Renate Jürgensen: Bibliotheca Norica. Patrizier und Gelehrtenbibliotheken in Nürnberg zwischen Mittelalter und Aufklärung (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen; Bd. 43), Wiesbaden: Harrassowitz 2002, 2 Bde., 2075 S., 10 Abb., ISBN 978-3-447-04540-7, EUR 158,00
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Die Erforschung der frühneuzeitlichen Buchkultur hat in Deutschland, nicht zuletzt durch die großen Bibliografieprojekte des VD 16 und VD 17, erfreulich stark zugenommen. Die Bibliotheksgeschichte bildet eine lange gehegte, allerdings nur durch Spezialisten rezipierte Unterabteilung der Buchforschung. Als Schnittpunkt von Forschungen zur Druck-, Sammlungs- und Nutzungsgeschichte von Texten findet sie jedoch neue Aufmerksamkeit und bietet Zugänge zu einer materiellen Kultur- und Kommunikationsgeschichte. Seit der Erfindung des Buchdrucks lassen sich in Deutschland Zentren und Peripherien dieses Gewerbes feststellen; die vorliegende Publikation widmet sich einem der Hauptorte. Nürnberg besitzt bis heute die an alten Drucken reichste Stadtbibliothek Deutschlands, die zudem auf eine jahrhundertealte Tradition als öffentliche Einrichtung zurückblicken kann. "Quasi centrum europae" betitelte eine Ausstellung 2003 im Germanischen Nationalmuseum die kulturelle Bedeutung der fränkischen Reichsstadt, die in der vorliegenden Untersuchung zur Geschichte großer Privatbibliotheken in ihren Mauern eindrucksvoll bestätigt wird. Im Untertitel der Studie fehlt übrigens hinter "Patrizier" ein Bindestrich, gemeint sind "Patrizier- und Gelehrtenbibliotheken". Die Verfasserin nennt die Zahl von ca. 70.000 Drucken von 16.000 Autoren vor 1800, die größtenteils in den Nürnberger Sammlungen der Stadtbibliothek und der Bibliothek des Landeskirchlichen Archivs noch erhalten sind. Dazu muss man noch Bestände hinzurechnen, die heute in der Universitätsbibliothek Erlangen liegen, vor allem die Buch- und Briefsammlung des Nürnberger Arztes Trew.
Die beiden voluminösen Bände der durch ihre Forschungen zur Nürnberger Kulturgeschichte bestens ausgewiesenen Autorin bieten im Hauptteil eine detaillierte Erschließung und Katalogisierung der Bibliothekskataloge von sechs großen Nürnberger Privatbibliotheken des 16.-18. Jahrhunderts: der Büchersammlung der Patrizier Hieronymus d.Ä. (1498-1565) und d.J. (1538-1602) von Paumgartner, der des bedeutenden Vorstehers der Nürnberger lutherischen Geistlichkeit Johann Michael Dilherr (1604-1669), der der Gelehrten Christoph (1627-1685) und Andreas (1656-1694) Arnold, der des Theologen Adam Rudolph Solgar (1693-1773), der der Patrizierfamilie Ebner von Eschenbach sowie der des Gelehrten Christoph Gottlieb von Murr (1733-1811). Damit ist eine Auswahl getroffen worden, die besonders umfangreiche Sammlungen berücksichtigt - auf andere rekonstruierbare Privatbibliotheken wird in der Einführung verwiesen. In den Lebensbeschreibungen der Bibliotheksbesitzer werden ausführlich die Familienverbindungen und intellektuellen Kontakte aufgeführt, die weit über den regionalen Rahmen hinauswuchsen und "europäisch" genannt werden dürfen.
Grundlage der Untersuchung sind die Sammlungskataloge der vorhandenen Bestände sowie Auktionskataloge. Im Zentrum der Fragestellung steht der Kosmos der Sammlungen: der geistige Horizont der Bibliotheksbesitzer, der geografische und der sachthematische Zuschnitt und die quantitative Dimension des Buchbesitzes. Die Buchnutzung, dokumentiert etwa in handschriftlichen Marginalien, tritt als Untersuchungsgegenstand dagegen deutlich zurück. Die Schwerpunkte der Sammlungen liegen zwar mit Ausnahme der Bibliothek Murr in der Theologie, aber Jura, Politik, Philosophie, Naturwissenschaften, Rhetorik, Geschichte und Geografie sind ebenfalls stark vertreten. Die Autorin stellt jede dieser Sachgruppen für jede Bibliothek vor, wobei sie die Theologischen Sammlungen noch weiter differenziert. Die vollständige Aufschlüsselung von Buchtiteln und Lebensdaten jedes Autors dominieren den Anmerkungsapparat, sodass sich der Hauptteil der Bände kaum zur durchgehenden Lektüre eignet, sondern eher als Nachschlagewerk benutzt werden kann. Ein außerordentlich umfangreiches Personenregister von annähernd 250 Seiten erschließt diese Welt der Buchautoren über alle Sammlungen hinweg.
Die Ergebnisse präsentiert die Autorin in einem Schlusskapitel über die regionale und europäische Dimension der Nürnberger "Stadtkultur" (dies ist ein durch Jürgensen vielleicht überstrapazierter Begriff!). Sie betont, dass alle europäischen Druckzentren mit ihrer Buchproduktion in den Nürnberger Bibliotheken vertreten waren, allerdings auch eine erstaunliche Vielfalt von Druckschriften aus dem deutschen Raum gesammelt wurden, bis hin zu Publikationen aus katholischen Territorien. Individuelle Schwerpunkte lagen in der englischen Buchproduktion (Arnold) und vor allem bei der Theologie mit einem deutlichen Schwerpunkt auf den Werken Melanchthons und ihrer Rezeption.
Die vorliegende Studie eignet sich über die Bibliotheksgeschichte hinaus auch dazu, den reichen und heute nur noch wenig benutzten Buchbestand der genannten Nürnberger Einrichtungen zu erschließen. Die Sozialgeschichte der Nürnberger Lesekultur muss allerdings erst noch geschrieben werden.
Stefan Ehrenpreis