Kristina Winzen: Handwerk - Städte - Reich. Die städtische Kurie des Immerwährenden Reichstags und die Anfänge der Reichshandwerksordnung (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; Nr. 160), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, 206 S., ISBN 978-3-515-07936-5, EUR 45,00
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Die historische Forschung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat das Bild des Alten Reichs in einem doppelten Sinn aufgehellt: Sie hat viele bis dahin vernachlässigte Aspekte der Reichsgeschichte ausgeleuchtet und auf dieser Basis insgesamt zu einer im Vergleich zum 19. und frühen 20. Jahrhundert deutlich positiveren Bewertung des Reiches geführt. Doch auch über ein halbes Jahrhundert der intensiven wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Reich hat nicht genügt, um alle Facetten der Reichsgeschichte in befriedigender Weise aufzuarbeiten. Ein Themenfeld, auf dem trotz einzelner, mittlerweile vielfach schon älterer Pionierstudien (etwa von Ingomar Bog und Fritz Blaich) und dem in jüngster Zeit großen Interesse an den Policeyordnungen noch viel Arbeit zu leisten ist, ist die Wirtschaftsgeschichte. Aus diesem großen Bereich greift Kristina Winzen mit der Untersuchung der Anfänge der Reichshandwerksordnung auf der Basis der Beratungen der Städtekurie des Immerwährenden Reichstags ein kleines, doch wichtiges Segment heraus - schließlich gilt die Reichshandwerksordnung von 1731 als eines der wichtigsten Reichsgesetze des 18. Jahrhunderts, wenn nicht der gesamten Frühen Neuzeit.
Wer allerdings eine Arbeit zum 18. Jahrhundert erwartet, sieht sich getäuscht. Die Studie führt nämlich in die Anfangszeit des Immerwährenden Reichstags, konkret in die Jahre 1665 bis 1672. Damals fanden in Regensburg diejenigen Beratungen statt, die 1672 zu einem (von Kaiser Leopold I. nicht ratifizierten) Reichsgutachten führten. Dieses Reichsgutachten gab knapp sechzig Jahre später die zentrale Vorlage für die Reichshandwerksordnung ab. Und in diesen Beratungen spielte die Städtekurie eine zentrale Rolle.
Die Autorin, die sich außer auf gedrucktes Material vor allem auf die Überlieferungen der Reichsstädte Augsburg, Nürnberg und Ulm sowie, in geringerem Umfang, Köln und Lübeck stützt, verfolgt zwei Leitfragen: In einem ersten Schritt (47-126) beleuchtet sie den Meinungsfindungsprozess im Städterat des Reichstags - der Entscheidungsprozess in den einzelnen Städten wird dagegen ausdrücklich ausgeklammert (8); im zweiten, kürzeren Hauptteil (126-176) analysiert sie die Stellung der reichsstädtischen Kurie im Verhältnis zu den beiden höheren Kollegien, dem Kurfürsten- und dem Fürstenrat. Diesen beiden, jeweils mit einer Zusammenfassung versehenen Kapiteln vorangeschaltet ist eine Einordnung in den "verfassungs- und wirtschaftsgeschichtliche[n] Bezugsrahmen" (17-45). Hier skizziert die Verfasserin auf der Basis der einschlägigen Literatur das Beratungsverfahren im Städterat und die Entwicklung der reichsstädtischen Position im Reichstag bis hin zum Zugeständnis des formalen "votum decisivum" im Westfälischen Frieden von 1648 und den Schwierigkeiten der Städte, diese Bestimmung in eine tatsächliche Gleichberechtigung mit den anderen Reichstagskollegien umzusetzen. Beachtung verdienen die Ausführungen zur reichsstädtischen Vertretungspraxis im Untersuchungszeitraum (28-41), die schon in dieser frühen Phase des Immerwährenden Reichstags eine Tendenz hin zur Mitvertretung durch andere reichsstädtische Gesandte oder durch Mitglieder des Regensburger Direktoriums bzw. des Regensburger Rats offenbaren - selbst eine so bedeutende Stadt wie Frankfurt ließ sich seit 1667 durch den Colmarer Gesandten Schulz vertreten (30, 37: Tabelle 1). Recht knapp fallen dagegen die Bemerkungen zum Handwerk als Gegenstand der Reichspoliceyordnungen des 16. Jahrhunderts aus (42-45).
In ihrem ersten Hauptteil analysiert Kristina Winzen nach einem chronologischen Überblick (es kam immer wieder zu mehrmonatigen Verhandlungspausen) die Beratungen des Reichsstädterats zu den von ihr in der Einleitung als Hauptberatungspunkte herausgestellten Themen. Ein erster Punkt betraf einige eigenmächtige Praktiken der Handwerker. Trotz einer grundsätzlichen Interessenidentität - schließlich untergruben die "Missbräuche" der Handwerker aus der Sicht der reichsstädtischen Magistrate ihre obrigkeitliche Autorität - erwies es sich als schwierig, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Bemerkenswert ist, dass das städtische Conclusum vom Dezember 1666 bereits den Gedanken der 1731 verbindlich gemachten "Kundschaft" zur Kontrolle wandernder Gesellen beinhaltete.
