Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Zweiter Band: 1892-1897. Hrsg. v. Günter Riederer und Jörg Schuster (= Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft; Bd. 50.2), Stuttgart: Klett-Cotta 2004, 776 S., ISBN 978-3-7681-9812-7, EUR 58,00
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Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Dritter Band: 1897-1905 (= Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft; Bd. 50.3), Stuttgart: Klett-Cotta 2004, 1199 S., ISBN 978-3-7681-9813-4, EUR 63,00
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Harry Graf Kessler (1868-1937) lebte ungemein privilegiert: Er war dank des väterlichen Vermögens wohlhabend und unabhängig, genoss eine gute Erziehung, war Mitglied der noblen Canitzer-Studentenverbindung, Dr. jur. und Potsdamer Garde-Reserveoffizier, verkehrte in bildungsbürgerlichen, künstlerischen und adelig-diplomatischen Kreisen, bereiste die Welt, verfügte über mancherlei schöpferische Talente und wirkte in der Kunstwelt. Vor allem schrieb er während 57 Jahren das wohl umfangreichste deutsche Tagebuch jener Zeit. Dessen insgesamt rund 10.300 handschriftliche Seiten werden nun durch eine um das Marbacher Literaturarchiv zentrierte Gruppe von peniblen Bearbeitern in einer neunbändigen Ausgabe vollständig ediert. [1] Die beiden vorliegenden Bände umfassen auf rund 1220 Seiten Notate aus 13 Jahren; 110 Seiten Einleitung der Herausgeber führen in die Hauptfelder von Kesslers Dasein zwischen dem 24. und 37. Lebensjahr ein. 560 Seiten Umfang weisen die Personenregister auf. Es handelt sich also um ein ambitioniertes Großunternehmen, eine kunst- und kulturhistorische Fundgrube, ein editorisches Ereignis, das demgemäß 2004 in den Feuilletons aller großen deutschen Zeitungen gebührend besprochen worden ist. [2]
Auch von der Warte des Historikers - Kunstwissenschaftler oder Germanisten werden legitimerweise ihre jeweiligen Perspektiven haben - sind die Tagebuchbände 1892-1905 zu begrüßen und insgesamt zu loben. Angesichts der Masse des Materials können im Rahmen einer Rezension nur wenige Punkte angesprochen und besonders bemerkenswert scheinende Beobachtungen illustrativ angefügt werden.
Bei den 1220 Seiten Aufzeichnungen lassen sich mehrere Themenkomplexe unterscheiden. Der nach dem Umfang wohl größte Teil betrifft, zumal im dritten Band, die vielfältigen Kunstbetrachtungen Kesslers. Hier werden die großen Meister in den europäischen Museen vom Madrider Prado über den Pariser Louvre bis zu den Londoner Galerien detailliert reflektiert, unter anderem Vélazquez, Giotto und die italienische Renaissance oder die französischen Maler nach 1815. Beobachtungen bei diversen Ausstellungen und in der Begegnung mit einzelnen Künstlern, vor allem Rodin, den Kessler in Deutschland bekannt machte, van de Velde, den er nach Weimar holte, Munch, der 1906 das berühmte Porträt Kesslers malte, und Liebermann, der amüsante Kommentare im Berliner Schnodderton abgab, ergänzen diesen für Kesslers Leben zentralen Gegenstandsbereich. Die gemeinsame Arbeit mit Hofmannsthal am Libretto zu Richard Strauß' Rosenkavalier (1909) lag bereits jenseits des hier zu betrachtenden Zeitraumes.
An zweiter Stelle stehen Reisenotizen, denn Kessler unternahm 1892 eine Weltumrundung und 1896/97 eine Reise in die USA und nach Mexiko, das ihn faszinierte und zum Buch "Notizen über Mexiko" inspirierte. Zahlreiche treffende und einige vorschnelle völkerpsychologische Beobachtungen, etwa seine Einschätzung (Bd. 2, 144), dass die Verhaltensmaxime in Japan laute, Gesicht wahren und heitere Miene machen, können hier nicht referiert werden. Zudem beschrieb Kessler vielfach die Atmosphäre von Orten, die er bei seinen Touren zwischen Kleinasien, Griechenland, Italien und Nordwesteuropa besuchte. Seine Dauerziele London und Paris regten ihn zu vergleichenden Betrachtungen an.
