Rezension über:

Edgar Wolfrum: Die Mauer. Geschichte einer Teilung, München: C.H.Beck 2009, 192 S., ISBN 978-3-406-58517-3, EUR 16,90
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Frederick Taylor: Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989, München: Siedler 2009, 576 S., ISBN 978-3-88680-882-3, EUR 29,95
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Rezension von:
Klaus-Dietmar Henke
Institut für Geschichte, Technische Universität, Dresden
Empfohlene Zitierweise:
Klaus-Dietmar Henke: Die Geschichte der Berliner Mauer (Rezension), in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/09/18388.html


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Die Geschichte der Berliner Mauer

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Wie Hiroshima, Auschwitz oder die Freiheitsstatue gehört die Berliner Mauer zu der Handvoll von historischen Weltikonen, mit denen Milliarden Menschen irgendeine Vorstellung verbinden. Neben Hitler ist sie die bekannteste deutsche "Marke" überhaupt. Die staunenswerte Karriere der Mauer selbst bei denen, die wie die meisten nichts von einer Deutschen Demokratischen Republik oder gar einem Politiker namens Walter Ulbricht wissen, liegt nicht so sehr darin begründet, dass sie zuerst als ein Sachzeugnis massenhafter staatlicher Freiheitsberaubung erinnert würde, sondern vor allem darin, dass diese Bastion der Unfreiheit im Zuge der friedlichen Revolution von 1989/90 vom massenhaften Volksprotest zertrümmert wurde.

Wie die Bastille ist die Berliner Mauer (von der wenig mehr erhalten ist als vom einstigen Pariser Staatsgefängnis des Ancien Régime) in kürzester Zeit zu einem globalen Erinnerungsort höchster symbolischer Verdichtung geworden: Sieg der Freiheit; Untergang des Kommunismus; Ende des Kalten Krieges und der Teilung der Welt; Rückkehr Europas; Verwandlung eines Deutschlands, das ausgerechnet an einem 9. November endgültig aus dem Schatten Hitlers getreten zu sein scheint; Wiedergeburt einer Metropole, von der statt Vernichtung Lebendigkeit ausgeht. Natürlich war es die Suggestionskraft der Fernsehbilder mit ihrer digitalen Belebung der archaischen Metapher von den fallenden Mauern, die wie ein Brandbeschleuniger wirkte, um diese Assoziationen mit diesem Ort zusammenzubacken und in das Menschheitsgedächtnis einzubrennen - das ironische Dementi von Gil Scott-Herons "The Revolution Will Not Be Televised".

Dieser Dimension nähert sich die Zeitgeschichtswissenschaft, die Aberhunderte von Aufsätzen und Büchern über Errichtung, Existenz und Überwindung des Sperrwalls in Berlin hervorgebracht hat, zwar nur zögerlich, dennoch rückt auch hier die Vieldimensionalität der Berliner Mauer mehr und mehr in den Vordergrund. So stehen auch bei diesen beiden Neuerscheinungen neben traditionelleren Erzählmustern Neuansätze; runde Jahrestage sind dafür nicht die schlechtesten Geburtshelfer.

Edgar Wolfrums Studie wird den vielfältigen Facetten der Berliner Mauer besser gerecht als die Darstellung Taylors. Zwar muss auch der Heidelberger Zeithistoriker zusammenfassen, was die Forschung zum Thema erarbeitet hat, er bietet darüber hinaus aber auch Anregendes etwa zum SED-Lügengewebe vom "Antifaschistischen Schutzwall" oder zur längsten Leinwand der Welt, der "Pop-Art-Mauer" (108). Unterhaltsam und kenntnisreich würdigt er diese aus den pausenlosen Westberliner Happenings entstandene mauerkünstlerische "Beton-Poesie" (118) und verweist zugleich darauf, dass diese Buntheit eine Mauerästhetik erzeugte, von der die Brutalität des Bollwerks in den achtziger Jahren zum Teil kaschiert wurde.

