Susanne Schattenberg: Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 11), München: Oldenbourg 2002, 457 S., ISBN 978-3-486-56678-9, EUR 49,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Wolfgang Krieger (Hg.): Geheimdienste in der Weltgeschichte. Spionage und verdeckte Aktionen von der Antike bis zur Gegenwart, München: C.H.Beck 2003
Georg Herbstritt / Helmut Müller-Enbergs (Hgg.): Das Gesicht dem Westen zu ... DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland, Bremen: Edition Temmen 2003
Rainer Karlsch: Uran für Moskau. Die Wismut - Eine populäre Geschichte, Berlin: Ch. Links Verlag 2007
"Ein echter Kommunist, der Techniker ist, das ist doch jetzt für uns der wichtigste Typ eines Kommunisten. [...] Für uns steht fest, dass Technik und Kommunismus nicht getrennt werden können" (11), formulierte Politbüromitglied Vjačeslav Molotov 1928. Die Umsetzung dieses bolschewistischen Projektes vom "neuen Menschen" und einer "neuen Gesellschaft" bedingte die Schaffung einer neuen, multifunktionalen technischen Elite. An die Stelle des unpolitischen Spezialisten sollte der politisch bewusste Ingenieur treten, der sein Leben selbstlos in den Dienst des Aufbaus des Sozialismus stellt.
Um zu zeigen, wie derartige Elitenbildungsprozesse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren in der Sowjetunion abliefen, rekonstruiert Susanne Schattenberg vor allem die Lebenswelten von vierzehn ausgewählten sowjetischen Ingenieuren und Ingenieurinnen auf der Basis autobiografischer Zeugnisse. Neben Archivdokumenten wertete Schattenberg auch das berufsständische Schrifttum aus, um das offizielle Ingenieursbild zu rekonstruieren und die Veränderungen aufzuzeigen, denen es unterworfen war. Gekonnt und abwechslungsreich nutzt sie zudem das breite Spektrum der fiktionalen Quellen. Anhand zahlreicher Romane, Dramen und von mehr als 30 Filmen analysiert Schattenberg, welche Vision der junge sowjetische Staat vom Ingenieur als Zukunftsträger der gesellschaftlichen Entwicklung entwarf und wie dieses Propagandabild durch die Medien in die Öffentlichkeit getragen wurde.
Zunächst stellt Schattenberg indes die vorrevolutionäre Ingenieursgeneration dar. Sie zeigt, dass im Zuge der in Russland nur langsam voranschreitenden industriellen Revolution die Formierung dieser Berufsgruppe nur zögerlich erfolgte. Bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Ingenieur kein bürgerlicher Berufsstand, sondern "eine Spielart des wohlgeborenen Dienstmannes des Zaren" (50). Ingenieursausbildung bereitete nicht auf die technische Arbeit, sondern auf die Beamtenlaufbahn vor. Bedingt durch ihre Praxisferne waren die Ingenieursabsolventen in den Unternehmen deshalb als ungeschickte, unbrauchbare Weißhändchen verschrien. Erst ab 1860 änderte sich die Situation allmählich. Doch obwohl unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg bereits drei Viertel aller Ingenieure in der industriellen Praxis arbeiteten, veränderte sich ihr Image nicht. In der Gesellschaft galt der Ingenieur "als die Inkarnation des Beamten und Müßiggängers, der Korruption und des Eigennutzes, der Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit" (56). Die Bolschewiki hatten nach ihrem Machtantritt 1917 demnach auch eine klare Vorstellung davon, welche Rolle die bisherige technische Intelligenz zu spielen hatte: Sie sollte ihr technisches Wissen weitergeben, ihre Projekte vollenden und dann abtreten.
Es zeigte sich jedoch rasch, dass der sozialistische Umbau des Landes ohne die Einbindung der "alten" Ingenieure nicht möglich war. Die Bolschewiki entwarfen deshalb mit der Staatlichen Kommission zur Elektrifizierung Russlands ein Programm, das die technische Elite auf ihre Seite ziehen sollte. Geschickt und letztlich erfolgreich nutzten sie deren Technikbegeisterung zu einem "Pakt zwischen den Bolschewiki und den alten Spezialisten" (72).
Ab der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre verschlechterte sich allerdings das Verhältnis zwischen den Ingenieuren und den Bolschewiki zunehmend. Die Parteiführer um Stalin sahen in der von der technischen Elite vertretenen Technokratie eine ernsthafte politische Bedrohung. Gravierender noch war aber die Tatsache, dass die Masse der Ingenieure für eine behutsame Industrialisierung des Landes eintrat, während Stalin einem extensiven und radikalen Ausbau der Schwerindustrie den Vorzug gab. Die bolschewistische Partei kündigte die bisherige Zusammenarbeit mit den Spezialisten auf, das Verhältnis schlug in offene Feindschaft um. Die zeigte sich nicht zuletzt in der Abschaffung der Berufsbezeichnung des Ingenieurs, an deren Stelle der Begriff des ingenieur-technischen Angestellten (ITR) trat. Der ITR stand für den sowjetischen Ingenieur, der sich als Teil der Arbeiterklasse verstand, der sowjetischen Führung bedingungslos ergeben war und ihre Politik rückhaltlos unterstützte. Die sich so entwickelnde neue sowjetische Ingenieurskaste trat rasch in Konkurrenz zur alten technischen Elite und beanspruchte den Zugang zu deren Pfründen. Im Rahmen der mit dem Šachty-Prozess 1928 einsetzenden Verfolgungen der alten Ingenieursschicht begann Stalin damit, seine eigenen Gefolgsleute im Apparat zu installieren. Junges und aus der Arbeiterschaft entstammendes ITR-Personal wurde in verantwortungsvolle Positionen gehievt. Damit, so Schattenberg, "wurden die alten Strukturen der Intelligenzija zerschlagen, die neuen gesäubert und gefügig gemacht" (88).
