Eagle Glassheim: Noble Nationalists. The Transformation of the Bohemian Aristocracy, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2005, xiii + 299 S., ISBN 978-0-674-01889-1, GBP 28,95
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Die Frage der Restitution adeligen Landbesitzes, der nach 1945 aufgrund der so genannten Beneš-Dekrete in der CSR enteignet wurde, füllt noch 2006 die Zeitungsspalten; regelmäßig weisen tschechische Behörden die Ansprüche ab; Adelige seien in den Nationalsozialismus verstrickt. Die vorliegende überarbeitete Dissertation, an der New Yorker Columbia University bei Istvan Deak entstanden, ließe sich grosso modo zugunsten der Argumentation der Adeligen verwenden. Zuvörderst ist es jedoch eine kompetente wissenschaftliche Abhandlung über die nationale Verortung des Adels in Böhmen, zudem eine knappe Gesamtdarstellung seines reichen Segments zwischen dem späten Habsburgerreich und 1946/48. Glassheim kann sich dabei auf die seit den 1980er-Jahren umfangreiche wissenschaftliche Literatur stützen; er hat zudem Quellenbestände in Prager Ministerialarchiven sowie Gutsarchive in Gebietsarchiven eingesehen und nutzt aussagekräftige Privatdrucke. Klar gegliedert mit (zuweilen zu) vielen Unterkapiteln, in eingängiger Sprache verfasst und mit resümierenden Sätzen versehen, bleibt die Argumentation meist deutlich. Eingebettet in die allgemeine Historie wird eine im Kern politische Geschichte von Adelsidentität dargelegt, und der Adel als maßvoll, ja ausgleichend, am Ende fast als tragisches Opfer des Nationalismus eingestuft.
Der Adel bildete um 1900 unangefochten die ländliche Besitz-Elite Böhmens: 362 Familien besaßen 36% des Landes; den reichsten 38 Großgrundbesitzern gehörten 18% des Bodens (13). Zwar war ein Großteil des Adels erst nach 1620 durch Habsburger Monarchen mit Ländereien versehen worden, aber die Identifikation mit Böhmen war schon im frühen 19. Jahrhundert so stark, dass diese Familien wohl am Wiener Hof und in Regierungsämtern präsent waren, aber sich zugleich für indigene böhmische Kulturgüter einsetzten. Zweige der Thuns, Sternbergs und Schwarzenbergs förderten u. a. die Gründung des Prager Nationalmuseums in den 1820er-Jahren (17, 19). Josef Mathias Graf Thun schrieb 1845, er sei weder Deutscher noch Tscheche, sondern Böhme (27). Die Berufung auf das überkommene böhmische Landesrecht diente der Besitz- und Rechtewahrung wie der Vermeidung einer entweder national-deutschen oder national-tschechischen Positionierung.
Im nationalistischen späteren 19. Jahrhundert wurde dann doch vom Adel verstärkt nationale Eindeutigkeit eingefordert. Zwei Gruppen bildeten sich, der mehrheitliche deutsch-liberale und auf Wien orientierte verfassungstreue Grundbesitz und der minderheitliche, regionalistisch ausgerichtete so genannte feudal-konservative Teil, der aber nicht bloß reaktionär, sondern auf die Bewahrung des traditionellen bilingualen Böhmen bedacht war. Beide Gruppierungen waren in das do ut des des politischen Alltags der späten Monarchie eingebunden; weder isoliert, noch scharfmacherisch. Feudalkonservative wie Friedrich Schwarzenberg-Worlik erkannten schon 1862, dass der Adel Wurzeln im Volk haben müsse, weil nur so die Revolution abzuhalten sei (28). Sein Neffe Bedrich trat 1896 im Wiener Reichsrat für sprachliche Gleichberechtigung in Böhmen ein. Feudalkonservative, Klerikale, und tschechische Nationalpartei trugen die Regierung Taaffe 1879-91 (30). Trotz der allmählichen Dominanz von nationalistischen Jung-Tschechen erhielt sich eine punktuelle Allianz von Feudalkonservativen und Tschechen-Partei. Zeitgleich gerierten sich die politischen Verbündeten des verfassungstreuen Grundbesitzes, Liberale und insbesondere Christlich-Soziale, deutlicher nationalistisch. Adelige wie Alain Rohan und Oswald Thun sahen das als schädlich für die deutsche Sache an (36 f.). So wurden beide Adelsgruppen von nationalistisch orientierten Nachbar-Parteien in inhaltlich entgegengesetzte Richtungen gezogen, was Glassheim zufolge die Dilemmata der "no-win choices" (37) schuf.
