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Rezension von:
Stefan Ehrenpreis
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Ute Lotz-Heumann
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Ehrenpreis: Schule und Schulwesen in der Frühen Neuzeit (Rezension), in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 5 [15.05.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/05/5942.html


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Schule und Schulwesen in der Frühen Neuzeit

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Als der Wissenschaftsrat vor einigen Jahren der deutschen Erziehungswissenschaft bescheinigte, zu wenig empirische Forschung zur Schulsituation zu betreiben, hätte dies auch auf die Untersuchung der Geschichte von Schule und Erziehung bezogen sein können. Zwar hat die deutsche historische Forschung eine beeindruckende Fülle von Arbeiten zur Universitätsgeschichte hervorgebracht, aber die höheren und - noch stärker - die niederen Schulen wurden jahrzehntelang als Stiefkinder behandelt, von der engeren Erziehungsgeschichte ganz zu schweigen. Die Impulse, die aus den französischen, englischen oder niederländischen Untersuchungen der letzten zwanzig Jahre in diesem Feld gegeben wurden, werden aber zunehmend auch im deutschsprachigen Raum aufgenommen, wie die zu besprechenden Bände zeigen.

Die europäische Forschungslandschaft ist - verglichen mit der deutschen - durch eine stärkere Verbindung institutionengeschichtlicher und erziehungstheoretischer Ansätze gekennzeichnet. "Erziehungsdiskurs" und "Schule" werden nicht als zwei getrennte Bereiche gesehen, sondern als im 16. Jahrhundert neu konstituierte Elemente eines umfassenden Prozesses, der das Verhältnis von Obrigkeit, Kirche und Eltern zur Erziehung der Kinder grundlegend veränderte. Die protestantische Reformation und die spätere Bildung von Konfessionskirchen spielten dabei eine wichtige Rolle, jedoch ebenso die schulorganisatorischen und didaktischen Reformen des oft vernachlässigten 17. Jahrhunderts.

Einige Neuanfänge hat es in den letzten Jahren gegeben: So hat sich eine Arbeitsgruppe um Ernst Hinrichs seit den 1990er-Jahren bemüht, den Erkenntnisstand in der Alphabetisierungsforschung methodisch und inhaltlich zu verbessern. [1] Zumeist sind jedoch weiterhin Arbeiten zur Universitätsgeschichte erschienen, die in Deutschland eine lange und erfolgreiche Tradition besitzt. Dieser Forschungsschwerpunkt bestimmt nach wie vor den Markt der Veröffentlichungen zur deutschen Bildungsgeschichte.

Das Überblickswerk Notkers Hammersteins, mit dem die Vorstellung wichtiger Neuerscheinungen begonnen werden muss, schließt an den 1994 erschienen Band Anton Schindlings [2] in der "Enzyklopädie deutscher Geschichte" an, geht ihm zeitlich aber voraus. Die Gliederung entspricht dem mittlerweile gewohnten Schema der Reihe: einer ca. 50-seitigen Darstellung der Thematik folgt ein 80-seitiger Teil zu Grundproblemen und Tendenzen der Forschung sowie eine 440 Titel umfassende, auf dem neuesten Stand gehaltene Bibliographie. Hammerstein leitet in souveräner Beherrschung des Stoffes seine Darstellung mit einer Skizzierung der spätmittelalterlichen Grundlagen ein. Die Abschnitte über Humanismus und Reformation beziehen europäische Verhältnisse mit ein und liefern detailgenaue Informationen über die Entwicklung des Universitäts- und Lateinschulwesens deutscher Territorien. Die protestantischen Neuschöpfungen (Hohe Schulen, Gymnasia illustria) werden ebenso wie die katholischen Reformgründungen breit geschildert.