Glücklicherweise beherzigt Wolfrum seine ohnehin fragwürdige Maxime "erzählen heißt erklären" (9) nicht, sondern legt die politischen, juristischen, ökonomischen, sozialen und mentalen Voraussetzungen und Folgen des Mauerbaus in Ostdeutschland und Westdeutschland zumeist analytisch dar. Neues erfährt man in diesem knappen Überblick naturgemäß kaum, doch ist weithin Bekanntes hier strikt kontextualisiert, pointiert und elegant - "Die Deutschen, die sich beim Mauerfall in den Armen lagen, lagen sich wenige Jahre später in den Haaren" (154) - stimmig zusammengestellt.

Mit der rechtzeitigen Übersetzung des 2006 in Großbritannien erschienenen Buches von Frederick Taylor hoffte der Siedler Verlag wohl, an den Erfolg seines Bestsellers über den Untergang Dresdens anknüpfen zu können; zwei deutsche Dramen objektiv und aus einer Hand gewissermaßen. Das hat nicht recht funktioniert, denn Taylors neues Werk bleibt weit hinter der vorzüglichen Analyse des Bombardements vom 13. Februar 1945 zurück.

Weil "Die Mauer" für das angelsächsische Publikum geschrieben ist, muss man sich erst einmal durch 150 Seiten (ein knappes Drittel des Umfangs) Vorgeschichte kämpfen, die bei der Stadtgründung Berlins und dem Aufstieg Preußens anhebt, sich über die Kaiserzeit und das 'Dritte Reich' bis zum Jahre 1961 heranwälzt, um dann ausgerechnet die überaus komplexe Geschichte des Chruschtschow'schen Berlin-Ultimatums und der zweiten Berlin-Krise kurz abzufertigen. Ohne deren Sezierung müssen die Hintergründe der hazardösen Strategie des Kreml im Dunkeln bleiben. Die bis dato maßgebliche Studie von Gerhard Wettig [1] bleibt unbeachtet, weshalb man aufs Neue die obsolete Theorie von einem SED-Chef vorgesetzt bekommt, der Chruschtschow unerbittlich zum Mauerbau getrieben habe: "Der Schwanz [DDR] wedelte mit dem Hund [UdSSR]." (156)

Auch die Darstellung der zum 9. November 1989 führenden Entwicklungen und Ereignisse - "Endspiel" (451) - ist ärmlich und bringt es tatsächlich fertig, die ungarische Grenzöffnung am 11. September, ein historisches Schlüsseldatum für den Mauerfall und den Zusammenbruch des Staatssozialismus in Europa, nicht einmal zu erwähnen. Die anderen Dimensionen der Berliner Mauer bleiben ohnedies weitgehend ausgeblendet.

Entstanden ist so ein Buch, das unter den Möglichkeiten des bekannten britischen Historikers bleibt, der doch ein Könner ist und es versteht, historische Dramen sorgfältig zu recherchieren, zu strukturieren und in der erzählerischen Meisterschaft angelsächsischer Tradition vor Augen zu führen. Einiges davon blitzt auch immer wieder auf, wenn sich der Autor mit Einfühlungsvermögen etwa Entscheidungsmomenten hinter den Kulissen oder dem Schicksal von Opfern und Gegnern des ostdeutschen Willkürregimes widmet.

Frederick Taylor sagt deutlich, weshalb eine Fixierung auf das 3,60 Meter hohe, "Grenzmauer 75" genannte Bauwerk in die Irre führen kann: "Die Mauer war nicht nur und noch nicht einmal vorrangig eine Berliner Angelegenheit. Sie diente dazu, die Bevölkerung eines ganzen Landes einzusperren." Dieser "Diebstahl der Hoffnung" sei die eigentliche Bürde des Ostens und das "heimtückischste und nachhaltigste Verbrechen seiner kommunistischen Herren" gewesen (527, 523f.).


Anmerkung:

[1] Gerhard Wettig: Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963. Drohpolitik und Mauerbau, München 2006.

Klaus-Dietmar Henke