Mario Kramp / Matthias Schmandt (Hgg.): Die Loreley. Ein Fels am Rhein. Ein deutscher Traum, Mainz: Philipp von Zabern 2004, XV + 214 S., 124 Farb-, 50 s/w-Abb., ISBN 978-3-8053-3369-6, EUR 39,90
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"Ich weiß nicht, was soll es bedeuten..." - die altbekannte Frage zum Mythos der Loreley dürfte mit diesem ebenso ästhetisch ansprechenden wie höchst informativen Sammelband nun zumindest in wissenschaftlicher Hinsicht eine umfassende Klärung erfahren haben. Das mit Aufsätzen renommierter Autoren bestückte und reich bebilderte Buch erschien anlässlich der 2004 gezeigten Ausstellung des Koblenzer Mittelrheinmuseums und des Historischen Museums am Strom in Bingen. Entsprechend der Ausstellungsaufteilung zwischen den beiden Museen ist auch die Gliederung des Aufsatzbandes angelegt: Im ersten Teil wurde in Bingen die Geschichte der Loreley "Von den Anfängen bis 1800" (1-55) untersucht, während sich der zweite Teil dem Koblenzer Thema "Von 1800 bis heute" (56-198) widmet. Doch trotz dieser inhaltlichen wie formalen Bindung an die zu Recht viel gelobten Ausstellungen ist die Lektüre des Bandes auch ohne direkte Kenntnis der dort gezeigten Objekte wissenschaftlich interessant und ausgesprochen unterhaltsam.
Die zunächst heterogen erscheinenden Aufsätze nähern sich dem Thema von allen möglichen Seiten und greifen an Verdichtungspunkten doch immer wieder ineinander. Dadurch kommt es zwangsläufig zu einzelnen Wiederholungen, die der Leser unter dem Gesichtspunkt der Vertiefung aber gerne in Kauf nimmt. Die Beiträge kreisen um zwei Pole, die das Thema Loreley bestimmen: den Mythos jener facettenreichen Frauenfigur sowie den gleichnamigen Rheinfelsen. So geht es also einerseits um eine Kulturgeschichte von Wahrnehmung und Darstellung der weiblichen Protagonistin und andererseits um eine solche zum Umgang mit einer landschaftlichen Sehenswürdigkeit. Dabei werden Themen wie Dichtkunst, Malerei und Musik ebenso zum Untersuchungsgegenstand wie Nationalismus und Genderstudies oder Tourismus, Kitsch und Kommerz.
Schon der Auftakt ist für den geisteswissenschaftlichen Leser eine Überraschung und zugleich ein Vergnügen, denn hier wird mit dem naturwissenschaftlichen Beitrag von Rahel Hohlfeld und Jörn H. Kruhl ein Blick über den Tellerrand gewagt. Anhand aufschlussreicher Fotografien und Grafiken erklären die Autoren allgemein verständlich Zusammensetzung und Formung jenes speziellen Gesteins, das den sagenumwobenen Felsen bildet. In den folgenden Beiträgen werden Siedlungsgeschichte und Namensgebung des Ortes ebenso erläutert wie die Anfänge des Mythos im mittelalterlichen Volksglauben. Man erfährt, dass bis ins 19. Jahrhundert von einer schönen Frau auf dem "Gipfel des Berges" (Heine) nicht die Rede war - stattdessen vermutete man, wie von Christoph Daxelmüller ausgeführt, in den darunter gelegenen Höhlen Zwerge, die dort vielleicht sogar den Nibelungenhort bewachten (40). Fasziniert waren die Menschen seit jeher von dem an diesem Ort herrschenden Echo, das man ebenfalls den Zwergen zuschrieb. Nicht ins Reich der Mythen gehörten hingegen die Stromschnellen, die - unterhalb des Felsens durch eine Sandbank hervorgerufen - eine nicht geringe Gefahr für die Schifffahrt darstellten. Hatte man sie ohne zu kentern durchquert, war zum Dank ein Besuch in der Kirche des heiligen Goar angeraten (47), die dem gleichnamigen Städtchen eine Art frühen Tourismus bescherte.
