Helma Brunck: Bismarck und das Preußische Staatsministerium 1862 - 1890 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Bd. 25), Berlin: Duncker & Humblot 2004, 363 S., ISBN 978-3-428-11484-9, EUR 79,80
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Allenthalben regt sich seit 1990 ein neues Interesse an der "großen Politik". Seit dem Ende des weltpolitischen Ost-West-Gegensatzes sind die nationalen politischen Institutionen wieder verstärkt in den Mittelpunkt des öffentlichen, aber auch des politik- und geschichtswissenschaftlichen Interesses getreten. Der Nationalstaat als politischer Akteur und mit ihm seine Institutionen erhielten seitdem eine neue Aufmerksamkeit. Neu war dieses Interesse an den Institutionen des Politischen schon. Die Sozialgeschichte der Siebzigerjahre hatte vor allem die sozialen und strukturellen Voraussetzungen von Politik, die Kulturgeschichte der Achtzigerjahre die kollektiven Muster ihrer politischen Deutung und Aneignung betont. Der Politikbegriff war damit tendenziell entstaatlicht worden. Neue Formen der Politikgeschichte, die ihre Bewegungsformen, ihre Geschlechterabhängigkeit und ihre Versprachlichung untersuchen, haben sich seitdem entwickelt. Angesichts des neuen Interesses an politischen Institutionen stellt sich sofort die Frage, ob es sich dabei um eine Rückkehr zur alten Politikgeschichte der Kabinette aus der Zeit vor der theoretischen und empirischen Neufundierung der Geschichtswissenschaft in den Siebzigerjahren handelt oder um eine neue Politikgeschichte, wie sie etwa in den letzten Jahren von Ute Frevert entwickelt wurde. Kurz: Gibt es einen Weg zurück hinter die Einsichten der letzten Generation? [1]
Besonders gravierend wird diese Frage bei Untersuchungen zu denjenigen Institutionen, die traditionell im Zentrum des historischen Interesses stehen. Die Mainzer Historikerin Helma Brunck, hervorgetreten mit Arbeiten zur Deutschen Burschenschaft in der Zwischenkriegszeit, hat jetzt eine Studie zum Verhältnis zwischen Bismarck und dem preußischen Staatsministerium zwischen 1862 und 1890 vorgelegt. Die Autorin fragt nach den Ursachen für Bismarcks dominante Stellung im kollegialen Gefüge des preußischen Staatsministeriums, das bis auf die Zeit des Staatskanzlers Hardenberg keine Weisungsbefugnis des Ministerpräsidenten kannte, der "primus inter pares" blieb. Um die Durchsetzungsgeschichte Bismarcks in diesem Kollegium zu erklären, will die Studie die Institution des Staatsministeriums, seinen Personalbestand, seine Ernennungs- und Rekrutierungsmuster, Bismarcks politisches Bewusstsein, seine Persönlichkeit und seinen Charakter untersuchen (14). Gegliedert ist die Darstellung in Kapitel, die entlang der bekannten Zäsuren der politischen Ereignisgeschichte organisiert sind: den Beginn des Verfassungskonfliktes 1862, die Gründung des Norddeutschen Bundes 1866, den Höhepunkt der liberalen Ära 1873, die innenpolitische Wende 1879 und den Abgang Bismarcks als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident 1890. Der Schwerpunkt der Studie liegt eindeutig auf der Zeit von Bismarcks Amtsantritt 1862 bis 1879, also dem Ende der liberalen Ära. Die verbleibenden zwölf Jahre von Bismarcks Zeit als preußischer Ministerpräsident bis 1890 werden auf acht Seiten abgehandelt.
Die Quellenlage zum Preußischen Staatsministerium ist schon deswegen besonders günstig, weil in jüngster Zeit mehrere Bände der Protokolle des preußischen Staatsministeriums aus dem an der Berliner Akademie der Wissenschaften beheimateten und groß angelegten Editionsunternehmen der "Acta Borussica" erschienen sind. [2] Diese Editionen hätten die Möglichkeit geboten, in einer umfassenden Studie über die ältere staatsrechtliche und stark hagiografische Literatur zum Staatsministerium in einer modernen Studie hinauszugehen. [3] Diese Hoffnung erfüllt sich in dem vorliegenden Buch nicht. Dagegen sprechen drei Beobachtungen zur Behandlung des Staatsministeriums, zum Zugriff auf die Person Bismarcks und generell zum Verständnis von Politikgeschichte.
