Rezension über:

Sabine Beckmann / Klaus Garber (Hgg.): Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext; Bd. 103), Tübingen: Niemeyer 2005, XVIII + 876 S., ISBN 978-3-484-36603-9, EUR 196,00
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Rezension von:
Detlef Döring
Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Detlef Döring: Rezension von: Sabine Beckmann / Klaus Garber (Hgg.): Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit, Tübingen: Niemeyer 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/09/8070.html


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Sabine Beckmann / Klaus Garber (Hgg.): Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit

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Unter den ostmitteleuropäischen Gebieten, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ganz oder teilweise zum deutschsprachigen Raum gehörten, hat das Territorium zwischen Pommern und Ostpreußen, gemeinhin bekannt als Westpreußen, bisher eher geringes Interesse im deutschen Allgemeinbewusstsein gefunden. Am ehesten sind es noch die in Danzig angesiedelten literarischen Erzählungen von Günter Grass, die wenigstens den Namen der wichtigsten Stadt dieser Landschaft vor dem Vergessen bewahrt haben. Dabei sollte schon die in Westpreußen auf engem Raum zu beobachtende große ethnische, konfessionelle und kulturelle Vielfalt oder die Existenz von Städten von weit überregionaler Bedeutung die intensivere Beachtung der Forschung, aber auch die Aufmerksamkeit der breiteren Öffentlichkeit finden. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass sich 1997 in Danzig ein großer internationaler Kongress dem wohl wichtigsten oder zumindest interessantesten Abschnitt der Geschichte Westpreußens gewidmet hat - der Zeit, als es ein Teil des Königreichs Polen war (1466-1772 bzw. 1793). Weder davor noch danach hat das Land ein solches Maß an politischer Freiheit genossen, das sich befruchtend auch auf die kulturgeschichtliche Entwicklung auswirkte, die das engere Thema der Tagung bildete.

Die jetzt vorgelegten 32 Aufsätze bieten nach Mitteilung der Herausgeber nur einen Teil der tatsächlich gehaltenen Vorträge; ursprünglich sei man von der Teilnahme von 60 Referenten ausgegangen. Jedoch hatten nicht alle Referenten nach Danzig kommen und manche Referenten im Nachgang keine druckfertigen Manuskripte liefern können. In diesem Zusammenhang scheint dem Rezensenten eine kritische Bemerkung notwendig zu sein. Der Zeitraum von acht Jahren zwischen einer Veranstaltung und der Drucklegung der dort gehaltenen Vorträge ist entschieden zu lang, und wenn, so die Herausgeber, inzwischen manche Beiträge anderenorts publiziert wurden, muss man sich nicht wundern. Den meisten jetzt zugänglich gewordenen Texten liegt der Forschungsstand von 1997 zu Grunde, nur in einigen Fällen folgte eine Überarbeitung. Die Herausgeber begründen das damit, dass man "ohne weiteren terminlichen Aufschub" publizieren wollte. Eine solche Praxis dient weder der Sache, noch entspricht sie dem Interesse der Verfasser an der Verbreitung ihrer Forschungsergebnisse. Erfreulich ist dagegen die Feststellung, dass es sich bei der Tagung um ein ausgesprochen deutsch-polnisches Gemeinschaftsunternehmen handelte, wobei in der Druckfassung die Zahl der polnischen Autoren sogar leicht überwiegt. Abgesehen von drei englischsprachigen Aufsätzen werden alle Texte in Deutsch geboten. Positiv zu werten ist auch das deutliche Bemühen der Referenten, das unter nationalen Gesichtspunkten immer noch brisante Thema zu entkrampfen und von den lange vorherrschenden Debatten der Vergangenheit abzurücken, ob Westpreußen einseitig der deutschen oder der polnischen Geschichte zuzuordnen ist.

