Otto von Bismarck: Schriften 1871-1873. Bearbeitet von Andrea Hopp (= Otto von Bismarck. Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe. Abt. III: 1871-1898. Schriften; Bd. 1: 1871-1873), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004, LXXXII + 637 S., ISBN 978-3-506-70130-5, EUR 60,00
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Andreas Biefang: Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im "System Bismarck" 1871-1890, Düsseldorf: Droste 2009
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Judith Hilker: Grundrechte im deutschen Frühkonstitutionalismus, Berlin: Duncker & Humblot 2005
Otto von Bismarck: Schriften 1882-1883. Bearbeitet von Ulrich Lappenküper, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010
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Die Geschichtswissenschaft bringt immer wieder Überraschungen hervor. Weniger die Bismarck-Kenner werden sich wundern als vielmehr diejenigen, die bisher dachten, die Person des preußischen Ministerpräsidenten und Reichsgründers gehöre zu den am gründlichsten erforschten und am dichtesten dokumentierten Themen des 19. Jahrhunderts. Dass diese durchaus begründete Annahme allerdings nicht ausschließt, bisher wenig bekannte Quellenbestände zu Tage zu fördern, beweist der von Andrea Hopp bearbeitete erste Band eines neuen Großvorhabens in der editionswissenschaftlichen Forschung, der Auftakt zur "Neuen Friedrichsruher Ausgabe".
Im Titel knüpft das Editionsvorhaben an die traditionsreiche "Friedrichsruher Ausgabe" an, die in den Jahren zwischen 1924 und 1935 in 15 Bänden unter dem "Ehrenausschuss" von Erich Marcks, Friedrich Meinecke und Hermann Oncken erschien. Sie sollte dem Reichsgründer ein "Denkmal" errichten und trug unübersehbar einen "zeitgebundenen Rechtfertigungs- [...] und Verklärungscharakter". [1] Es handelte sich nicht um eine kritische Gesamtausgabe, weil sie weder kritisch war noch das gesamte Werk umfasste. Auswahlkriterien, Kürzungen und Gewichtung der Bände zählen zu den gravierenden Einwänden, welche die Bismarck-Forschung gegen die "Gesammelten Werke" vorgebracht hat.
Andere Editionen zu Person und Politik Bismarcks, allen voran die acht von Gustav Adolf Rein zwischen 1962 und 1983 herausgegebenen "Werke in Auswahl", konnten die Friedrichsruher Ausgabe allenfalls ergänzen, nicht aber ersetzen. Die vor beziehungsweise parallel zu den "Gesammelten Werken" Bismarcks zwischen 1922 und 1927 erschienene "Große Politik der europäischen Kabinette 1871-1914" deckte die Außenpolitik des Reichskanzlers ab, entspricht allerdings auch längst nicht allen heutigen editorischen Wünschen. So befand sich die Bismarck-Forschung seit siebzig Jahren in dem Dilemma, zwar über eine große und viele kleinere, aber über keine zuverlässige Ausgabe der Schriften, Reden, Briefe und Gespräche zu verfügen.
Die 1997 gegründete Otto-von-Bismarck-Stiftung und die von ihr eingesetzten Herausgeber, Konrad Canis, Lothar Gall, Klaus Hildebrand und Eberhard Kolb, haben dieser Editionslücke ein absehbares Ende gesetzt. Mit Bismarcks "Schriften 1871-1873" in der "Neuen Friedrichsruher Ausgabe" beginnt eine Reihe von acht Bänden aus der Zeit der Reichskanzlerschaft. Dem sollen später die Neubearbeitung der Schriften bis 1871 sowie der Abteilungen "Gespräche" und "Reden" folgen. Der erste Band ist nicht nur deshalb besonders wichtig, weil er für die nachfolgenden Editionen innerhalb der Reihe Maßstäbe setzt. Darüber hinaus erschließt er so viel neues Material, dass erst jetzt ein detaillierteres Bild der Politik des Reichskanzlers einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit bekannt wird. Denn die alte Friedrichsruher Bearbeitung hatte sich vor allem dem Reichsgründer zugewandt, dessen Leistung für die Nation es - besonders angesichts des im Ersten Weltkrieg untergegangenen Reiches - zu rechtfertigen galt. Dem Reichskanzler zwischen 1871 und 1890 widmeten die "Politischen Schriften" (Band 6c, bearbeitet von Werner Frauendienst, 1935) gerade einmal einen einzigen Band, der sich zudem noch auf die Innenpolitik beschränkte, weil zwei Bände der "Großen Politik" die Außenpolitik der Jahre 1871 bis 1878 behandelt hatten.
Die "Neue Friedrichsruher Ausgabe" startet bewusst mit der Reichskanzlerzeit, um diesen Mängeln zu begegnen. So erklärt sich auch, dass über die Hälfte der insgesamt 506 Dokumente erstmals publiziert werden. Die anderen Stücke, unter anderem aus den Bänden 6c und 14,2 ("Briefe 1862-1898", bearbeitet von Wolfgang Windelband und Werner Frauendienst, 1933) wurden editorisch neu bearbeitet, und ihr jetziger Verbleib wurde ermittelt. Die Bearbeiterin hat dazu sieben Archive und eine Bibliothek in jahrelanger Arbeit ausgewertet, dabei zunächst 1200 Dokumente zusammengetragen und daraus die vorliegenden Stücke ausgewählt. Von den in den "Gesammelten Werken" abgedruckten Stücken blieben hierbei 31 (vornehmlich aus inhaltlichen Gründen) unberücksichtigt (siehe die Liste auf Seite 622).
