Eckard Plümacher: Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten. Hrsg. v. Jens Schröter und Ralph Brucker (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament; Bd. 170), Tübingen: Mohr Siebeck 2004, XXIV + 320 S., ISBN 978-3-16-148275-5, EUR 79,00
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Jens Schröter und Ralph Brucker haben eine ansprechende Ausgabe von Eckhard Plümachers Aufsätzen zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten vorgelegt. Sie dokumentieren damit eine wissenschaftliche Vita von bemerkenswerter Folgerichtigkeit. Plümacher entfaltet in den hier versammelten kleinen Schriften eine Interpretation des lukanischen Doppelwerkes, die er bereits in seiner Dissertation über "Lukas als hellenistischer Schriftsteller" (Göttingen 1972) vorgetragen hatte: Der Evangelist und Verfasser der Apostelgeschichte wird mit Nachdruck in den Kontext der (spät-)hellenistischen Historiografie gerückt und viele Eigenarten seines Werkes werden so überzeugend erklärt. Im zweiten Teil der Sammlung behandelt Plümacher "Geschichten" aus den Johannesakten. Die Untersuchungen führen die Arbeit am Lemma "Apokryphe Apostelakten" für die RE an einem Beispiel dieser Gattung fort. Hervorzuheben sind zum einen Plümachers minuziöse Text- und Kontextkenntnis als Voraussetzung von überraschenden und weit reichenden Deutungen scheinbarer Nebensächlichkeiten und zum anderen der enge methodische Zusammenhang mit den Beiträgen zu Lukas: Auch hier dienen der Vergleich mit der zeitgenössischen Belletristik und (Popular-)Philosophie sowie die literatursoziologische Reflexion als wesentliche Hebel für das vertiefte Verständnis.
Vielleicht sollte man nicht so altbacken formulieren wie die Herausgeber, die die "gediegenen, an althistorischer Gelehrsamkeit reichen" Analysen hervorheben, gemeint ist das Richtige, nämlich dass Plümacher eben nicht nur ein Theologe, sondern auch ein eigenständiger Historiker ist: Hier werden keine Anregungen aufgegriffen, nichts entliehen oder übertragen, sondern es werden mit Umsicht und Ernst und im Bewusstsein der vielfältigen Implikationen historische und theologische Perspektiven gleichermaßen zur Erhellung sehr fremder Texte eingenommen. Die Ergebnisse können und müssen (auch) als Beiträge zum Verständnis der Kultur der frühen und der hohen Kaiserzeit gelesen und kritisiert werden.
Plümacher versteht Lukas als Geschichtsschreiber, charakterisiert die Apostelgeschichte als historische Monografie, der das Evangelium als freilich nur der Funktion, nicht der Form nach historisches Werk vorangestellt sei (1-14), profiliert die Acta neben dem Zweiten Makkabäerbuch und vor allem im Vergleich mit den Informationen über Ciceros Hypomnemata der Ereignisse seines Konsulatsjahres als von einem "dramatischen Episodenstil" geprägtes Beispiel der mimetischen Geschichtsschreibung mit apologetisch-propagandistischer Zielsetzung (15-32), weist überzeugend nach, dass Wundererzählungen den Autor gerade nicht aus dem Kreis der Historiker ausschlössen, sondern den Erwartungen seines zum großen Teil keineswegs an Höhenkammliteratur geschulten Publikums entsprächen (33-83), schlägt vor, die rätselhaften "Wir-Stücke" der Apostelgeschichte als originelle Referenz auf die Hochschätzung der persönlichen Augenzeugenschaft eines Historikers und als typischen Hinweis auf durch Reisetätigkeit gewonnene Expertise zu verstehen (85-107, mit einem Nachtrag, 107-108), identifiziert Reden in der Apostelgeschichte in einer Reihe mit denen bei Dionysios von Halikarnaß und bei Livius als Moventia und Wendepunkte der Entwicklung (109-125), traut dem Verfasser der Apostelgeschichte zu, mit einer Thukydides-Reminiszenz in seiner Darstellung einer Abschiedsszene besonderes Flair verleihen zu wollen (127-133), und beschreibt in einem Originalbeitrag die Rolle Roms in der Apostelgeschichte als Konsequenz der Theologie des Römerbriefes mit der Wendung von der Juden- zur Heidenmission einerseits und der nachdrücklichen Einbettung der Christentumsgeschichte in die Geschichte einer von Rom dominierten Welt andererseits (135-169).