Besondere Beachtung verdienen die Abschnitte zu "Wissenschaftspositionen um 1600" und "Lehre und Studien im konfessionellen Zeitalter", stellt der Verfasser hier doch in den letzten Jahren vielfach diskutierte Themen dar. Hammerstein bezieht dabei Standpunkte, die bedauerlicherweise für den Leser einer solchen Überblicksdarstellung nicht immer klar einzuordnen sein dürften. So betont er einerseits die Rolle der konfessionsübergreifenden Respublica litteraria, nennt aber bei der Beschreibung der reformiert-calvinistischen Bildungsbewegung durchaus konfessionelle Besonderheiten. Das Verhältnis beider bleibt ungeklärt. Noch erstaunlicher ist freilich die Ablehnung der These von der "wissenschaftlichen Revolution" des 17. Jahrhunderts: Mit Ausnahme der Medizin wird das Untersuchungsfeld der Naturwissenschaften nur gestreift, die Forschungen von Steven Shapin oder Lorraine Daston tauchen weder in der Darstellung noch in der Bibliographie auf. Die vom Verfasser postulierte "ruhige Gangart" der Forschung (61) ist hier doch wohl etwas zu konsensuell beschrieben. Im Forschungsteil dominiert die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Universitäten und der einzelnen Fakultäten Jura, Medizin und Theologie sowie der Artistenfakultät. Kurze Überlegungen zur Sozialgeschichte und eine Vorstellung einzelner bedeutender Universitätsgeschichten komplettieren das Bild der Forschungslandschaft.

Hammerstein definiert Bildungsgeschichte klassisch als eine Geschichte der Universitäten und höheren Schulen. Während Schindling dem niederen Schulwesen und der Alphabetisierung noch einen gewissen Stellenwert einräumte, fallen diese Untersuchungsgebiete im vorliegenden Band völlig weg. Der Verfasser legt also eine hochkompetente Zusammenfassung vor, die individuelle Schwerpunkte setzt, dabei aber Anderes gänzlich auslässt.

Wie eine thematische Vertiefung im Bereich des höheren Bildungswesen beim gegenwärtigen Forschungsstand aussehen könnte, zeigt die Tübinger Habilitationsschrift von Sabine Holtz, die zwar mit den höheren Schulen des Herzogtums Württemberg einen schon bekannten Untersuchungsgegenstand hat, ihm aber unter der Fragestellung der Professionalisierung neue Seiten abzugewinnen vermag. Die Verfasserin fragt nach dem Zusammenhang von Verstaatlichung und Verwissenschaftlichung am Beispiel einer Berufsgruppe, die wie keine andere im Spannungsfeld von öffentlicher Nachfrage und Arbeitsmarkt stand: die Juristen. Im Mittelpunkt ihrer Untersuchung (die im Übrigen, anders als der Titel bezeichnet, weit ins 18. Jahrhundert vorstößt) stehen die Ausbildungsinstitutionen, die für den Juristenstand in Württemberg zur Verfügung standen und die staatlichen Vorgaben, die für den Eintritt in den Staatsdienst und die Tätigkeit als fürstlicher Rat galten. Viele von Holtz angesprochene Bereiche, wie etwa die Entstehung beamtenrechtlicher Vorschriften, die soziale Herkunft und der Habitus der Räte oder die Rolle der Bibliotheken, müssen hier vernachlässigt werden. Besondere Aufmerksamkeit können für den bildungsgeschichtlichen Zusammenhang die Schwerpunkt-Kapitel des Buches beanspruchen, die die Rolle der Tübinger Juristenfakultät und des dortigen Collegium illustre sowie die des 1683 aufgewerteten Stuttgarter Gymnasiums innerhalb des höheren Bildungswesens Württembergs untersuchen.

Holtz geht von einer starken Prägung der staatlichen Bildungspolitik durch die Absicht aus, eine personelle Elite für die Arbeit in den Zentralbehörden zu schaffen. Für das 17. Jahrhundert errechnet sie eine Gesamtzahl von 418 Personen im höheren Regierungs- und Verwaltungsdienst; davon waren 46 Prozent adliger und 54 Prozent bürgerlicher Herkunft. Die Verfasserin betont, dass selbstverständlich neben der Erfüllung formaler Kriterien moralische Wertungen der Lebensführung der Kandidaten für ihre Anstellung entscheidend waren. Die Auswertung der Prosopographie der Amtsinhaber und parallel der Universitätsmatrikel spricht jedoch eine eindeutige Sprache: Von den Landeskindern, die in Tübingen in Jura graduierten, fanden 80 Prozent eine Position im Regierungs- und Verwaltungsdienst des Territoriums.

