Rezension über:

Otto von Bismarck: Gedanken und Erinnerungen. Bearbeitet von Michael Epkenhans und Eberhard Kolb (= Otto von Bismarck. Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe. Abt. IV), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, XXXVI + 616 S., ISBN 978-3-506-77070-7, EUR 56,00
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Rezension von:
Hartwin Spenkuch
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Hartwin Spenkuch: Rezension von: Otto von Bismarck: Gedanken und Erinnerungen. Bearbeitet von Michael Epkenhans und Eberhard Kolb, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 5 [15.05.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/05/18995.html


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Otto von Bismarck: Gedanken und Erinnerungen

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Ende November 1898 erschienen im Verlag Cotta die Gedanken und Erinnerungen Otto von Bismarcks und waren mit fast 500.000 Exemplaren die meistverkauften deutschen Memoiren des 19. Jahrhunderts. Der im Juli 1898 verstorbene Ex-Reichskanzler hatte ansehnliche 200.000 Mark Honorar dafür erhalten. Der dritte Teil zur Entlassungskrise 1890 und zu den Unarten Wilhelms II., des Mannes, der leichtfertig "mit brennender Cigarre über der Pulvertonne sitzt" (479), erschien wegen seiner politischen Brisanz erst 1919.

Nach sechs Bänden von Bismarcks Schriften der Jahre 1871-1885 liegt nun im Rahmen der Neuen Friedrichsruher Ausgabe eine gewichtige Edition vor. Sie besorgten der frühere Leiter der Otto-von-Bismarck-Stiftung, Michael Epkenhans, und der Kölner Emeritus Eberhard Kolb. Die von letzterem sachkundig verfasste Einleitung behandelt dicht die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte. Während der Germanist Friedrich Gundolf noch 1931 "das gewaltigste politische Schriftwerk unseres Volkes" (XXI) zu erkennen glaubte, übte der linksliberale Zeitgenosse Ludwig Bamberger schon 1899 grundsätzliche Kritik an der politischen Haltung des Kanzlers: die Begriffe 'Humanität' und 'Civilisation' fertige er stets spottend als hohle Phraseologie ab, aber habe es als reiner Machtpolitiker selbst versäumt, das Reich mit einer zeitgemäß fortentwickelten Verfassung zu hinterlassen (XVIII f.).

Wie viele im Groll geschiedene Staatsmänner hoffte Bismarck, mit seinen Memoiren einige "Handgranaten" in den politischen Tageskampf zu werfen, somit über seinen Tod hinaus zu wirken und vor allem ein Lehrbuch preußisch-deutscher Realpolitik vorgelegt zu haben. Tatsächlich gab es 1898 Unmut und Ärger etwa bei Wilhelm II.; als diplomatisches Lehrbuch haben Bismarcks Gedanken jedoch nicht gewirkt. Denn seine zentralen politischen Maximen hat gerade die bis 1914 aktive Politikergeneration in den Wind geschlagen: außenpolitische Berechenbarkeit, Festhalten am saturierten Status des Reichs, Vermeidung des Zweifrontenkriegs durch - wenn auch prekäre - Verständigung mit Rußland.

Hat man heute noch Grund, die 500 Seiten Rechtfertigungsschrift des Reichskanzlers a. D. zu lesen? Wohl vor allem, wenn man sich näher mit Bismarck beschäftigt und die behandelten Zeit- und Streitfragen einigermaßen kennt. Immerhin ist der Band quasi ein Kompendium Bismarckscher Vorurteile, Politmaximen und best of-Episoden. Am Beginn steht Bismarcks ironisches Bekenntnis, er habe als "normales Produkt unsres staatlichen Unterrichts" die Schule verlassen, nämlich "als Pantheist und, wenn nicht als Republikaner, doch mit der Ueberzeugung, dass die Republik die vernünftigste Staatsform sei" (5). Lange über die Entstehungszeit hinaus aussagekräftig ist Bismarcks Schilderung einer Episode aus seiner Petersburger Gesandtenzeit 1859 (135). Damals stand ein Soldat unmotiviert inmitten einer Rasenfläche am Zarenpalais Wache. Als man ergründete, warum eigentlich, kam nach langen Ermittlungen zutage, dass Zarin Katharina einmal einen Soldaten zum Schutz des ersten Schneeglöckchens befohlen hatte. Ein Jahrhundert lang wurde diese Stelle dann unhinterfragt bewacht, für Bismarck Ausdruck russischer Beharrlichkeit und elementarer Stärke. Bismarcks politische Leidenschaftlichkeit spiegelt sich in der Szene der Eisenbahnfahrt mit Wilhelm I. am Beginn seiner Ministerpräsidentschaft 1862. Auf dessen Befürchtung, dass der preußische Verfassungskonflikt für beide unter der Guillotine am Berliner Opernplatz enden werde, erwiderte Bismarck, sterben müssten Menschen sowieso und man könne nicht "anständiger umkommen" als "im Kampfe für die Sache meines Königs" (171).

