Michael Hecker: Napoleonischer Konstitutionalismus in Deutschland (= Schriften zur Verfassungsgeschichte; Bd. 72), Berlin: Duncker & Humblot 2005, 205 S., ISBN 978-3-428-11264-7, EUR 64,00
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Die Geschichtsschreibung über den Verfassungsstaat in Deutschland ist ebenso wechselvoll verlaufen wie dessen Geschichte. Ein Blick auf die Anfänge der konstitutionellen Verfassungsentwicklung in der Zeit der französischen Herrschaft, als unter der Ägide Napoleons die ersten Verfassungskodifikationen in Deutschland erlassen wurden, bestätigt diese generelle Aussage. Denn über diesen Grundgesetzen, die als Teil der rheinbündischen Reformen entstanden, schwebte lange Zeit der Vorwurf der Fremdherrschaft (H. v. Treitschke) und des Scheinkonstitutionalismus (E. R. Huber). Erst mit den grundlegenden Forschungen von Helmut Berding, Elisabeth Fehrenbach und anderen zu Beginn der 1970er-Jahre wurde eine allmähliche Revision dieser Sichtweise eingeleitet. [1] Das die Reformen anerkennende Urteil hat sich seitdem erhärtet. Die rheinbündischen Reformen werden heute im Allgemeinen den preußischen Reformen gleichberechtigt gegenüber gestellt.
Gerade rechtzeitig, bevor in den nächsten Jahren die Jubiläumsdaten der Verfassungen des Königreichs Westfalen (1807) und des Großherzogtums Frankfurt (1810) herannahen, geht die vorliegende Göttinger rechtswissenschaftliche Dissertation von Michael Hecker wichtigen verfassungsgeschichtlichen Fragestellungen auf den Grund. Mit Bedacht untersucht der Autor nicht alle Rheinbundstaaten, sondern beschränkt sich auf diejenigen unter napoleonischer Oberherrschaft, die er stets als "Napoleoniden" bezeichnet. Er bezieht zudem das ohne formelle Verfassung regierte Großherzogtum Berg mit ein, lässt aber alle übrigen Rheinbundstaaten, sowohl die mit (Bayern, Sachsen-Weimar-Eisenach, Anhalt-Köthen) als auch diejenigen ohne Verfassung (Baden, Hessen-Darmstadt, Nassau-Usingen, Nassau-Weilburg, Württemberg und neun weitere kleinere Stände) außen vor. [2] Diese Eingrenzung des Themas ist doppelt klug, denn sie ermöglicht einen konzentrierten Blick und führt zugleich auf die zentrale These des Verfassers hin. Zwar wurden auch bisher die drei künstlich geschaffenen Modellstaaten als eine besondere Gruppe innerhalb des Rheinbundes angesehen, bei Hecker aber verkörpern sie noch einmal zugespitzt einen spezifischen Staatstypus mit einer besonderen Verfassungskonstruktion. In diesen drei Staaten, Berg, Frankfurt und Westfalen, findet sich der im Titel programmatisch nach vorn gespielte napoleonische Konstitutionalismus. Dieser sei gekennzeichnet von einem Nebeneinander konstitutioneller Fortschrittlichkeit bei gleichzeitiger Begrenzung durch den napoleonischen Machtanspruch.
Der Verfasser unternimmt es in vier Kapiteln, seine gut präparierte These zu verifizieren. Nach der Einleitung skizziert er den historischen Kontext, wobei er besonders die Modellstaatspolitik mit ihrem inneren Widerspruch zwischen Machtkalkül und Reformimpuls herausarbeitet. Anschließend untersucht er den Entstehungsprozess und die Legitimitätsproblematik. Nicht weiter als die bisherige Forschung kommt Hecker bei der Frage, wieweit Napoleon persönlich die Verfassungstexte mitgestaltete oder zumindest beeinflusste. Dies ist schwer nachweisbar, aber auch im Hinblick auf den Titel der Studie bedeutsam. Hier ist noch Raum für weitere Forschungen, die zudem klären müssen, inwieweit die Verfassungsgebung in den Modellstaaten aufeinander abgestimmt oder voneinander abhängig war. [3] Die Legitimitätsstiftung durch die Berufung auf Gottesgnadentum, Verfassungen, Plebiszite und das Völkerrecht beurteilt der Autor als konzeptlos und zurecht als gescheitert.
Im folgenden Abschnitt geht es um Konzeption und Funktion der Grundrechte in Westfalen, Berg und Frankfurt. Die Grundrechte seien nicht aus einem "ideellen Reformehrgeiz" erwachsen, sondern hätten einer "weitgehenden (modellbildenden) Assimilation der Gesellschaftsordnungen" dienen sollen (84). Hecker konstatiert, dass das Grundrechtsprogramm besonders mit dem alles überragenden antiständischen Gleichheitspostulat einen wichtigen Fortschritt in der Entwicklung des Verfassungsstaates markiert habe - ein "echtes Zurück" sei fortan nicht mehr möglich gewesen (88). Ähnlich positiv stuft er, hier Helmut Berding folgend [4], die westfälische Judenemanzipation ein - in Europa sei sie einzigartig. Die dekretierte Bauernbefreiung scheiterte allerdings in der Praxis. Hinsichtlich der Defizite verschweigt der Autor nicht, dass insbesondere die Presse- und Meinungsfreiheit in den Verfassungen fehlte. Dies zeigt erneut, wie kalkuliert die französischen Verfassungsgeber in den Modellstaaten vorgingen. Politische Rechte wurden eben nur dann gewährt, wenn sie dem napoleonischen Machtanspruch nicht im Wege standen.