Neben der Universität Tübingen war das Stuttgarter Gymnasium ein Mittelpunkt der württembergischen Reformbemühungen. Es war geradezu als "Gegenschule" zu den in der Reformationsphase gegründeten humanistischen Klosterschulen konzipiert, die überwiegend der Theologenausbildung dienten. In Stuttgart hingegen bezog man die Naturwissenschaften in den Fächerkanon ein. Von den 1828 Schülern des Gymnasiums zwischen 1686 und 1780 schlossen etwas mehr als Hälfte ein Studium ab, darunter studierten circa 500 Theologie und etwa 400 Jura. Von den anderen Absolventen wählte eine große Gruppe von 381 Männern eine Schreiberlaufbahn.

Insgesamt unterschied sich der Lehrplan der protestantischen höheren Schulen Württembergs nur wenig von dem beispielsweise der Jesuitengymnasien: Neben dem konfessionell unterschiedenen Religionsunterricht dominierten einheitlich die altsprachlichen Fächer. Lediglich die im Protestantismus höhere Bedeutung des Geschichtsunterrichts lässt sich festhalten.

Das methodische Vorgehen der Verfasserin zeichnet sich durch immer wieder in den Text eingestreute Vergleiche mit den Verhältnissen in anderen Reichsterritorien aus. Die Darstellung der Professionalisierung des württembergischen Juristenstandes und seines Berufsverständnisses sollte für weitere systematisch angelegte Vergleiche Vorbildfunktion haben, auch wenn die Zahlen des Verbleibs der Absolventen sicher nicht immer so klar aus den Quellen herausgearbeitet werden können wie in diesem Beispiel.

Beachtenswert ist auch das auf die herkömmliche Periodisierung bezogene Ergebnis der Studie. Holtz weist nach, dass ein aus der politischen Geschichte abgeleitetes Zäsurjahr 1648 nicht sinnvoll ist, vielmehr nach Ende des Dreißigjährigen Krieges bewusst an Reformvorhaben des frühen 17. Jahrhunderts angeknüpft wurde (383) und die Debatte vorwiegend von Schulpraktikern geführt wurde.

Diese Frage ist über das höhere Schulwesen hinaus auf das Gesamtsystem des Erziehungs- und Unterrichtswesens anzuwenden. Auch im niederen Schulwesen gab es im späten 16. und 17. Jahrhundert pädagogische Reformvorschläge und schulische Umsetzungsversuche, die die Maßnahmen des aufgeklärten 18. Jahrhunderts bereits vorwegnahmen. Dies wird aus den im Folgenden besprochenen Publikationen deutlich.

Der im Jahr 2000 erschienene Band aus der Reihe der von der Stadt Kraichtal gesponserten Kolloquien geht auf eine 1998 veranstaltete Tagung zurück. Bereits das Vorwort formuliert das Interesse an der Bildung der Laien und den Schulen auf dem Lande. Die Themen dieses Bandes sind gleichwohl vielgestaltig: sie reichen von der ländlichen Elementarbildung im Mittelalter an den Pfarrschulen (Felicitas Schmieder) über die Bildungswanderung von humanistisch gebildeten Lateinschülern (Ulrich Andermann) bis zur Problematisierung der Verstaatlichung der Volksschule im 19. Jahrhundert (Bernd Wunder).

Einen Schwerpunkt bildet das westdeutsche protestantische Latein- und Elementarschulwesen. Martin Brecht unterzieht die pädagogischen Aufrufe Martin Luthers noch einmal einer Analyse und fragt nach ihrer Verwirklichung in den frühen Reformationsjahren. Hermann Ehmer untersucht anhand von detaillierten Beispielen das frühneuzeitliche ländliche Schulwesen Südwestdeutschlands und bezieht dabei auch kleinere katholische Herrschaftsgebiete mit ein. Die Auswertung eines um die Mitte des 18. Jahrhunderts angelegten Seelenregisters eines kleinen Ortes im Remstal ergibt, dass hier die Mehrheit der Bevölkerung lesen und schreiben konnte, was laut Ehmer für Württemberg typisch war. Der Beitrag von Thomas Schulz zu den württembergischen Lateinschulen betont die staatliche Rahmengesetzgebung, zeigt an Einzelbeispielen aber auch die ungenügende Qualität der Schulen auf. Die frühe und nachhaltige Förderung dieses Schultyps war langfristig ambivalent: Die Qualität des Unterrichts blieb vielfach hinter den Erwartungen zurück und noch die Schulreform von 1793 hatte erhebliche Schwächen. Dem rheinhessisch-mittelrheinischen ländlichen Schulwesen widmet sich der Beitrag von Helmut Schmahl, womit ein Vergleich katholischer und protestantischer Entwicklungen gegeben ist. In der Kurpfalz wurde seit dem Übergang auf die katholische Linie der Dynastie 1685 in vielen Orten von den katholischen, reformierten und den wenigen lutherischen Gemeinden parallel Unterricht erteilt, was zu einer nachhaltigen Schädigung der Lehrereinkommen führte. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts begannen in den Fürstbistümern Schulreformen, die eingehend dargestellt werden. Im Erzstift Mainz wurden 1754 beispielsweise die Pfarrer zu wöchentlichen Schulvisitationen verpflichtet und kurze Zeit später die Sommerschule eingeführt. Insgesamt lassen sich überall Klagen über die schlechte Qualität der Lehrer und des Unterrichts dokumentieren.

