Simon Hornblower: Thucydides and Pindar. Historical Narrative and the World of Epinikian Poetry, Oxford: Oxford University Press 2004, XV + 454 S., ISBN 978-0-19-924919-0, GBP 60,00
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Simon Hornblower, durch zahlreiche hervorragende Publikationen als einer der besten Thukydides-Kenner ausgewiesen [1], versucht in seinem neuesten Werk den Nachweis zu erbringen, dass eine vergleichende Untersuchung von Thukydides und Pindar zu einem tieferen Verständnis ihrer Werke führe. Ausgerechnet diese beiden Autoren einer gemeinsamen Betrachtung zu unterziehen ist ein neuartiges und - wie Hornblower selbst mehrfach betont - extravagantes Unternehmen.
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert, deren erster, "Shared Worlds", einen deutlich größeren Raum einnimmt (3-266). Nach einer kurzen Einführung in die griechische Agonistik und einer Erläuterung zentraler Fragestellungen der Pindar- und der Thukydides-Forschung stellt Hornblower Überlegungen an, ob sich die beiden Autoren kannten. Er hält eine persönliche Bekanntschaft für wahrscheinlich; die Olympischen Spiele des Jahres 444 vor Christus sind für ihn das plausibelste Ereignis für ein Treffen, das er dem Leser in bunten Farben vor Augen führt: "If so, the 15-year-old Thucydides son of Olorus and the aged Pindar watched side by side as Taurosthenes, after his victory, released a racing pigeon to take the happy news back from Olympia to Aigina" (54).
Den weitaus größten Raum des ersten Teils nehmen Ausführungen zum Hintergrund der Epinikien Pindars ein. Zunächst behandelt Hornblower einzelne inhaltliche Komponenten der Epinikien und berührt dabei, wie sich bereits an den Titeln der Unterkapitel ablesen lässt, eine Fülle von Aspekten: "Pindar and kingship theory" (63-66), "Patriotic death; ephemerality of life" (74 f.), "Personified abstractions" (96 f.), "Myths: women" (97-102) oder "Mixed colonial realities" (119).
Anschließend begleitet Hornblower den Leser auf eine Reise durch die einzelnen Teile der griechischen Welt, aus der Pindars Auftraggeber stammten. Dieser Abschnitt liefert eine minuziöse Aufbereitung des Materials zu den Auftraggebern und ausführliche Abhandlungen zu den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen in der entsprechenden Polis oder Region. Hornblower knüpft dabei, in dezidierter Absetzung von Bundy [2], an neuere Arbeiten an, die den Wert der Epinikien für die Rekonstruktion historischer Ereignisse optimistischer betrachten. [3]
Im zweiten Teil, "Thucydides Pindaricus" (269-375), versucht Hornblower die Parallelen zwischen Thukydides' und Pindars Werk aufzuzeigen, und zwar auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Er gleicht die thukydideische Methodologie mit den Epinikien ab, stellt Gemeinsamkeiten bei der Kontingenzbewältigung fest, vergleicht die wörtlichen Reden bei beiden Autoren, untersucht narrative Strategien und richtet schließlich den Blick auch auf stilistische Phänomene, Letzteres mit einer intensiven Untersuchung der literarischen Kritik der Antike.
Das Buch steckt voller profunder Gelehrsamkeit. Hornblower streift ein breites thematisches Spektrum, und überall beweist er seine souveräne Kenntnis der Quellen und der (englischsprachigen) Forschungsliteratur. Deshalb eignet sich das Buch hervorragend als Einführung in das Oeuvre Pindars oder als Ausgangspunkt für Untersuchungen zur Geschichte einzelner griechischer Landschaften im 5. Jahrhundert vor Christus, zum Beispiel zu Ägina (207-235).
Das eigentliche Ziel des Buches wird jedoch nicht erreicht, denn als Leser gewinnt man gerade nicht den Eindruck, eine Gegenüberstellung von Pindar und Thukydides würde einen bedeutenden Mehrwert für das Verständnis eines Autors oder beider Autoren liefern. Niemand wird bestreiten, dass es eine Fülle von Gemeinsamkeiten zwischen dem Denken des Epinikiendichters und des Historikers gibt. Doch diese Schnittmenge resultiert nicht aus einer persönlichen Bekanntschaft oder einer spezifischen geistigen Verwandtschaft zwischen beiden, sondern aus der Herkunft aus demselben Milieu.