Das Corpus des Bandes unterteilt sich in zehn Themenschwerpunkte: Historiografie und Landeskunde; städtische Topografie, Historiografie und Mentalität; Konfessionen; Danziger Stadtbibliothek; Gymnasien; Bartholomäus Keckermann; kulturelle Interaktion im Kontext des Ostseeraums; Kunst; Musik; Literatur. Die Zahl der jeweils gehaltenen Vorträge bewegt sich zwischen drei und sechs. Ausnahmen bilden die Beiträge zur Danziger Stadtbibliothek und zu Bartholomäus Keckermann, die sich auf je einen Vortrag beschränken. Diese sind dafür von großem Umfang (54 bzw. 128 Seiten), hätten aber bequem in andere Sektionen (Historiografie bzw. Gymnasien) eingegliedert werden können. Bei dem Keckermann-Beitrag von Lutz Danneberg lässt sich außerdem die Frage stellen, ob nicht eine gesonderte Edition als Monografie günstiger gewesen wäre. Jetzt geht die sehr gehaltvolle Untersuchung im Kontext der anderen Beiträge etwas unter; zum anderen ist der Bezug auf die Jahre Keckermanns in Danzig relativ gering, da sich der Autor auf eine Analyse der Werke konzentriert. Bei nicht wenigen der Aufsätze handelt es sich um keine Originalbeiträge, sondern um überarbeitete Fassungen früherer Publikationen. Das schränkt die Bedeutung der erneuten Veröffentlichung im vorliegenden Rahmen jedoch nur geringfügig ein: Sie finden jetzt eine Zusammenfassung unter dem großen Oberthema Kulturgeschichte des königlichen Preußens, und sie werden (soweit es sich um Übertragungen aus dem Polnischen handelt) dem deutschen Leser in der Regel erst dadurch greifbar.

Unzweifelhaft macht der Band mit zahlreichen neuen Entdeckungen und Einsichten in die Kulturgeschichte des behandelten Territoriums bekannt. Diese können hier nicht im Einzelnen angeführt werden. Der reichste Ertrag dürfte zur Landeshistoriografie (oft in Verbindung zum Landesbewusstsein) vorliegen; allein vier Aufsätze widmen sich diesem Thema. Mit der konfessionellen Problematik beschäftigen sich Referate zum Kolloquium Charitativum in Thorn (1645), zu Johannes Dantiscus, zum Streit um den Danziger Theologen Hermann Rathmann, zum Sozianismus in Danzig. Drei Vorträge behandeln die akademischen Gymnasien und das dort verfasste Schrifttum, wobei allerdings das besonders wichtige Danzig fehlt. Klaus Garbers Beitrag zur Danziger Stadtbibliothek ist ein Musterbeispiel der Bibliotheksgeschichtsschreibung und geht wesentlich über die nicht immer befriedigende Darstellung im "Handbuch der historischen Buchbestände" hinaus. Mehr oder minder zum Bereich der Alltagsgeschichte zählen Ausführungen zum Funeralwesen, zur Armenfürsorge, zur Verbrechensbekämpfung und zum Pressewesen. Die Literatur ist mit Aufsätzen zu den eher marginalen Autoren Johannes Plavius und Daniel Bärholtz vertreten; die Kunst mit Referaten zur Malerei in Elbing, zum Bauwesen und Kunsthandwerk in der gleichen Stadt und zur städtischen Selbstdarstellung Danzigs. Der Musikgeschichte widmen sich Aufsätzen, die alle der Stadt Danzig gelten: der Musik der Renaissance und des Barock, der Oper.