Das zweite Thema, die Frage der Unehrlichkeit der Stadtknechte, bildete schließlich das Vehikel, die Beratungen über das Handwerksrecht in die beiden höheren Kurien zu tragen. Grundsätzlich zeigten die Städte Verständnis für das Anliegen der Handwerke, von "unehrlichen" Leuten frei zu bleiben. In ihrem Conclusum vom Juni 1669 machten sie allerdings deutlich, "daß es nicht die Handwerker, sondern die städtischen Obrigkeiten waren, die darüber zu entscheiden hätten, wer als unehrlich einzuschätzen sei und wer nicht" (78).
Besonders kontrovers wurde in der Städtekurie über das Thema der Rechtsprechung der Hauptladen beraten. Dabei ging es darum, dass Zünfte in einzelnen Städten unter Berufung darauf, dass sie in der so genannten "Hauptlade" die maßgeblichen Handwerksordnungen verwahrten, den Anspruch erhoben, "die oberste Instanz in handwerksrechtlichen Fragen für bestimmte Gewerbe zu sein", sei es auf eine Region bezogen, sei es reichsweit (80). Der entschiedenste Vorkämpfer für die Bewahrung der Hauptladen war Nürnberg - das selbst über mehrere Hauptladen verfügte, auf die der Rat offenbar erheblichen Einfluss ausübte. Gegen die fränkische Metropole und ihren Anhang konnten sich die Gegner der Hauptladen unter Führung Augsburgs, die unter anderem mit der Beeinträchtigung der ordentlichen Gerichtsbarkeit durch die Hauptladen argumentierten, zunächst nicht durchsetzen. Erst 1671 'kippten' die Mehrheitsverhältnisse im Städterat. Zuvor hatten allerdings die heftigen internen Auseinandersetzungen bereits dessen Position gegenüber den höheren Kollegien untergraben, zumal Augsburg bei deren Mitgliedern heftig für seine Position, also gegen die damalige Mehrheitsmeinung der Städte, geworben hatte.
Im zweiten Hauptteil kann die Autorin nachweisen, dass das Reichsgutachten von 1672 - und damit die spätere Reichshandwerksordnung - ganz wesentlich auf ein reichsstädtisches Konzept vom Mai 1671 zurückging. Selbst da, wo sie Ergänzungen und Nachbesserungen anbrachten, griffen die höheren Stände zumeist auf reichsstädtische Ausarbeitungen zurück. Viele Änderungen fanden die Zustimmung der Städte, in anderen Fällen ließen sich Kompromisse finden. In einigen Punkten jedoch setzten die Kurfürsten und Fürsten ihre landesherrlichen Interessen gegen die Städte durch. Insbesondere verwarfen sie die von den Reichsstädten vorgesehene Clausula Salvatoria, gemäß der sich die Handwerksordnungen der einzelnen Reichsstände an der Reichsgesetzgebung zu orientieren hatten, und fügten stattdessen eine Formulierung ein, die die Übernahme der Bestimmungen der Reichshandwerksordnung in das Landesrecht faktisch in das Belieben der einzelnen Obrigkeiten stellte. Die Reichsstädte, "denen die Rechtseinheitlichkeit im Reich und tatsächliche allgemeine Observanz des Gesetzes sehr viel wichtiger waren als den höheren Ständen" (171), erkannten das Problem zwar, konnten sich jedoch nicht durchsetzen.
Statt eines eigentlichen Schlussteils endet die mit einem Literaturverzeichnis und einem Städteregister versehene Studie mit einem Ausblick auf die Verhandlungen von 1726 bis 1731, die schließlich in die Verabschiedung der Reichshandwerksordnung mündeten.
Die Lektüre der Arbeit hat beim Rezensenten einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Grundsätzlich ist zu begrüßen, dass diese Bonner Dissertation vom Zuschnitt des Themas wie vom Umfang her gegen den Strom der in den letzten Jahren tendenziell immer mehr ausufernden Doktorarbeiten anschwimmt. Das gestellte Thema wird akribisch bearbeitet, der Verhandlungsgang minuziös geschildert. Dass es dabei zu einigen Wiederholungen kommt, ist dem systematischen Aufbau der Arbeit geschuldet und kann ebenso in Kauf genommen werden wie die stellenweise etwas ermüdende Lektüre: Derartige Detailstudien bilden die Basis für spätere Synthesen und Ansatzpunkte für die weitere Forschung. Hier allerdings liegt der Haupteinwand gegen die vorliegende Arbeit: Bei aller sinnvollen Selbstbeschränkung wäre es ohne großen Mehraufwand möglich gewesen, in einer etwas ausführlicheren Einleitung und einem Schlussteil die erarbeiteten Ergebnisse in einen größeren Kontext zu stellen. Die Verknüpfung mit weiteren Aspekten der Forschung wird so von anderen zu leisten sein. Hier wurde Potenzial verschenkt. Dennoch: Die Arbeit stellt einen wichtigen Baustein sowohl zur Geschichte der Städtekurie des Immerwährenden Reichstags wie auch zur Wirtschaftsgeschichte des Alten Reichs dar.
Matthias Schnettger