Die so genannte Lichas-Episode wird von Hornblower mehrfach (273-286, passim) als "the clearest example" für Pindars Einfluss auf Thukydides bezeichnet: Obwohl die Spartaner im Jahr 420 vor Christus aufgrund eines Konflikts mit Elis von den Olympischen Spielen ausgeschlossen waren, nahm der Spartaner Lichas am Wagenrennen teil. Als sein Gespann siegreich blieb, bekränzte er vor aller Augen den Wagenlenker und machte damit sichtbar, dass die Kennzeichnung des Gespanns als boiotisch lediglich eine Tarnung gewesen war; die Priester von Olympia ließen ihn daraufhin auspeitschen (Thuk. 5,49-50,4).
Als Indizien für einen pindarischen Einfluss auf diese Passage führt Hornblower zum einen das Patronymikon an. Dass dieses beim ersten Auftreten des Lichas bei Thukydides (5,22,2) nicht genannt wurde, beim olympischen Zwischenfall dagegen sehr wohl, sei auf den athletischen Kontext zurückzuführen und insbesondere als Nachklang der Epinikien, in denen die Nennung des Vatersnamens regelmäßig auftritt, zu verstehen.
Zweitens habe Lichas mit Pindar gemeinsam, dass beide in ein Netz von polisübergreifenden Gastfreundschaftsbeziehungen eingebunden gewesen seien; Lichas hatte beispielsweise Kontakte nach Kyrene, für dessen Königshaus auch Pindar wirkte. Drittens sei nach Hornblower die Häufung von athletischen Fachtermini im betreffenden Abschnitt auffällig und ein Indiz für eine Lektüre des 'Sportexperten' Pindar durch Thukydides.
Dies sind jedoch alles keine schlagenden Argumente, um einen Einfluss Pindars auf Thukydides nachzuweisen, und es zeigt sich hier exemplarisch die grundsätzliche Problematik von Hornblowers Vorgehen. Parallelen in Texten sind für ihn Anhaltspunkte für eine direkte Beeinflussung; für ihn geht alles Athletische in Thukydides auf Pindar zurück. Dabei hat er die Moderne vor Augen, in der Sport als Sujet von Literatur und Bildender Kunst marginalisiert ist und jedes Vorkommen dieser Thematik Fragen nach der spezifischen Motivation aufwirft. Im klassischen Griechenland allerdings waren Athletismus und athletische Symbolik in allen Gattungen prominent vertreten, seien es Tragödie, Komödie, Geschichtsschreibung, Lyrik, Skulptur oder Vasenmalerei; vor diesem Hintergrund benötigt man sehr viel schlagendere Parallelen, um Thukydides' athletische Kennerschaft auf Pindar zurückzuführen.
Ein weiteres Beispiel für Hornblowers assoziatives Vorgehen: "Pindar praises, and the coins celebrate, the Syracusan cavalry superiority which largely determines the course of Thucydides' Sicilian military narrative." (51). Die hippischen Erfolge Hierons und die Stärke der syrakusanischen Reiterei werden hier in einen Zusammenhang gebracht, doch es handelt sich um getrennte Phänomene. Zum einen gibt es keine Korrelation zwischen hippischen Agonen und Kavallerie: Zu Thukydides' Zeit dominierte Sparta die olympischen Wagenrennen, doch die militärische Stärke dieser Polis beruhte allein auf der Infanterie. Außerdem wird man Hornblower kaum darin zustimmen, dass der Historiker allein deshalb die Kavallerie von Syrakus so hoch einschätzte, weil er Pindars Lob der Pferde Siziliens kannte (189). Thukydides stellt an vielen Stellen Erwägungen zu Stärke und Bedeutung einzelner Truppengattungen an, und eine starke Reiterei ist insbesondere bei langen Kampagnen von großer Bedeutung. Man braucht also keinen einzigen Vers Pindars, um die betreffenden Thukydides-Passagen zu motivieren.
Der Autor ist - und das muss man ihm zugute halten - sich bewusst, dass seine Überlegungen größtenteils rein spekulativ sind. Sein Buch ist anregend, und bei der Lektüre profitiert der Leser von dem umfangreichen Wissen Hornblowers, die Schlussfolgerungen allerdings überzeugen nicht.
Anmerkungen:
[1] S. Hornblower: Thucydides, London 1987; ders.: Commentary on Thucydides (Vol. 1: Books I-III, Oxford 1991; Vol. 2: Books IV-V.24, Oxford 1996; der dritte, abschließende Band befindet sich in Vorbereitung).
[2] E.L. Bundy: Studia Pindarica I + II (= University of California Publications in Classical Philology; 18), Berkeley 1962.
[3] Z.B. I.L. Pfeijffer: Three Aeginetan Odes of Pindar, Leiden 1999.
Christian Mann