Editionstechnisch werden "Politische Schriften" und "Briefe" in einem Band zusammengefasst, weil die "Trennung im Hinblick auf viele Zeugnisse ohnehin als problematisch gelten kann" (VII). Es ergibt sich dadurch die Möglichkeit, den Band unabhängig von einer strittigen typologischen Differenzierung in chronologischer Folge zu studieren, was für den Leser einen deutlichen Gewinn darstellt. Auch ansonsten verwöhnt die Edition den Nutzer: so werden fast alle Dokumente vollständig wiedergegeben, und ein Vermerk verweist auf frühere Drucke. Jedem Stück wird in einer Art Regest eine kurze Inhaltsangabe vorangestellt. Der Band ist mit einem Dokumentenverzeichnis (einschließlich der Inhaltsangaben) und einem um Kurzbiografien erweiterten Personenregister erschlossen.
Allerdings hat die Edition auch ihre Grenzen: Verzichtet hat man nämlich - dies geht sicherlich auf die Herausgeber und nicht auf die Bearbeiterin zurück - auf ein Sachregister und auf eine Kommentierung der Quellenstücke (Fußnoten gibt es nur in Ausnahmefällen). Beides mindert die Benutzbarkeit der Ausgabe, das Erste vermutlich weniger als das Letzte. Denn welches Dokument lässt sich aus sich heraus und nur durch die im Umfeld gedruckten Stücke verstehen? Vielmehr bieten sich die Texte als ein für die Bismarck-Forschung willkommener Druck von Archivalien oder erweiterter Neudruck bekannter Quellen dar. Der weniger Kundige muss jedoch zwangsläufig auf die Literatur zurückgreifen, um die einzelnen Stücke verstehen und einordnen zu können.
Einen ersten Anhaltspunkt für das, was der Band inhaltlich zu bieten vermag, gibt ein instruktiver Einführungsessay der Bearbeiterin. Bismarck zeigt sich in den Dokumenten als Reichsgründer in zweifacher Hinsicht: innenpolitisch als Konstrukteur des Neuaufbaus, außenpolitisch als Restaurator des europäischen Mächtesystems. Wenn das Schwergewicht des Bandes generell im außenpolitischen Bereich liegt, so ist daran der Hauptakteur selbst schuld. Zunächst ist die Abwicklung des Deutsch-französischen Krieges das dominante Thema. Zudem waren die Hauptfeinde aus Bismarcks Perspektive, Katholizismus und Sozialismus, international zu bekämpfen. Deshalb korrespondierte er zu diesen Themen mit den Gesandten und den europäischen Kabinetten. Insbesondere seine Furcht vor einem "Bündniß der schwarzen mit der rothen Partei" (161) auf internationaler Ebene führte ihn zu einer Verschärfung des Kulturkampfes. Der Sozialdemokratie begegnete er von Anfang an feindselig, während er versuchte, die Arbeiter "mit der bestehenden Staatsordnung auszusöhnen" (231). Mit den Nationalliberalen dagegen agierte der Reichskanzler in der Anfangszeit sehr erfolgreich. Die Dokumente belegen, dass dieses Bündnis taktisch war, aber dennoch so entschieden verfolgt wurde, dass Bismarck den Bruch mit den preußischen Altkonservativen bewusst in Kauf nahm. In allen genannten Themenfeldern profitiert die Edition von einer gekonnten Auswahl sprechender Texte aus der Fülle des überlieferten Materials. In ihrer Summe zeigen die Quellen, so bemerkt Andrea Hopp zurecht, "kein neues, wohl aber ein detailgetreueres Bild" des Kanzlers (XV). Aber das allein ist verdienstvoll genug.
So mag die Kritik an der weitgehend unterlassenen Kommentierung beckmesserisch wirken angesichts des Gewinns, den die Herausgabe insgesamt darstellt. Dennoch ist der Hinweis notwendig in der Hoffnung, dass die folgenden Bände in dieser Hinsicht vielleicht etwas mehr bieten mögen. Und auch etwas anderes sei angemerkt: es ist bei solchen Großeditionen durchaus erlaubt zu fragen, ob nicht auch eine digitale Version sinnvoll wäre. Angesichts der dann ganz unkompliziert möglichen Volltextrecherche erübrigte sich zum Beispiel das jetzt fehlende Sachregister.
Jenseits solcher Bemerkungen muss aber festgehalten werden: Andrea Hopp ist mit der Herausgabe der Schriften Bismarcks aus der frühen Reichskanzlerzeit eine überaus sorgfältige Edition gelungen. Der Auftaktband der "Neuen Friedrichsruher Ausgabe" ist vielversprechend.
Anmerkung:
[1] Winfried Baumgart (Bearb.): Das Zeitalter des Imperialismus und des Ersten Weltkrieges (1871-1918), 2. Tl.: Persönliche Quellen (= Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart; Bd. 5,2), Darmstadt 1977, 14 f.
Ewald Grothe