Bereits der bei der Memoiren-Niederschrift beteiligte Lothar Bucher hat richtig bemerkt, dass der Altkanzler - wie viele andere Führungsfiguren - niemand neben sich gelten lasse und bei misslungenen Aktionen nicht beteiligt gewesen sein wolle. In der Tat werden reihenweise Gegner, aber selbst ehemalige Verbündete abgekanzelt: die stets antiministeriell tätige, angeblich anglophile und prokatholische Augusta, "nicht leicht der Meinung eines Andern" (294); die in der Neuen Ära wichtige Gruppe um Moritz August von Bethmann Hollweg als "Streberfraktion" (225); im Rundumschlag die "Intriguen von Bodelschwingh und die Leidenschaftlichkeit von Vincke, Diest, Kleist-Retzow und andern verstimmten und eifersüchtigen Standes- und früheren Fraktions-Genossen" (301). Grundsätzlich gelte: "Die doctrinären Missgriffe der parlamentarischen Fraktionen sind den Bestrebungen politisirender Frauen und Priester in der Regel günstig" (264) - Rockträger gehörten für Bismarck generell nicht in die Politik. Das höchste Lob für Politiker fällt en passant in verklausulierter Form: "Nur die Führung des Centrums kann ich nicht eine unfähige nennen", wenngleich die von Bismarck eben nicht ausmanövrierte Zentrumspartei in dessen Sicht natürlich auf "Zerstörung des unbequemen Gebildes eines deutschen Reiches" hinarbeitete (399).

Schon am Ende von Bismarcks Leben war eine andere berühmte Formulierung zunehmend unzutreffend: "Deutscher Patriotismus bedarf in der Regel, um thätig und wirksam zu werden, der Vermittlung dynastischer Anhänglichkeit" (174); diese "Unentbehrlichkeit einer Dynastie als Bindemittel für das Zusammenhalten" sei "eine specifisch reichsdeutsche Eigenthümlichkeit" (176). Dass nicht zuletzt demokratische Partizipation moderne Nationen zusammenhält, war Bismarck, dem laut selbstgewählter Grabinschrift "treuen deutschen Diener Kaiser Wilhelms I.", einfach fremd.

Insgesamt sind Bismarcks Memoiren gleichermaßen eine meisterliche Selbststilisierung wie eine geschickte Abfertigung für den Parlamentarismus und somit eine intentional erfolgreiche Arbeit am Mythos der nur überparteilich durchweg wohltätigen Regierung aus starken Männern. Diese bis 1933 auch aufgrund der Gedanken und Erinnerungen Bismarcks erfolgreiche Mythen-Bildung wirkte im Rückblick belastend, ja verhängnisvoll für die preußisch-deutsche politische Kultur.

Zu begrüßen sind die von den Herausgebern getroffenen editorischen Grundentscheidungen: Verzicht auf einen philologisch-kleinteiligen textkritischen Apparat und statt dessen Erläuterung heute schwer verständlicher Sachverhalte; Edition des von Bismarck selbst approbierten Textes unter Beibehaltung der originalen Orthographie, selbst wo diese uneinheitlich ausfällt - schließlich hat Bismarck jahrelang gegen die Rechtsschreibreform gekämpft und Modernisierung ex post wirkt anachronistisch; Anfügung ungedruckter Quellen, u. a. Notizen Herbert von Bismarcks, zu den politischen Vorgängen des letzten Kanzleramtsjahrs. Die Neuausgabe, deren Herstellung ein Hamburger Bewunderer Bismarcks mit einem namhaften Zuschuss erleichterte, ist rundum gelungen. 500.000 Käufer des Bandes sind freilich nicht zu erwarten, aber vielleicht wirkt die kürzliche Entdeckung der einzigen originalen Tonaufnahme Bismarcks von 1889 etwas förderlich.

Hartwin Spenkuch