Gerhard Menk (einer der wenigen dauerhaft am frühmodernen Schulwesen interessierten deutschen Historiker) widmet sich im umfangreichsten Beitrag des Bandes mit gewohnt großer Quellen- und Literaturkenntnis dem frühneuzeitlichen Schulwesen in Hessen. Unter Bezug auf historiographische Entwicklungen und den Wandel der Fragestellungen betont Menk die Rolle der lokalen Gemeinden, die sich aktiv um gutes Lehrpersonal bemühten. Nicht nur für die hessischen Landgrafschaften, sondern auch für die Westerwälder Grafschaften und Waldeck gilt, dass sich neben der hervorstechenden Spitzenstellung der Universitäten Marburg, Gießen und Herborn (Hohe Schule) eine flächendeckende Gründung von Schulen auf der dörflichen Ebene seit der Reformation vollzog. Menk spricht sogar von einer "weitgehenden Professionalisierung der Dorfschulmeister" (181). Das pädagogische Interesse besonders der reformierten Landesherrschaft Hessen-Kassels zog eine ganze Reihe von Theoretikern des Bildungsgedankens an, die das Erbe von Ramus und Alsted auch noch nach dem Dreißigjährigen Krieg wach hielten, als die hessischen Landgrafschaften zum Musterfall eines bikonfessionellen Bildungswesens wurden. Allerdings überließen es die Regierungen den Kommunen, den Wiederaufbau des Schulwesens nach den verheerenden Zerstörungen des langen Krieges zu bewerkstelligen. Mit Blick auf Entwicklungen, die 1648-1770 eher einen Rückzug des Staates aus der höheren Bildung verzeichnen lassen, kommt Menk zu der pointierten Einschätzung, das Schulwesen hätte um 1800 keine so hohe Qualität besessen wie im späten 16. Jahrhundert.

Der Blick auf protestantische Verhältnisse wird durch eine Darstellung der Hof- und Honnschaftsschulen des niederrheinischen Herzogtums Berg durch Kurt Wesoly komplettiert. Damit gerät auch der Typus der Winkelschulen in den Blick. Insgesamt kommt Wesoly bei der Analyse der gemischtkonfessionellen Gemengelage zu dem Schluss, dass in überwiegend katholischen Gebieten kein so großer Wert auf den Schulbesuch der Kinder gelegt worden sei.

Die Beiträge dieses Sammelbandes, die sich mit dem niederen Schulwesen beschäftigen, zeigen, dass dieser Untersuchungsgegenstand nach einer Phase intensiver Erforschung vor dem Zweiten Weltkrieg noch nicht in neuere Forschungsstrategien integriert worden ist. Mit der theologischen Dissertation von Veronika Albrecht-Birkner (Universität Halle-Wittenberg) wird jedoch klar, welches Erkenntnispotenzial hier noch erschlossen werden kann. Mit den Reformen von Herzog Ernst des Frommen in Sachsen-Gotha untersucht sie ein oftmals zitiertes, faszinierendes gesellschaftliches Projekt lutherischer Frömmigkeitsbewegung. Ein staatlich gelenktes, auf umfassende Sozialdisziplinierung abzielendes Programm der "Reformation des Lebens" sollte eine schweren Zerstörungen ausgesetzte, ländlich geprägte Gesellschaft in eine fromme, gebildete, praktischen Verbesserungen gegenüber aufgeschlossene Untertanengemeinde verwandeln [3]. Zum ersten Mal wird mit der Untersuchung Albrecht-Birkners dieses Reformprogramm an seinen Ergebnissen gemessen: Anhand von Visitations- und Pfarrberichten aus drei dörflichen Gemeinden zwischen 1642 und 1653 (im Einzelfall bis 1674) beschreibt sie die Umsetzungen der Reformmaßnahmen im Bereich der Seelsorge, der Frömmigkeitsformen und der Erziehung. Unter Aufnahme theologischer, aber auch allgemein-pädagogischer und didaktischer Theorien von Wolfgang Ratke, Sigismund Evenius, Johannes Kromayer und Andreas Reyher, die schon in den 1620er-Jahren Anwendung fanden, wurden Schule und Katechese zu zentralen Vermittlungsinstanzen von Frömmigkeits- und Bußlehren, Verhaltensnormierungen und ökonomischen Nutzanweisungen. Die Schulen erfuhren dabei neben Pfarrer und Kirche eine deutliche Aufwertung im Gemeindeleben.