Ohne Zweifel zeitigt Plümachers konsequenter Bezug der Apostelgeschichte auf die zeitgenössische Historiografie wichtige weiterführende Ergebnisse; zugleich macht der Vergleich mit Cicero, Sallust, Plutarch und anderen einen sonst viel zu wenig bekannten Teil der Geschichtskultur des Späthellenismus und der frühen Kaiserzeit sichtbar, in der Lukas sich bewegte und vor deren Hintergrund auffällige oder sogar anstößige Aspekte seiner Darstellung plausibel eingeordnet werden. Trotzdem überzeugt die Charakteristik dieses Autors als Historiker nicht. Plümacher gibt das im Grunde selbst zu, wo er etwa mit originellen Weiterbildungen rechnet. Die Konfrontation der Apostelgeschichte mit anderen nicht-historiografischen zeitgenössischen Werken unter dem Aspekt, ob und wie hier jeweils Elemente der Geschichtsschreibung verwendet und anderen literarischen Zielen zugeordnet werden, könnte zeigen, dass die Gattungsgrenzen weniger scharf gezogen sind, als Plümacher annimmt, ja annehmen muss, um so eindeutig rubrizieren zu können, wie er das tut.
Offensichtlich, weil sich der zünftige Theologe bei der Beschäftigung mit den apokryphen Apostelakten kein von der Forschungstradition so schwer gewordenes Gepäck zu schultern veranlasst sieht (oder sehen muss), fehlen bei den Interpretationen der Acta Joannis die im ersten Teil des Buches begegnenden Verspanntheiten. Die größere Leichtigkeit erklärt sich aber natürlich auch aus dem Stoff. Nur der etwas pedantische Titel "Paignion und Biberfabel. Zum literarischen und popularphilosophischen Hintergrund von Acta Johannis 60f. und 48-54" (171-206) passt nicht zu einem ebenso vergnüglichen wie erhellenden Kabinettstück sorgfältiger Interpretation von auf den ersten Blick sonderbaren Episoden, in deren Mittelpunkt Wanzen und Biber stehen. Plümacher stellt überzeugend dar, wie der Verfasser der Johannesakten seinen Lesern (und Zuhörern) Antworten auf ernsthafte und virulente theologische Fragen gibt und deren literarische Erwartungen befriedigt. Die zeitgenössische Lebenswirklichkeit - besonders die gut belegte Rivalität zwischen den stolzen Städten im Osten des Imperium Romanum - ist für den Verfasser der Erfahrungsraum, in dem er selbstbewusst den missionierenden Johannes mit den Statthaltern des Reiches auf Gerichtsreisen sehr zum Vorteil des Apostels kontrastiert (207-228) oder für ein städtisches Honoratiorenpublikum Gott und Kaiser einander gegenüberstellt (229-273): Plümachers Analyse ist eine willkommene Ergänzung des modernen Verständnisses von der Realität der Römerherrschaft in den Zentren des Ostens, für das - wie etwa auch Louis Roberts Kommentierung des Pionios-Martyriums zeigt [1] - Texte des frühen Christentums wichtige Quellen sind.
Dem Band sind englische Zusammenfassungen der einzelnen Beiträge, ein Nachwort Eckhard Plümachers, der Nachweis der Erstveröffentlichungen und ausführliche Register beigegeben (Stellen, 285-309; Namen, 311-320). Die Feingliederung des Stellenregisters führt gelegentlich zu überraschenden Zuordnungen, die zumindest den Nicht-Theologen irritieren. Angesichts von Plümachers Versiertheit im altertumswissenschaftlichen Schrifttum hätte man sich auch gewünscht, dass ein Lemma wie "Synesios - Brief an Euoptios" (295, mit Bezug auf 89f.) von der Redaktion präzise verzeichnet worden wäre: Plümacher gibt den Nachweis sogar mit Bezug auf zwei verschiedene Ausgaben (90, Anm. 29). Solche Kleinigkeiten beeinträchtigen das im Übrigen mustergültige Erscheinungsbild der Aufsatzsammlung kaum. Hoffentlich stimuliert sie in Theologie und Altertumswissenschaft nicht nur fachliche Diskussionen, sondern fördert auch wechselseitig das Interesse aneinander. Hier kann man beobachten und einzuschätzen lernen, wie kläglich die übliche Ernte von Früchten in Nachbars Garten hinter einer fruchtbaren Offenheit sich ausnimmt.
Anmerkung:
[1] Louis Roberts: Le martyre de Pionios, Dumbarton Oaks 1994.
Tassilo Schmitt