stark katharisch geprägten Montaillou die Macht im Familienverband behielten und sich durch ihre zumeist katholisch gebliebenen Frauen nicht bedroht fühlten, denunzierten sie diese nicht öffentlich. Auch in Salem, berüchtigt für die dort verübten Hexenverfolgungen, verloren die Männer ihre Vormachtstellung nie, doch wurden die Geschlechterrollen neu definiert, und die Männer schienen sich eher durch ihre Frauen bedroht zu fühlen. Selbst wenn Hartmans Argumentation auf die zwei angeführten Beispiele zu passen scheint, bleibt fraglich, ob die Rollenverteilung im südeuropäischen Raum stets und überall so eindeutig blieb wie im aus lediglich 45 Familienverbänden bestehenden Montaillou des 14. Jahrhunderts. Die gerade auch im südeuropäischen Kontext wurzelnde "Querelle des Femmes", die auf das Bedürfnis schließen lässt, geschlechtliche Identitäten immer wieder neu abzustecken, kann durch Hartmans Ansatz jedenfalls nicht erklärt werden.
Hartman hat einen Text verfasst, der fest in der angloamerikanischen Wissenschaftstradition verankert ist. Auf den ersten 33 Seiten (das heißt im Einleitungskapitel) werden bereits alle wichtigen Argumente vorweggenommen. Der Rest des Textes besteht aus einer sehr detaillierten Diskussion der bisher zum Thema (allerdings ausschließlich in englischer Sprache) publizierten Studien, in der Hartman stets eindeutig - zum Teil sehr polemisch, zum Teil aber auch eher langatmig bis redundant - Position zu bereits bestehenden Forschungsergebnissen und Hypothesen bezieht. Dabei erwähnt sie stets auch Gegenargumente und bemüht sich, diese zu entkräften. Es geht also nicht um die Analyse neuer Quellen, sondern um eine neue Interpretation von so bekannten Fällen wie der Katharerbewegung in Montaillou und der Hexenjagd in Salem. Die von Hartman angeführten Beispiele entstammen mit Ausnahme des Falles Montaillou zum Großteil aus dem angelsächsischen Bereich, wobei Hartman selbst andeutet, dass die von ihr beschriebenen Heiratsmodelle in Europa wohl nie in Reinform vorkamen. Studien zum skandinavischen Raum weisen bereits darauf hin, dass das Heiratsverhalten nicht unbedingt geografisch-kulturell gebunden, sondern offenbar eher ökonomischen Ursprungs war [1], und stellen damit die Hartmans Buch zugrunde liegende Abtrennung von Nordwesteuropa zumindest teilweise in Frage. Ob die Kausalitäten wirklich immer so klar zu bestimmen sind, wie Hartman es gerne hätte, wird dadurch ebenfalls fraglich. Die Unterscheidung zwischen Land- und Stadtbevölkerung und die Wechselbeziehung zwischen Konfessionalisierung und spezifischem Heiratsverhalten verdienen sicher noch eine eingehendere Untersuchung.
Die Hypothese, dass die ökonomische, soziale und politische Entwicklung von Nordwesteuropa nicht auf Entscheidungen der regierenden Elite, sondern auf das Heiratsverhalten der breiten Bevölkerung zurückzuführen ist, dass die "Moderne" sich aus der sich langsam verändernden Arbeits- und Rollenverteilung in Familienverbänden entwickelt haben soll, bleibt jedoch als solche anregend, nicht zuletzt da sie Hajnals Beobachtungen neue Aufmerksamkeit verschafft. Die mutige Synthese fordert nun neue Einzelstudien zum gesamteuropäischen Bereich heraus.
Anmerkung:
[1] Beatrice Moring: Nordic Family Patterns and The North-West European Household System, in: Continuity and Change 18 (2003) 1, 77-109.
Xenia von Tippelskirch