Für unseren Zusammenhang sind besonders die Auswertungen der Schultabellen interessant, spiegeln sie doch die subjektive Einschätzung der Pfarrer über die Alphabetisierungsrate. Der Anteil der Männer und Frauen, die mindestens lesen konnten, stieg seit den 1650er-Jahren auf circa 40 bis 50 beziehungsweise 25 bis 30 Prozent an, bei den Schulkindern lagen sie noch höher. Auch auf das Erlernen des Rechnens wurde Wert gelegt. Die allgemeine Schulpflicht scheint tatsächlich durchgesetzt worden zu sein, daneben spielte die sonntägliche Kinderlehre eine entscheidende Rolle zur Kontrolle des Schulunterrichts und des Lernverhaltens. Die zentrale Lenkung der Reformen garantierte die 1642 eingeführte Landes-Schulordnung, "Schulmethodus" genannt. Besonders die Einführung neuer Schulbücher und die Einteilung der Schüler in drei getrennt unterrichtete Leistungsklassen stellten erfolgreiche Elemente der Reformen dar. Seit 1656 wurde in den Dorfschulen auch Realienkunde gelehrt. Von Widerstand gegen alle diese Maßnahmen seitens der Eltern ist nicht die Rede. Die Studie Albrecht-Birkners bringt außerdem weiteres Material zu den Themen Gottesdienstbesuch und Abendmahlsempfang, Kirchenzucht, Kenntnis von Gebeten und Liedern, Bibeltexten et cetera sowie der sozialen Rolle der Pfarrer.

Vor allem die im Katechismusexamen erwarteten Einsichten in theologische Kenntnisse werden von der Verfasserin als Überforderung der Gläubigen charakterisiert, die nur mit größtem Druck zu erzwingen war. Die langfristigen Ergebnisse der Reformen interpretiert die Verfasserin ebenso wie die ältere Literatur als Scheitern, da die Politik des Fürsten nach seinem Tod nicht weitergeführt wurde. Die Wirkungen der Maßnahmen auf angrenzende Territorien und die Rezeption der pädagogischen Modelle im Diskurs über Erziehung dürften jedoch beträchtlich sein. So weist die Verfasserin auf die Übernahme zahlreicher Elemente des "Schulmethodus" durch Francke in der Hallischen Waisenhausordnung hin, wie überhaupt der Pietismus vielfältige Anregungen durch die Gothaischen Schulreformen erhielt.

Der große Fortschritt der bisher vorgestellten Arbeiten besteht darin, dass wir nun neue Mosaiksteine besitzen, mit denen wir einem Gesamtbild des frühneuzeitlichen Bildungssystems im Alten Reich und seinen Territorien von der Spitze bis auf die unterste Ebene näher kommen. In diesem Sinne kann dann auch die Frage nach der Tiefe des Systemwandels in der Phase der aufgeklärt-absolutistischen Schulreformen neu gestellt werden. Einen städtischen Sonderfall behandelt die Bonner juristische Dissertation von Nathalie Damesme: Mit der französischen Okkupation des Rheinlandes ab 1794 hob die Besatzungsmacht die alte Universität und die Gymnasien der Reichsstadt auf und führte ein neues, ab 1800 von einer staatlichen Verwaltungskommission geleitetes Schulsystem ein. 1805 wurde nach einem Wechsel in der napoleonischen Politik der Stadt eine eigene Schulverwaltung unter Hoheit des Rates zugestanden. Das französische höhere Schulsystem in Köln bestand demnach aus der 1798 gegründeten "Zentralschule", die zunächst von der Departmentregierung verwaltet wurde und zwölf Professoren für Französisch, Griechisch, Latein, Geschichte, Philosophie, Recht, Naturkunde, Mathematik, Medizin und Schöne Künste besaß. Schon 1804 wurde sie durch zwei Sekundarschulen ersetzt. Ziel dieser Schulen war - analog der republikanischen Revolutionsgesetzgebung - eine öffentliche kostenlose Schulausbildung und die Verbreitung der französischen Sprache.