Die national-liberale tschechische Republik stellte den Adel vor neue Herausforderungen. Er wurde als "internationales Konglomerat" (45) von Ausländern und opportunistischen Pseudo-Tschechen angesehen. Insbesondere die von Liberalen und Sozialdemokraten gleichermaßen betriebene Landreform bedrohte die ökonomische Basis des Adels. Allerdings gab es Gegenkräfte wie den Historiker Josef Pekar (66 ff.) oder die konservative tschechische Agrarpartei, die gegen Enteignungen war. Da der Adel nicht länger in Staatsämtern vertreten war, gründete er Standesorganisationen, die Union tschechischer Grundbesitzer (kurz: Svaz) bzw. den Verband der deutschen Großgrundbesitzer (84). Beide verteidigten adelige Eigentumsrechte, aber Erstere mit dem Argument der Loyalität zum neuen Nationalstaat, Letzterer mit dem Argument von Minderheitenrechten gemäß Völkerbund-Grundsätzen. Im Einzelfall fuhren tschechische Loyalisten nach Intervention in Prag besser, aber auch sie erlitten Landverluste (100), sodass noch etwa die Hälfte des Adelsbesitzes verblieb (132). Die Sozialgruppe Adel, obwohl nun deutlicher erkennbar tschechisch respektive deutsch-österreichisch orientierte Gruppen umfassend, blieb sozial auch in der Republik durch Heirats- und Verkehrskreise, deutsche Sprache und Schulbesuch, Lebensweise und Wirtschaftsinteressen relativ geeint (122 ff.). In den 1930er-Jahren erfuhr der tschechisch orientierte Adel sogar eine Aufwertung, u. a. wurde Bedrich Schwarzenberg bei seinem Tod 1936 als Förderer Tschechiens geehrt (133). Agrarpartei und konservative Katholische Volkspartei waren adelsfreundlicher als die Nationaldemokraten und saßen nun - übrigens zusammen mit deutschen Parteien - in der Regierung. Die alten Feudalkonservativen waren Anhänger der Katholisch-Konservativen und sahen im sozial engagierten, aber zugleich konservativen Ständestaat ein Modell mit prominenten Positionen für sich selbst.
Die fatale Zuspitzung war extern bedingt - durch den auf Böhmen und die Sudetendeutsche Partei ausgreifenden Nationalsozialismus. Eine loyalistische Gruppe unter Führung der Schwarzenberg, Lobkowicz und Kinsky, aber auch mit Rudolf Czernin und Hugo Strachwitz, reagierte, indem sie Präsident Beneš im September 1938 ihre Treue zum tschechischen Staat erklärte. Hierin sieht Glassheim die erstmalige Dominanz nationaler Identifikation über materielles Großgrundbesitzer-Interesse (157 f.), denn opportunistisch konnte man eine solche Erklärung inmitten der Krise nicht nennen. Erst nach der Annexion 1938/39 wandten sich zahlreiche deutsch-böhmische Adelige den neuen nationalsozialistischen Herrn zu. Glassheim lässt leider im Unklaren, welcher Anteil anzusetzen ist (189), aber schreibt, Kollaboration wie Widerstand seien "modest in scope" gewesen (192). Zudem gab es im September 1939 eine zweite Loyalitätserklärung von 69 Adeligen, darunter auch deutschsprachigen (198 ff.). All das blieb ohne Effekt auf das Adels-Schicksal in Kriegs- und Nachkriegszeit: Der liberale Propagandist des Europa-Gedankens Richard Coudenhove verließ das Land 1939, der deutschnationale Alfons Clary-Aldringen trat in die NSDAP ein und wurde nach Internierung 1946 ausgewiesen, aber auch Widerständler wie Joachim Zedtwitz oder Jindrich Kolowrat, die in der ersten Nachkriegszeit noch Posten innehatten, mussten mit der kommunistischen Machtübernahme vom Februar 1948 ins Exil (205 f.). Schon davor konfiszierte der Landfonds 510 Adelsgüter (215); die Adeligen verließen Böhmen und Mähren. Nach 1989 war Karl VII. Schwarzenberg fast der Einzige, der in den Dienst des neuen tschechischen Staates treten durfte. Besitzteile erhielten nur wenige Adelige zurück; die Beteiligung der Familie Rohan am Umbau ihres Schlosses zum Tagungszentrum blieb Ausnahme (232).
Glassheim demonstriert am Beispiel des Adels die aktuell debattierten multiplen Identitäten, die in parteipolitischer, sozialer, regionaler oder nationaler Hinsicht nicht zusammenfallen. Er konstatiert in Bezug auf die binationale adelige Haltung, dass "noble hybridity proved an effective survival strategy, at least until the Second World War" (9). Der reiche Adel als durch Habitus, Endogamie oder Verkehrskreise abgegrenzte Kleingruppe konnte sich mit der tschechischen Nation arrangieren. Besitzwahrung und Standesidentität besaßen so beim Adel Böhmens Priorität gegenüber nationaler Identifikation. Der Adel als politisch lange eher ausgleichende Kraft und letztlich als Opfer von Nationalismus und Kommunismus, dies ergibt keine schlechte Bilanz, zumal im Vergleich mit Adelsgruppen wie Preußens Junkern. Ob das von Glassheim in Übereinstimmung mit anderen Autoren [1] entworfene wohlwollende Bild des böhmischen Adels in toto stimmt, muss die weitere Forschung erweisen. Ein gerade erschienener Forschungsbericht [2] bekräftigt tendenziell das Bild vom vergleichsweise modernen, effizient wirtschaftenden, lokal angesehenen, in zivilgesellschaftliche Aushandlungsprozesse über Wirtschaftsmacht und Herrschaftsrechte eingebundenen, binationalen böhmischen Adel. Ob die Bindekräfte dabei in Lebenswelt und Kultur oder in bewusster kluger politischer Haltung zu suchen sind, diese Frage bleibt debattierbar, aber vielleicht sekundär gegenüber einer positiv zu akzentuierenden historischen Gesamtbilanz für den vertriebenen böhmisch-mährischen Adel.
Anmerkungen:
[1] William D. Godsey: Nobles and Modernity, in: German History 20,4 (2002), 504-521.
[2] Tatjana Tönsmeyer: Der böhmische Adel zwischen Revolution und Reform 1848-1918/21, in: Geschichte und Gesellschaft 32,3 (2006), 364-384.
Hartwin Spenkuch