Kesslers persönlich-privates Leben und Wirken dürften mengenmäßig erst die dritte Stelle einnehmen. Hier erfahren wir mancherlei über die 1895-1900 erscheinende Kunstzeitschrift PAN, den sezessionistischen Deutschen Künstlerbund, sein Engagement im Nietzsche-Kult sowie seine Arbeit als die Moderne fördernder Chef des Weimarer Museums für Kunst und Kunstgewerbe 1902-1906. Indessen fasst er sich dabei oft eigentümlich knapp, sodass es sich empfiehlt, zur Gewinnung des Überblicks die eingehenden Kessler-Biografien zur Hand zu haben beziehungsweise parallel zu lesen. [3] Nicht ganz zu Unrecht ist deshalb von Rezensenten moniert worden, dass eine die Zusammenhänge erklärende Kommentierung ausführlicher hätte ausfallen dürfen, selbst wenn im Register manches erläutert wird. Das Gerüst dieses Teils besteht aus einer nicht enden wollenden Reihe von Frühstücken, Diners ("Abends im Kasino Bieberstein abgegessen", Bd. 2, 355), Salonabenden und Besuchen. Diese Notizen zu Äußerlichkeiten werden indessen durch ein weitgespanntes Panorama von richtigen, jugendlich-unausgegorenen, zeittypischen und fragwürdigen Beobachtungen ergänzt. So prophezeit Kessler 1895, dass Autos die Droschken in 5-15 Jahren verdrängen werden (Bd. 2, 360); glaubt er, dass wir für Richard Wagners "Psychologie [...] vielleicht erst in hundert Jahren reif sein" werden (Bd. 2, 417); stellt er kulturaristokratische Reflexionen über das Herabsinken der Bildung ins Volk und deshalb drohende Gefahren für die europäische Geistesentwicklung an (Bd. 3, 375); urteilt er im vergleichenden Blick auf England, "Demokratie heißt Zeitungsherrschaft. [...] Da der reichste Mann die meisten Leitartikel bezahlen kann, sind Demokratie und Caesarismus Verkleidungen der Plutokratie" (Bd. 3, 423); spekuliert er zeitgebunden, "Die Juden sind offenbar eine Mischrasse, die auch von eingewanderten germanischen Stämmen mitgebildet worden sind" (Bd. 3, 434), und notiert er in London (Bd. 3, 606) zu dem öfter berührten Thema Sexualität, "Vorherrschaft des Sexuellen bei Mischlingen vielleicht weil Alles Andre im Aufruhr gegeneinander und schwach ist, der Geschlechtstrieb allein von allen Rassen her gleich ist (dagegen allerdings die Impotenz der Tierbastarde)".
Kesslers unter inneren Konflikten erwachende, allenfalls spät und punktuell gelebte Homosexualität, die neueren Biografen offenkundig erscheint, zieht Herausgeber Jörg Schuster in seiner Einleitung (Bd. 2, 30 f.) in Zweifel, da eindeutige Beweise fehlten. Mehrere Stellen (u. a. Bd. 2, 468, Bd. 3, 84 und 502), vor allem die Beschreibung von Kesslers Gefühlen gegenüber dem 1896 heiratenden Regimentskameraden Otto von Dungern, liefern jedoch deutliche Hinweise. Hier liest man von den im Internat Ascot wie der Potsdamer Kaserne erlebten "heftigsten und intimsten Schmerzen", die er sogar unter Hingabe aller ungetrübten Stunden erneut auszukosten wünschte: "In Eton beim Anblick der leichtbekleideten flinken Jungen noch einmal Etwas vom selben Gefühl". Kesslers Nicht-Beziehung zu Frauen wie seine eigentümliche Distanziertheit, die sich sehr gut mit dieser besonderen Verletzlichkeit erklärt, sind weitere unterstützende Indizien. Und dem in die Diplomatie strebenden Kessler musste die gesellschaftliche Ächtung, die er bei Oscar Wilde miterlebte (Bd. 3, 557), geradezu Entsetzen bereiten. Kurzum: Eine gut gemeinte Retouche an Kesslers Persönlichkeitsbild, um "den Helden" von einem doch wieder als Makel empfundenen Epitheton freizuhalten, wäre einfach unangebracht.
Überraschende Mitteilungen politischen Inhalts finden sich relativ selten, so wenn Kessler Theodor Mommsens Diktum überliefert, da die Verfeindung mit England offenbar unumkehrbar sei, müsse Deutschland sich um jeden Preis mit Amerika gut stellen (Bd. 3, 520). Grundsätzlich stand der kaiserzeitliche junge Kessler - anders als der erfolglose Reichstagskandidat der Deutschen Demokratischen Partei und Linksintellektuelle der Weimarer Republik - noch auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Allerdings notiert er gelegentlich Kritik an der deutschen "Weltpolitik" (Bd. 3, 407) oder an Kaiser Wilhelm II. (Bd. 3, 464). Nicht zuletzt sammelte Kessler monatelang Unterschriften für einen, den friedlichen Ausgleich mit England propagierenden offenen Brief, den Geistesgrößen von Adolf Harnack bis Wilhelm Wundt zeichneten und der im Januar 1906 gleichzeitig in der Times und deutschen Zeitungen erschien. [4] Bezeichnend für die politische Haltung führender Bildungsbürger der Zeit waren die dabei geäußerten Bedenken von Richard Strauss wie von Gerhart Hauptmann, die meinten, man dürfe sich gegenüber England nichts vergeben (Bd. 3, 809 f.), die glatte Ablehnung durch Stefan George, da ein Krieg ja kein so großes Unglück sei (Bd. 3, 818), und die Ansicht von Robert Koch, dass die Engländer Deutschland wegen seiner kommerziellen Fortschritte unweigerlich hassten (Bd. 3, 824).