Eindrucksvoll belegt die Autorin, wie diese ideologischen Hetzjagden in den Massenmedien propagandistisch vorbereitet wurden. Der so genannte "Schädlings"-Ingenieur und seine Vernichtung waren in Film, Theater, bildender Kunst und Literatur omnipräsent. Dem Publikum wurde dabei eindeutig klar gemacht, dass die Beseitigung der anpassungsunwilligen alten technischen Intelligenzija nur durch ihre physische Liquidierung erfolgen konnte.
In ihren biografischen Studien veranschaulicht Schattenberg, wer in die frei gewordenen Positionen aufrückte. Die neuen Kader entstammten zumeist der Arbeiterklasse. Als Idealbild galt dabei die Ingenieurin, die ein neues Frauenbild präsentierte. Ihr gesellschaftlicher Aufstieg vom doppelt unterdrückten Wesen der Zarenzeit zum Fortschrittssymbol der neuen Gesellschaft sollte die Erfolge der kommunistischen Partei bei der Emanzipation und Ausbildung eindrucksvoll darstellen.
Enthusiastisch begannen die neuen Kader ihre Tätigkeit zumeist auf den gigantomanischen Großbaustellen des Sozialismus wie Dneprstroj, Kuzneckstroj oder Magnitostroj. Im Vordergrund stand dabei der praktische Arbeitseinsatz. Wissenschaftliche Tätigkeit oder gar Verwaltungsdienst waren für die neue Ingenieurskaste tabu. Der sowjetische Mensch war der Produktionsingenieur, der ganz in der Arbeit aufging und keine Ansprüche an die Lebensverhältnisse stellte. In der Realität freilich balancierten die jungen Kader als Krisenmanager und Improvisationskünstler nicht selten auf der schmalen Linie zwischen Heldentum und Ausstoß aus der Gesellschaft. Denn wenn der Ingenieur die ihm versprochenen besten Arbeitsumstände tatsächlich einforderte, sah er sich rasch als "Produktionsdesorganisator" diffamiert. Die in den Einzelbiografien vorgestellten Ingenieure und Ingenieurinnen ließen sich gleichwohl fast alle von der Aufbaubegeisterung der Dreißigerjahre anstecken.
Loyalität zum politischen System ließ sich jedoch nicht allein mit der ständigen Aussicht auf harte und entbehrungsreiche Arbeit herstellen. Bereits 1931 verabschiedete die Regierung deshalb einen ganzen Maßnahmenkatalog, der den Lebensstandard der neuen Elite merklich erhöhte. Hierzu gehörten neben privilegierten Bildungsmöglichkeiten für ihre Kinder Sonderkantinen und spezielle Verkaufsstellen für Defizitwaren. Die gleichzeitig eingeführten Leistungslöhne führten zudem zwischen 1932 und 1937 fast zu einer Verdoppelung der Bezüge. Doch auch bei den so genannten Privilegien gab es Grenzen. Der Traum von einer akzeptablen Wohnung oder einer Urlaubsreise erfüllte sich nur für eine kleine Schicht hoch verdienter Ingenieure.
Die Großen Säuberungen kündigten sich für die Masse der neuen Ingenieure mit dem Beginn der Stachanovbewegung an. Sie beschwor erneut den Antagonismus zwischen Arbeitern und technischer Elite. Der ITR sah sich als unfähiger Theoretiker und Bürokrat verleumdet, während der Arbeiter ohne den Ballast der Wissenschaft fähig war, die Produktion intuitiv richtig zu regeln. Die Medien verbreiteten die Vorstellung, "die Ingenieure würden angesichts der Stachanovarbeit zu Saboteuren mutieren; das Gros der älteren, aber auch ein Gutteil der jüngeren Generation sei nicht in der Lage, den nächsten Schritt der Revolution der Industrie und des Menschen nachzuvollziehen und müsse als Hindernis und Gefahr für die Stachanovbewegung vom NKWD aus dem Weg geräumt werden" (345). Tatsächlich fielen zahlreiche Ingenieure als vermeintliche Saboteure dem Großen Terror zum Opfer, wurden von NKWD-Kommandos erschossen oder landeten in den Lagern des Gulag.
Nur auf den ersten Blick scheint es erstaunlich, dass sich Verfolgung und Terror in den untersuchten Biografien kaum wieder finden. Bis heute verdrängt die russische Gesellschaft dieses dunkle Kapitel ihrer eigenen Geschichte. Die bis zum heutigen Tag andauernde latente Stigmatisierung der Opfer macht es biografisch Dargestellten unmöglich, aus den eingeschliffenen und jahrzehntelang einstudierten Narrativen auszubrechen. Dass der Terror dennoch tiefgründig die gesamte Lebenswelt dieser Menschen erfasste und bestimmte, zeigt Schattenberg eindrucksvoll anhand der ausgewerteten Archivalien.
Insgesamt belegt die sehr lesenswerte, anregende und äußerst materialreiche Studie, dass die neue Generation von Ingenieuren und Ingenieurinnen der Dreißigerjahre sowohl Produkt als auch "Produzent" des stalinistischen Systems war. Das Selbstverständnis der neuen technischen Elite der Sowjetunion war durch die Losungen der Dreißigerjahre geprägt. Auch nach dem Tod Stalins hielt diese Generation an den Diskursen fest, die ihren gesellschaftlichen Aufstieg ermöglicht hatten: "So lange sie ihre Welt verteidigten, stand auch die Sowjetunion auf festem Fundament" (425). Diesem Fazit der Autorin ist nichts hinzuzufügen.
Matthias Uhl