1. Zum einen die Institution Staatsministerium: Die Autorin verengt das Staatsministerium auf einen Personenverband von Ministern. Sie zielt damit auf die klassische Frage der Elitenrekrutierung: Wer wurde von wem zum Minister gemacht? Hierzu finden sich im Anschluss an Otto Pflanze, Ernst Rudolf Huber, den Nachlass Bismarcks und die Friedrichsruher Ausgabe seiner Werke denn auch umfangreiche Ausführungen. Sie vertiefen den Kenntnisstand zu individuellen Präferenzen und Abneigungen. Dabei bestätigen sich Sachverhalte, die auf der Hand liegen und längst bekannt sind: nämlich dass die Mitglieder des Staatsministeriums in ihrer ganz überwiegenden Mehrzahl Adlige waren, aus Preußen kamen und protestantisch geprägt waren - mit zwei Ausnahmen: den getauften Juden Heinrich von Friedberg (Justizminister) und Rudolf Friedenthal (Landwirtschaftsminister). Das Staatsministerium wird dabei nicht als politische Institution im Zentrum des Reiches, sondern als Ort von Aushandlungsprozessen zwischen wichtigen Persönlichkeiten gesehen. Politische Auseinandersetzungen finden in dieser Studie nicht zwischen Politikentwürfen oder parteiähnlichen Gebilden, sondern zwischen Ministern statt. Die Politikentwürfe, ihre Modernisierungspotenziale und -verweigerungen bleiben genauso unerörtert wie die zentralen Konflikte des Reiches in den 1870er-Jahren. Die Bedeutung des Kulturkampfes wird verkürzt auf den Sturz des Kultusministers Heinrich von Mühler und die Ernennung Adalbert Falks (231-242). Das Sozialistengesetz wird noch knapper auf zwei Seiten (266-268) behandelt. Bei alledem stand das Staatsministerium aber im Zentrum des Geschehens. Seine Initiativen zur Gesetzgebung, die nachher umgesetzt wurden, bleiben zumal in den Ausführungen über den Kulturkampf auf der Strecke. Auch die 1878 zeitweilig erwogene Ministerkandidatur des Nationalliberalen Rudolf Bennigsen wird nicht diskutiert. Mit ihr hätten sich die politischen Gewichte im Staatsministerium verschoben. Ein angemessenes Bild von der Bedeutung des preußischen Staatsministeriums entsteht so nicht. Kabinettsrochaden spiegeln zwar politische Veränderungen, zeigen aber noch nicht ihre Ursachen und Durchsetzungschancen an.
2. Sodann Bismarck: Der personalisierte Politikbegriff der Autorin führt die Durchsetzung Bismarcks im Kollegialorgan Staatsministerium auf seine Persönlichkeit zurück. Sein "Machtbewusstsein, das ihn lieber 'befehlen' als 'gehorchen' ließ", befähigte ihn angeblich, "dass er die für ihn günstigsten Strömungen der Zeit und Situationen erkannte, um daraus größtmöglichen Nutzen für seine spätere Karriere zu ziehen" (63). Die Studie neigt zur Überhöhung der Person Bismarcks, in der alle wichtigen Entwicklungen ihren Ausgangspunkt finden. Konsequenterweise ist von Bismarcks Niederlagen wie im Kulturkampf gegen die Zentrumspartei und Ludwig Windthorst nicht die Rede. Auch die spannungsreiche Auseinandersetzung um die preußische Kreisordnung von 1873 und der konservative Widerstand dagegen werden nicht eingehend behandelt. Der Bismarck, der ein Bündnis mit den Liberalen einging, scheint die Autorin nicht zu interessieren. Damit aber fallen zentrale politische Fragen, für die das Staatsministerium zuständig war, aus dem Blickfeld heraus. Der vermeintlich objektive Gestus dieser ganz und gar theoriefernen Darstellung entpuppt sich bei näherem Hinsehen als hochgradig wertgeladen. Die politische Mentalität Bismarcks mutiert zur persönlichen Psychologie. So ist von Bismarcks "Feuerprobe" 1866 (167) genauso die Rede wie von seiner "genialen Politik" (168). Mit solchen Formulierungen werden historische Fragen verschüttet, nicht beantwortet. Das Gleiche gilt für die Diskussion des Indemnitätsgesetzes von 1866, das die Autorin als "fairen Kompromiss" (167) bezeichnet. Das implizite Einverständnis vieler späterer Nationalliberaler mit Bismarck war freilich älter. Das Indemnitätsgesetz legte die innerliberalen Spannungen schonungslos offen.
3. Schließlich zum Verständnis von Politikgeschichte: Politik und Politikgeschichte gehen nicht in der Öffnung und Schließung sozialer und politischer Kreise auf. Der politische Konflikt wird in dieser Studie auf den Antagonismus zwischen Ministern und solchen Persönlichkeiten, die es werden wollen, reduziert. Das Politische an der Institution des Staatsministeriums ist damit nicht erfasst. Dabei hätte sich die Orientierung an Personen durchaus mit modernen Ansätzen der Politikgeschichte wie der Netzwerkanalyse und der Kollektivbiografie verbinden lassen und so nutzbar gemacht werden können. Diese Chance nutzt die Autorin nicht.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Ute Frevert / Heinz-Gerhard Haupt: Neue Politikgeschichte Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt / Main 2005. Dies.: Neue Politikgeschichte, in: Joachim Eibach / Günther Lottes (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, 152-177.
[2] Vgl. Acta Borussica, Neue Folge, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Reihe 1: Die Protokolle des preußischen Staatsministeriums 1817-1934/38, Bd. 7.: Januar 1879 - 19. März 1890, hg. von Hartwin Spenkuch u. Bärbel Holtz, Hildesheim 1999; Bd. 8,2: 21. März 1890 bis 9. Oktober 1900, hg. von Hartwin Spenkuch, Hildesheim 2003.
[3] Vgl. u.a. Rudolf von Gneist: Die verfassungsmäßige Stellung des Preußischen Gesamtministeriums und die rechtliche Natur der königlichen Rathskollegia, o.O. 1895; Otto Hintze: Das preußische Staatsministerium im 19. Jahrhundert [1908], in: Regierung und Verwaltung - Gesammelte Abhandlungen, hg. von Gerhard Österreich, Bd. 3, 2. Aufl. Göttingen 1967, 530-619.
Siegfried Weichlein