Winfried Süß: Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2005. Einführung, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.07.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
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Von Winfried Süß
Nur selten berichten die tagesthemen über zeithistorische Forschungen. Anders in diesem Fall: Mit seiner Studie über die "Symbiose von Volksstaat und Verbrechen" (1) hat der Journalist und Historiker Götz Aly eine Aufsehen erregende Neuerscheinung vorgelegt, die in den tagesaktuellen Medien breit und strittig debattiert wird.
Aly wendet sich gegen eine Forschungsperspektive, die den Repressionscharakter des Regimes in den Mittelpunkt stellt. Er interpretiert das "Dritte Reich" als "Gefälligkeitsdiktatur" (36), in der Hitler und seine Satrapen als "klassische Stimmungspolitiker" agiert und dabei in "historisch beispielloser Weise [...] die Mittel des modernen Sozialstaats" (338) entfaltet hätten, um die Zustimmung der Deutschen zum Regime und seinen Verbrechen sicherzustellen. Weniger ideologische Übereinstimmung zwischen Regime und Bevölkerung als Umverteilung und fortwährende "sozialpolitische Bestechung" (89) hätten die NS-Diktatur stabilisiert. Da deren soziale Wohltaten überwiegend aus der Beute der wirtschaftlichen Ausplünderung der Juden und der besetzten Gebiete finanziert worden seien, habe die große Mehrheit der Deutschen direkt oder indirekt von den nationalsozialistischen Massenverbrechen profitiert (38, 324).
Aly beschreibt die NS-Herrschaft als "jederzeit mehrheitsfähige Zustimmungsdiktatur" (333). Seine Analyse enthält gegenüber dem Hauptstrom der zeithistorischen Forschung mehrere perspektivische Verschiebungen: Er richtet seinen Blick auf die Vorteilsnahme breiter Bevölkerungsteile, während die aktuelle Diskussion über Arisierung, Zwangsarbeit und Rüstungsgewinne vor allem auf Besitzende als Nutznießer des nationalsozialistischen Unrechtsstaats fokussiert war. Indem er die Masse der Bevölkerung als Begünstigte einer ebenso "rassen- wie klassenbewusst organisierten Vorteilsnahme" (324) portraitiert, setzt er einen Gegenakzent zu geschichtspolitischen Diskussionen, die 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch für die deutsche Zivilbevölkerung einen Opferstatus reklamieren. Schließlich verknüpft Aly, der ein feines Gespür für den Zeitgeist besitzt, seine Interpretation der NS-Herrschaft mit der aktuellen Debatte über die Krise und die künftige Entwicklung der sozialen Sicherung, indem er im nationalsozialistischen Sumpf nach braunen Wurzeln des westdeutschen Wohlfahrtsstaats gräbt. Diesen Bezug hat der Autor in öffentlichen Stellungnahmen publikumswirksam zu der These verdichtet, "die Sozialverfassung der Bundesrepublik" sei "en detail im Nationalsozialismus vorgeprägt" worden. [1]
Wissenschaft lebt von der Bereitschaft, vertraute Sichtweisen in Frage zu stellen und manchmal auch von der gekonnten Provokation. An diesen Maßstäben gemessen, ist Götz Aly ein beeindruckendes Buch gelungen. Die sehepunkte ergreifen daher gern die Gelegenheit, seine Thesen im Forum zu diskutieren, und verbinden dies mit dem Wunsch, die bisweilen feuilletonistisch geprägte Debatte zu versachlichen.
Anmerkung:
[1] Interview in der taz vom 15.1.2005.