Es ist bei Aufsatzbänden, die einem bestimmten Thema gewidmet sind, sicher nicht schwer, Lücken festzustellen. Die Organisatoren von wissenschaftlichen Tagungen sind in einem erheblichen Maße an die Angebote gebunden, die sich ihnen eröffnen, und selbst die größte Mammutkonferenz besitzt Grenzen ihrer Kapazität. Dennoch sei auf einige besonders wichtige Desiderate verwiesen, die in der Einleitung des Bandes vielleicht hätten angesprochen werden können. Insbesondere Danzig besitzt eine reiche Tradition in der Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften. Es genügt der Hinweis auf Johannes Hevelius, eine Zentralfigur der europäischen Astronomiegeschichte der Neuzeit. Der knapp eingeleitete unkommentierte Abdruck eines Briefes von Hevelius an den Augsburger Gelehrten Langenmantel kann nicht als adäquater Beitrag zu diesem Thema gewertet werden. Von weit überregionaler Bedeutung ist im 18. Jahrhundert der Naturforscher Jacob Theodor Klein, dessen biologische Systematik mit der Carl von Linnés konkurrierte. Sein Anteil an der Gründung der "Naturforschenden Gesellschaft" (1743) verweist auf die Rolle der Sozietäten in Danzig. Westpreußen war sicher in der Hauptsache protestantisch, aber es fehlte nicht an der Präsenz der katholischen Konfession, die im Laufe der Zeit immer stärker an Boden gewann. Vor allem das zum königlichen Preußen gehörende Ermland spielt hier eine bedeutende Rolle, erwähnt sei nur das einflussreiche Jesuitenkolleg in Braunsberg. Im Band wird das nicht thematisiert. [1] Bei allem Wissen um die problematische Rolle, die die Jesuiten in Polen spielten, scheint mir doch die Feststellung gewagt zu sein, mit dem Vordringen des Katholizismus sei den "humanistisch inspirierten Geistern" die Luft abgedreht worden. [2] Auf alle Fälle erschwert eine solche Sichtweise die Einschätzung der kulturellen Bedeutung des Katholizismus. In einem mittelbaren Zusammenhang zur Katholizismusproblematik steht der Blick auf die quantitativ nicht unbeträchtliche Volksgruppe der Kaschuben, die auch unter kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten von einigem Belang ist. Die berühmteste und sicher auch bedeutendste Schriftstellerin deutscher Zunge im 18. Jahrhundert, Luise Adelgunde Victoria Gottsched, hat Kindheit und erste Jugend in ihrer Geburtsstadt Danzig verbracht, zu der sie auch später enge Beziehungen unterhielt. Dass ihr Name nicht ein einziges Mal im Register auftaucht, erscheint bei einer "Kulturgeschichte" doch etwas merkwürdig.

Die Aufzählung von Desideraten soll das Verdienst des Bandes nicht schmälern, der mit manchen Schwierigkeiten konfrontiert wurde, denn die in ihm angesprochenen Problemkreise sind bisher meist nur marginal behandelt worden, und sie bergen immer noch politische Brisanz in sich. So haben wir jetzt endlich einen ersten repräsentativen Beitrag zum Thema vor uns, der, so ist jedenfalls zu hoffen, seine Fortsetzung finden wird. Das vorliegende Buch wird nicht in jeder Hinsicht, aber doch in vielerlei Richtung den Weg weiterer Forschungen weisen. Notwendig bleibt freilich auf deutscher Seite das Bewusstsein, dass die Erforschung der Geschichte der ehemalig deutsch besiedelten Gebiete in Ostmittel- und Osteuropa eine verpflichtende Aufgabe bildet, die intellektuelle Kapazitäten, unbedingt aber auch entsprechende materielle Mittel erfordert.


Anmerkungen:

[1] Im 2001 erschienenen Band (Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit, hg. von Klaus Garber, Tübingen 2001) ist allerdings ein Aufsatz von Dieter Breuer über die Jesuiten in Ermland und im Herzogtum Preußen enthalten.

[2] So argumentiert Klaus Garber in seiner Rede zur Eröffnung des Kongresses, XVII. Humanismus und Katholizismus bilden jedoch bekanntlich kein Gegensatzpaar. Die Angabe der "Separatfriede" Sachsens (ihm schloss sich fast das gesamte Reich an!) mit dem Kaiser (Prag 1635) habe dem Vordringen des Katholizismus Vorschub geleistet, ist unverständlich. Der Friedensvertrag enthält keine diesbezüglichen Feststellungen.

Detlef Döring