Steffen Alisch: "Die Insel sollte sich das Meer nicht zum Feind machen!". Die Berlin-Politik der SED zwischen Bau und Fall der Mauer (= Berlin & München. Studien zu Politik und Geschichte; Bd. 2), München: Ernst Vögel 2004, 422 S., ISBN 978-3-89650-195-0, EUR 34,00
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West-Berlin war der SED stets ein Dorn im Auge. Zwischen 1952 und 1961 diente es als Schlupfloch für jene, die die DDR verlassen wollten; danach bildete es ein Stück Westdeutschland mitten in der DDR, das deren Bewohnern die Vorzüge des westlichen "way of life" vor Augen hielt. Kein Wunder, dass die SED immer wieder versuchte, diesen "Pfahl im Fleische" des eigenen Herrschaftsbereichs zu beseitigen oder mindestens zu neutralisieren. Während zur Deutschlandpolitik der SED inzwischen eine ganze Reihe von Arbeiten vorliegt und auch deren Berlin-Politik bis zur zweiten Berlin-Krise gut untersucht ist, fehlte bisher eine Studie zur Berlin-Politik der SED zwischen 1961 und 1989. Diese Lücke versucht Steffen Alisch mit vorliegender, aus einer Dissertation hervorgegangenen Monografie zu schließen. Alisch hat dazu Akten der SED, des Ministeriums für Staatssicherheit sowie des Staats- und Ministerrats der DDR verwendet. Obwohl die SED ihre Berlin-Politik als Außenpolitik verstand und daher auch eine Abteilung Westberlin im DDR-Außenministerium (MfAA) existierte, wurden dessen Akten aus unerklärlichen Gründen nicht herangezogen: Der Hinweis darauf, dass für die MfAA-Überlieferung die dreißigjährige Sperrfrist gelte, ist keine hinreichende Begründung dafür, die einschlägigen Akten zu den Sechzigerjahren nicht benutzt zu haben.
Nach einer kursorischen Darstellung der Rahmenbedingungen - gemeint sind vor allem die Machtstrukturen in der DDR und deren berlin-politische Institutionen - sowie einigen Bemerkungen zur ostdeutschen Berlin-Politik zwischen 1948 und 1961 widmet sich Alisch detailliert den Passierschein-Verhandlungen der Sechzigerjahre. Zwar ist schon seit längerem bekannt, dass diese nicht von der SED, sondern von sowjetischer Seite angestoßen wurden; weniger bekannt ist hingegen, dass die SED sich hier ab 1964 sehr viel weniger engagierte und die Verhandlungen 1966 nicht fortsetzte, da sie zu der Einsicht gelangt war, dass sich ihr damit erzielter "Anerkennungsgewinn" nicht vergrößern ließ.
Auch der Rahmen der Berlin-Politik der SED in den Jahren 1969 bis 1971 war durch die sowjetische Politik vorgegeben, die in das Vier-Mächte-Abkommen mündete. Anders als die westdeutsche Seite, besaß die SED in dieser Frage keine Einflussmöglichkeiten auf ihre Blockführungsmacht. Sie durfte lediglich mit dem West-Berliner Senat die von Alisch detailliert behandelten Verhandlungen über den innerstädtischen Reiseverkehr führen. Auch dabei musste sie auf Druck der Sowjetunion bedeutsame Zugeständnisse machen: Dies galt sowohl für den Abschluss des Transit-Abkommens allein mit der Bundesrepublik als auch für die weitgehenden Erleichterungen bei den Einreisen von West-Berlinern in den Ostteil der Stadt. Alischs diesbezügliche Aussagen sind zwar zutreffend; sie sind aber insofern nicht neu, als Mary Elise Sarotte in ihrer - nicht herangezogenen - Monografie bereits 2001 zu ähnlichen Schlüssen gelangt ist. [1] Da sich der Berliner Senat und die DDR-Regierung auf eine Gesamtabgeltung der Gebühren für die Reisen der West-Berliner einigten, flossen zwischen 1972 und 1989 erhebliche Summen aus West-Berlin in die DDR. Wie Alisch zeigen kann, rechnete die DDR weitaus mehr Reisen ab, als tatsächlich durchgeführt worden waren: Während der Senat aufgrund dieser Abrechnungen von knapp 44 Millionen Reisen ausging, hatten tatsächlich nur reichlich 41 Millionen stattgefunden.