Von entscheidender Bedeutung im Hinblick auf den Vorwurf des Scheinkonstitutionalismus ist schließlich die Bewertung der repräsentativen Vertretungskörperschaften, die der Verfasser im letzten Kapitel am Beispiel Westfalens untersucht. Tatsächlich sollten die Reichsstände Westfalens die "Funktion einer Vertrauens- und Vermittlungsklammer" (138) zwischen der Verwaltung und der Eigentümerschicht übernehmen. Ein wesentliches Hindernis für eine wirkliche demokratische Wahl bildete allerdings die Tatsache, dass sich der König die Ernennung der Wahlmänner vorbehielt. Ansonsten aber ist das Wahlrecht mit fehlendem Passivzensus und der Verwirklichung des freien Mandats äußerst fortschrittlich einzustufen.
Ähnlich zwiespältig fällt die Bilanz mit Blick auf die Wirksamkeit der Repräsentativvertretung aus. Zum einen ist die fehlende Diskussionsmöglichkeit der Plenarversammlung herauszustellen, die bewirkte, dass eine Parlamentskultur sich nicht entwickeln konnte. Zum anderen zeichneten sich die Stände durch bemerkenswerte Aktivitäten aus. Sie verabschiedeten immerhin 17 Gesetze innerhalb von zwei Sessionen, die nur wenige Wochen dauerten. Und in zwei Fällen ließen sie es wegen abweichender Meinung sogar zu einem kleinen Verfassungskonflikt kommen. Die Regierung reagierte irritiert, setzte ihre Vorhaben schließlich per Dekret durch und berief die Stände nach 1810 schließlich nicht mehr ein. Nun ging endgültig Macht vor Recht. Aber die Kraftprobe der westfälischen Reichsstände war verfassungshistorisch äußerst beachtlich. Denn hier wurde in Ansätzen bereits "das ganze konstitutionelle Konflikt-Szenarium" (164) der späteren Verfassungskämpfe in Preußen vorweggenommen. Dieses Ergebnis in Fortführung der Untersuchungen von Herbert Obenaus [5] herausgearbeitet zu haben, ist allein ein Verdienst der Studie.
Heckers verfassungs- und rechtsgeschichtliche Untersuchung vermag insgesamt zu überzeugen. Ihr Stil ist - trotz gelegentlicher juristischer Schwerfälligkeiten - im Allgemeinen lesbar. Die Thesenführung ist luzide und die Darstellung zielführend knapp. Nur im formalen Bereich sind einige Dinge kritisch anzumerken. Zweifelhaft ist die Angabe der (wenigen) Archivalien im Quellenverzeichnis dann, wenn - wie in den meisten Fällen - die Akten selbst nach der Literatur zitiert werden (Beispiele: 52 und 59 f.). Auch die genannte "Dienststelle Merseburg" des "Deutschen Zentralarchivs" (187) der früheren DDR ist seit über einem Jahrzehnt aufgelöst, und ihre Bestände sind längst in das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin integriert.
Bei der Auswertung der gedruckten Quellen hat der Verfasser einige bisher nicht oder wenig beachtete Erinnerungsstücke entdecken können, wogegen bei der Sekundärliteratur leider ein paar wichtige neuere Titel fehlen. Besonders bedauerlich ist, dass der Autor die exzellente Arbeit von Martin Kirsch aus dem Jahr 1999 nicht herangezogen hat. [6] Sie hätte ihm wichtige Einsichten verfassungsvergleichender Natur eröffnet und damit inhaltlich zusätzliche Perspektiven erschlossen.
Doch jenseits dieser vorwiegend formalen Bemerkungen liegt mit Heckers konziser Studie eine wichtige Bereicherung der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung vor. Die Anfänge des Verfassungsstaates haben mit seiner Darstellung eine zusammenfassende und zugleich weiterführende, wenn auch nicht abschließende Untersuchung erhalten. Über Heckers Begriffsschöpfung, den napoleonischen Konstitutionalismus, wird man diskutieren müssen, aber an seinen Ergebnissen kommt man nicht mehr vorbei.
Anmerkungen:
[1] Hecker spricht deshalb von den "Revisionisten" - ein Begriff, der leicht zu Verwechslungen führen dürfte.
[2] Zu derzeit sieben dieser Staaten liegen inzwischen verfassungsgeschichtlich ausgerichtete Editionen innerhalb der seit 1992 von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Reihe "Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten" vor. Im Anhang der vorliegenden Arbeit sind die Verfassungen von Westfalen und Frankfurt abgedruckt.
[3] Überlegungen dazu bei Ewald Grothe: Model or Myth? The Constitution of Westphalia of 1807 and Early German Constitutionalism, in: German Studies Review 28 (2005), 1-19.
[4] Helmut Berding: Die Emanzipation der Juden im Königreich Westfalen (1807-1813), in: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983), 23-50.
[5] Herbert Obenaus: Die Reichsstände des Königreichs Westfalen, in: Francia 9 (1981), 299-329.
[6] Martin Kirsch: Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp - Frankreich im Vergleich (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 150), Göttingen 1999; zu Westfalen insbes. 270-274.
Ewald Grothe