Erst mit Einsetzen des allgemeinen Fremdenverkehrs im 19. Jahrhundert begann aber die Geschichte der Loreley wie sie sich heute - weit über deutsche Grenzen hinaus - im kulturellen Gedächtnis festgesetzt hat. Die Einführung einer blonden, weiblichen Verführerin ist laut Mario Kramp ernüchternderweise "das Verdienst eines effektiven Zusammenspiels von Dichtung und Touristik" (62). Während Clemens Brentano 1801 in seinem Roman "Godwi" das Echophänomen des Felsens noch dem Wehklagen einer unglücklich liebenden Frau zugeschrieben hatte, konnte man in dem von Aloys Schreiber hauptsächlich für englische Touristen verfassten "Handbuch für Reisende am Rhein" 1818 erstmals schwarz auf weiß von einer männermordenden Verführerin lesen: "Viele, die vorüberschifften, gingen am Felsenriff oder im Strudel zugrunde."(62). Der Schritt vom Opfer zur Täterin brachte der Loreley zunehmende Popularität und dem Felsen immer mehr Touristen. Mit den ersten Dampfschiffen der Köln-Düsseldorfer Schifffahrtsgesellschaft konnten ab 1853 einheimische und ausländische Touristen in gepflegter Atmosphäre den Fels aus nächster Nähe bestaunen. Zur Verstärkung des durch die romantischen Eindrücke hervorgerufenen wohligen Schauerns beschäftigte die Gesellschaft laut Kramp eigens einen so genannten "Troglodit", der in einer Höhle hauste und durch Hornblasen oder Schüsse das Echo hervorrief (63). Eine der zahllosen unterhaltsamen Informationen dieses Buches verdanken wir Victor Hugo, der berichtet, dass jener Höhlenbewohner ein Veteran der napoleonischen Armee war, der sich am Rhein niedergelassen hatte (64).
Heinrich Heines berühmtes Gedicht von 1823 erwähnt weder die Zwerge noch den "Troglodit", aber es verlieh der Geschichte und dem Ort jene romantisch-melancholische Stimmung, die für eine bis nach Japan reichende Berühmtheit sorgte (vgl. den Beitrag von Eun-Kyoung Park zur Loreley-Rezeption in Asien, 180 ff.). Grund für diesen Erfolg ist laut Joseph A. Kruse u.a. jene psychologisch interessante Darstellung einer unbestimmbaren Trauer, die sich nicht zwischen Wissen und Glauben zu entscheiden vermag, und die schon aus dem ersten Satz des Gedichtes spricht (71).
Die bildende Kunst interessierte sich hingegen mehr für den erotischen Aspekt der Geschichte. Schon 1835 malte Carl Joseph Begas eine leicht bekleidete Loreley (Kreismuseum Heinsberg), die unerreichbar für die ertrinkenden Schiffer deren Untergang auf der Laute begleitet (82). Anhand dieses Bildes nimmt Bettina Baumgärtel in ihrem Beitrag (93 ff.) eine feministische Analyse vor und kommt zu dem Schluss, dass sich die Macht der Loreley "nur unter dem begehrenden Blick" (97) des männlichen Betrachters konstituiert, der seine Wünsche und Sehnsüchte auf sie überträgt: "So ist die Loreley weniger ein Racheengel, vielmehr repräsentiert sie den narzisstischen Selbstbetrug des Mannes. Sie ist letztlich das literarisch-bildkünstlerische Sinnbild für die (tödliche) Melancholie des romantischen Künstlers, genauer gesagt für die Schaffenskrise des Künstlers im 19. Jahrhundert." (99). Eine ganz andere Interpretation des Frauenbildes liefert Marie-Louise von Plessen im Vergleich der Figuren von Loreley und Germania (117 ff.), und das lange Fortwirken dieses vielfach gebrochenen Inbegriffs der Verführung beweist Marilyn Monroe im Film "Blondinen bevorzugt", wenn sie in ihrer Rolle als Lorelei Lee sagt: "Ich kann schlau sein, wenn es darauf ankommt, aber die meisten Männer mögen das nicht" (160).
Weniger die weibliche Sagenfigur denn der felsige Ort und seine Lage an "dem" deutschen Strom hat für das Nationalgefühl seit dem 19. Jahrhundert eine Rolle gespielt. Nicht von ungefähr kam es daher, dass die Nationalsozialisten eben jenen Felsen nutzten, um dort 1935/36 eine Thingstätte anzulegen (vgl. den Beitrag von Paul-Georg Custodis, 141 ff.). Wie eine späte Rache mussten da die angeblichen Pläne wirken, über die 1950 in der Zeitung "Neues Deutschland" berichtet wurde: Wie es in dem sozialistischen Blatt hieß, beabsichtigten die US-amerikanischen Besatzungstruppen im Konfliktfall durch eine Sprengung des Loreley-Felsens, den Rhein aufzustauen und damit zunächst die Städte am gesamten Oberrhein unter Wasser zu setzen und anschließend durch Sprengung des entstandenen Dammes mit einer Flutwelle auch den Niederrhein zu überschwemmen. (190 ff.)
Unter den insgesamt 21 Beiträgen dieses Sammelbandes befinden sich außer den hier gesondert erwähnten noch weitere qualitätvolle Aufsätze zum Beispiel zur Loreley-Rezeption in der modernen Kunst sowie zur Parodie des Mythos und nicht zuletzt zur romantischen Landschaftsdarstellung und -beschreibung. Jeder Beitrag wird am Schluss von einem Abstract auf Deutsch und Englisch begleitet. Die sich darin und an vielen anderen Stellen zeigende wissenschaftliche Sorgfalt verleiht diesem Buch den Wert eines kultur- und kunstgeschichtlichen Standardwerks zum Thema Loreley.
Iris Benner