In den Siebzigerjahren war die DDR mit Blick auf West-Berlin vor allem auf die Durchsetzung der "Drei-Staaten-Theorie" bedacht. Dementsprechend versuchte sie, ihre direkten Beziehungen zu West-Berlin auszubauen, die Errichtung von Bundesbehörden in West-Berlin zu verhindern und Ost-Berlin möglichst vollständig in die DDR einzugemeinden. Während bei den gegen das Umweltbundesamt gerichteten Aktivitäten keine Divergenzen zwischen der sowjetischen und der ostdeutschen Führung auftraten, versuchte das Moskauer Außenministerium 1976 die Bestrebungen der DDR auf die vollständige Integration Ost-Berlins in den eigenen Staat zu bremsen. Auf die Dauer konnte dessen "schleichende Eingliederung" in die DDR jedoch nicht verhindert werden (222). Überhaupt schien sich der sowjetische Griff über die DDR in der zweiten Hälfte der siebziger und Anfang der Achtzigerjahre zu lockern. Dies wird vor allem in den Verkehrsverhandlungen mit der Bundesrepublik deutlich, die unter anderem die durchgehende Öffnung des Teltow-Kanals betrafen. Während die Sowjetunion hier wiederholt zu bedenken gab, dass die DDR rigide auf Statusfragen beharren und daher nicht mit der Bundesregierung, sondern nur mit West-Berlin verhandeln sollte, erwies sich die ostdeutsche Führung als sehr viel flexibler. Aufgrund ihres erheblichen finanziellen Interesses setzte sich diese über die Einsprüche des "Großen Bruders" hinweg - ein Umstand, der bereits für die Verkehrsverhandlungen insgesamt, aber noch nicht für die Gespräche bezüglich der Berliner Verkehrsprojekte bekannt war.
Während die Arbeit bis zu diesem Punkt eine gewisse Konsistenz aufweist, zerfasert sie in ihren letzten, die Achtzigerjahre betreffenden Teilen. So sind etwa in Kapitel VIII unter der Überschrift "Statusfragen und praktische Politik" so unterschiedliche Dinge wie der Status der Deutschen Reichsbahn in Berlin, die daraus resultierenden Konflikte zwischen Ost und West, der Streik der in West-Berlin tätigen Reichbahnangestellten von 1980 (der mit der Kündigung von 200 Eisenbahnern endete), der Müllexport von West-Berlin in die DDR und die Vereinbarung über die Abnahme von Abwasser durch die ostdeutschen Behörden zusammengefasst, ohne dass ein roter Faden erkennbar wird.
Eine weitere Wendung nimmt Alisch in den letzten beiden Kapiteln vor, in denen es zum einen um die vertieften Kontakte zwischen dem West-Berliner Senat und der DDR seit 1983 geht, als sich der Regierende Bürgermeister von Berlin, Richard von Weizsäcker, zu einem Treffen mit Honecker in Schloss Niederschönhausen im Ostteil der Stadt bereit fand. Zum anderen widmet er sich den seit der Wahlniederlage der West-Berliner SPD von 1981 intensivierten Beziehungen dieser Partei zur SED. Er macht keinen Hehl aus seiner vehementen Kritik dieser Anbiederung an die DDR, die insbesondere auf Seiten der West-Berliner SPD mit einer Absage an die jahrzehntelange Politik der Statuswahrung verknüpft war. Doch er widerspricht sich selbst, wenn er darin einen Erfolg der SED-Politik sieht. Denn sowohl die kompromissbereite Linie von Weizsäckers als auch das Entgegenkommen der Sozialdemokraten kam für die SED Alisch zufolge unerwartet. Dies zeigt letztlich, dass hier kein genuiner Erfolg der Berlin-Politik der SED vorlag, sondern dass es sich bei beiden Vorgängen um Entwicklungen handelte, die in der Bundesrepublik ihren Ausgang genommen hatten.
Insgesamt handelt es sich um eine Arbeit, die zwar meinungsstark daherkommt, aber sowohl in ihrer Komposition als auch in ihrer Argumentation eine Reihe von Schwächen aufweist. Gleichwohl sind die Passagen über die Ost-West-Verhandlungen im Zusammenhang mit der Berlin-Frage im ersten Teil des Buches durchaus lesenswert.
Anmerkung:
[1] Mary Elise Sarotte: Dealing with the Devil. East Germany, Détente, and Ostpolitik, 1969-1973, Chapel Hill / London 2001.
Hermann Wentker