Die Edition verfährt fast überkorrekt; beispielsweise wird die Schreibweise Kesslers buchstabengetreu übernommen - bis hin zu offenkundig aus Flüchtigkeit weggelassenen Punkten bei Umlauten. Auch die Vignetten-Zeichnungen, die Kessler gelegentlich einfügte, werden als Faksimiles wiedergegeben. Unrichtig dürfte hingegen die Verwendung des griechischen Buchstaben α (ab Bd. 2, 241 vielfach) anstelle des vielleicht in Ascot oder von der irischen Mutter gelernten, im Englischen geläufigen Kürzels "&" für "und" sein. Im umfänglichen Personenregister - Kesslers Tagebücher weisen insgesamt über 15.000 Namen auf - findet man bereits in den vorliegenden beiden Bänden eine ansehnliche vierstellige Zahl von Nennungen, sodass die Verwendung als nützliches Nachschlagewerk für die deutsche Kunst- und Geisteswelt inklusive der wilhelminischen Berliner Gesellschaft empfohlen werden kann. Allerdings werden bei Nebenpersonen meist kaum mehr als Lebensdaten und Beruf angegeben. Nur bei wenigen Namen hätte Historiker-Hilfe etwas ergänzen können, so bei dem Dirigenten im Auswärtigen Amt Georg Paul Humbert (1839-1898) beziehungsweise bei dem Kunstreferenten im preußischen Kultusministerium Erich Müller (1851-1926), oder bleibt etwas zu korrigieren, so beim "Minister" Wilhelm von Redern, der recte als Ministerresident figurieren sollte. Der Regimentskamerad Valentiner (Bd. 2, 155) dürfte als nachmaliger Ministerialrat und Göttinger Universitätskurator Justus Theodor (1869-1952) zu identifizieren sein. Verschiedentlich werden gängige Rufnamen unter den vier bis fünf Vornamen nicht hervorgehoben, etwa bei den Grafen Georg und Hans von Kanitz - eine unschöne, leider bei Editionen gängige Manier. Die Lesung Knesebecks für das Kapitel des Schwarzen Adlerordens (Bd. 2, 228) bezieht sich nicht - wie angemerkt - auf dessen von Hermann Hengst herausgegebene Mitgliederliste, sondern auf die Kapitel genannte Sitzung der Ordensinhaber. Im Register, wo auch die Hauptorte des Geschehens wie Berlin eingetragen sind, fehlen einige Lokalitäten, etwa die bekannte Berliner Kasinogesellschaft, Pariser Platz 3 (ab Bd. 2, 227 dutzendfach genannt), ein hochkonservativer Adels- und Offiziersclub, dem Kessler im März 1895 ebenso beitrat wie dem Pferderennen veranstaltenden Union-Club (Bd. 2, 335, 337).
Aber diese (vermehrbaren) Details bleiben angesichts der Fülle der identifizierten Personen wie der Editionsqualität insgesamt Petitessen. Die Publikation der Tagebücher eines Mannes, der alle kannte, ist unzweifelhaft ein Gewinn für die kulturhistorische Forschung, und die beiden Bände erweisen sich auch für den Sozial- oder Kunsthistoriker als durchaus nützlich. Eine geplante CD-Version wird die gezielte Suche erleichtern.
Anmerkungen:
[1] Die Auswahl-Edition von Wolfgang Pfeiffer-Belli (Hg.): Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918-1937, Frankfurt/M. 1961 u. ö. wird damit demnächst obsolet werden. Die Werk-Ausgabe Harry Graf Kessler: Gesammelte Schriften in drei Bänden, hg. von Cornelia Blasberg und Gerhard Schuster, Frankfurt/M. 1988, ist hingegen weiter heranzuziehen.
[2] Vgl. die nützlichen Zusammenfassungen der Zeitungsrezensionen im Internet-Portal Perlentaucher.de (zu Bd. 2, URL: http://www.perlentaucher.de/buch/17373.html; zu Bd. 3, URL: http://www.perlentaucher.de/buch/19389.html) sowie die schöne, perspektivenreiche Besprechung von Karl Schlögel: Das Jahrhundertprotokoll, in: Merkur, Heft 663, 2004, 557-568.
[3] Vgl. Peter Grupp: Harry Graf Kessler 1868-1937. Eine Biographie, München 1995; Burkhard Stenzel: Harry Graf Kessler. Ein Leben zwischen Kultur und Politik, Weimar 1995; Laird McLeod Easton: The Red Count. The Life and Times of Harry Kessler, Berkeley 2002. - Bildliche Anschaulichkeit vermittelt die gelungene 45-minütige Fernsehdokumentation von Sabine Carbon: Harry Graf Kessler - Der Mann, der alle kannte (RBB/SWR 2004).
[4] Vgl. Easton: The Red Count, 140 ff. (vgl. Anm. 3).
Hartwin Spenkuch