Die Untersuchung von Damesme konzentriert sich stark auf die verwaltungstechnischen, hoheitsrechtlichen und finanzpolitischen Seiten der Schulpolitik, was sich aus dem Charakter einer juristischen Qualifikationsarbeit erklärt. Die Abschnitte über den Unterricht, der dem republikanischen Prinzip der Lehrfreiheit folgte und jährlich mit einem "concours" abschloss, sind daher eher knapp gehalten. Ebenso wäre eine Untersuchung des sozialen und wissenschaftlich-schriftstellerischen Profils der Lehrerschaften zu ergänzen. Auch von der Schülerschaft wüsste man gerne mehr. Kamen die Schüler der neuen akademischen "Zentralschule" wirklich aus allen Orten des Roerdepartements? Oder waren es vorwiegend Kinder der ehemals reichsstädtischen Elite? Für die Beantwortung dieser Fragen fühlt sich die Verfasserin nicht zuständig. Ihre Leistung liegt in der Klärung der französischen Schulpolitik im besetzten Gebiet und deren Folgen unter dem Blickwinkel der Modernisierung, die der französischen Herrschaft im Rheinland ja allgemein zugeschrieben wird.

Insgesamt zeigen die hier vorgestellten Publikationen die Bandbreite der heute untersuchten Themenfelder zur Erziehungs- und Bildungsgeschichte. Zwar kann nach wie vor von einer Konzentration der Forschung auf die Geschichte des höheren Bildungswesens gesprochen werden, aber die Einbeziehung der lange vernachlässigten kleinstädtischen Latein- und der städtischen und dörflichen Elementarschulen schreitet voran. Von dieser Ausweitung schulgeschichtlicher Fragestellungen profitiert auch die alte, aber wieder neu zu stellende Frage nach den Erziehungskonzepten und nach dem frühneuzeitlichen Bild von Kindheit.

Die deutsche Forschung ist leider - mit Ausnahme der Universitätsgeschichte - noch weit entfernt von der Möglichkeit, zusammenfassende Resultate in allen der oben angesprochenen Bereiche vorzulegen, wie das beispielsweise die französische Forschung (vor allem der Kreis um Dominique Julia) schon seit den 1970er-Jahren vorgemacht hat. Auch in den wichtigen internationalen Organen, der Zeitschrift "Paedagogica Historica" oder den vom International Standing Committee of the History of Education (ISCHE) regelmäßig veranstalteten Tagungen sind deutsche Bildungshistoriker zur Frühen Neuzeit unterrepräsentiert. Immerhin hat sich mit der seit der Wende neu formierten Bibliothek für bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin ein neues Zentrum zur Bündelung von wissenschaftlichen Aktivitäten herausgebildet. Es stehen nun viele Türen offen, die interdisziplinäre Verbindung mit der Wissenschaftsgeschichte, der Historischen Anthropologie, der kulturwissenschaftlichen Geschichtsschreibung, der Konfessionalisierungsforschung und der new intellectual history einzugehen. Voraussetzung für eine Nutzung dieser Möglichkeiten ist jedoch die weitergehende inhaltliche Öffnung und Bereitschaft der deutschen Bildungsgeschichte, international bewährte Konzepte aufzunehmen, interdisziplinäre Zugriffe zu stärken und nicht in vermeintlichen deutschen Besonderheiten zu verharren.

Anmerkungen:

[1] Hans Erich Bödeker/Ernst Hinrichs (Hg.): Alphabetisierung und Literalisierung in Deutschland in der Frühen Neuzeit, Tübingen 1999.

[2] Anton Schindling: Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 1650-1800, München 1994.

[3] Komplementär zu der rezensierten Studie ist jetzt heranzuziehen: Andreas Klinger: Der Gothaer Fürstenstaat. Herrschaft, Konfession und Dynastie unter Herzog Ernst dem Frommen, Husum 2002.

Stefan Ehrenpreis