Michael Schmid: Der Eiserne Kanzler und die Generäle. Deutsche Rüstungspolitik in der Ära Bismarck (1871-1890) (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 4), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, 751 S., ISBN 978-3-506-79224-2, EUR 65,00
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Martin Lynn (ed.): The British Empire in the 1950s. Retreat or Revival?, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2006
Mit seinem Buch über die Rüstungspolitik in der Ära Bismarck behandelt Michael Schmid eine Art Dreiecksbeziehung zwischen dem preußischen Militär, Otto von Bismarck und dem Reichstag. Ziel dieser Untersuchung ist es in erster Linie, "in einem elementaren Sinne zunächst zu rekonstruieren und zu beschreiben, auf welche Weise überhaupt die Militärpolitik der Armee des Deutschen Reiches zwischen 1871 und 1890 formuliert und implementiert wurde" (17). Hier wird dennoch ein Schwerpunkt gesetzt, nämlich auf den Zusammenhang zwischen den militärischen Planungen des Großen Generalstabes und der Rüstungspolitik. In einem etwas konfusen Einführungskapitel erahnt der Leser, dass den Autor dazu vermutlich noch eine Reihe weiterer Fragestellungen interessiert, ohne sie jedoch in einer deutlichen, knappen oder präzisen Form zu erfahren. Kurz vor Ende der Einführung entdeckt man dann allerdings, dass in der zweiten Hälfte der Untersuchung die operative Planung und das Kriegsbild des Generalstabes im Mittelpunkt stehen werden und der Frage nachgegangen werden soll, "wie die 'Halbgötter' [des Generalstabes] angesichts der entgegenlaufenden Tendenzen der Aufrüstung Frankreichs und Russlands und der eigenen Selbstbeschränkung sich der Aufgabe stellten, im nächsten Krieg nicht nur zu siegen, sondern die Konfliktdauer möglichst kurz zu halten" (28).
Die Rechtfertigung für eine Neuerarbeitung der in der Forschung seit längerem bekannten Thematik sieht Schmid in der veränderten Quellenlage, die durch die Entdeckung mancher Bestände aus dem Potsdamer Heeresarchiv, die bis zur Wende in geheimen Archiven der NVA aufbewahrt - ein Teil sogar erst 1988 von der UdSSR an die DDR zurückgegeben - worden waren. Darüber hinaus stehen mit den umfangreichen Tagebuchnotizen und der Korrespondenz von Alfred Graf von Waldersee den Historikern nun ein weiterer Quellenbestand aus dem früheren DDR-Zentralarchiv (wieder) zur Verfügung. Aufgrund der Zugänglichkeit dieser Quelle sind die beiden Editionen von Meisner (3 Bände, 1923) und Mohs (2 Bände, 1929), die zu stark unter der patriotischen Selbstzensur der damaligen Zeit litten, nun endgültig überholt. Ferner argumentiert Schmid, dass die Militärakten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes ein großes Korpus darstellen, dessen Bedeutung bisher unterschätzt wurde. Mit diesen 'großkalibrigen' Quellen, seine Flanken geschützt durch umfangreiche Akten des Deutschen Reichstages, Reichsamt des Inneren, Reichskanzleramt und -kanzlei, sowie durch manche Akten des Haus-, Hof- und Staatsarchivs Wien, zieht Schmid zu Felde.
Die Analyse beginnt mit einer knappen Abhandlung des Konfliktes um den Militäretat von 1871, anschließend folgt ein zweites kurzes Kapitel über die technische Rüstung nach 1871, die beide als "sanfter" Einstieg in die Thematik dienen. Die Arbeit ist streng chronologisch konzipiert, sodass die weiteren Kapitel in ihrer Reihenfolge verständlich sind. Kapitel IV behandelt das erste Septennat von 1874, V das zweite Septennat von 1880, VI die Entstehungsgeschichte der Militärvorlage von 1886/87, VII das dritte Septennat im Reichstag. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen allerdings die folgenden zwei umfangreichen Kapitel: VIII. über die strategischen Planungen des Generalstabes 1886/87 und die Vorbereitungen für einen Präventivschlag gegen Frankreich; IX. über die Winterkrise von 1887/88. Die Jahre 1888 bis 1890 werden in den letzten vier Kapiteln behandelt, wobei hier Kapitel XII über die Verdy-Reformen das wichtigste ist.
Bei insgesamt 718 Seiten Text und Fußnoten ist es weder ratsam noch eigentlich möglich, auf jedes einzelne Kapitel einzugehen. Es ist aber auch extrem schwierig, die Bedeutung oder Erkenntnisse einzelner Kapitel einzuordnen, da am Ende der jeweiligen Kapitel keine Zusammenfassungen zu finden sind. Darüber hinaus versinken die Argumente des Autors in der Dichte der massiven und sperrigen Informationsfülle. Schmid bleibt eisern an sein angekündigtes Vorhaben "zu rekonstruieren und zu beschreiben" gebunden. Für diejenigen, die sich länger mit der preußischen Militärgeschichte, insbesondere der Geschichte des Generalstabes befasst haben, bietet das Buch sicherlich eine wahre Fundgrube an Informationen, die aus den neuen oder bisher in ihrer Bedeutung unterschätzten Quellen mit ungeheuerer Akribie zusammengetragen worden sind. Ferner liefert Schmid zweifelsohne neue Einblicke in das Handeln Bismarcks auf dem Gebiet Militär- und Rüstungspolitik, gleichzeitig ist die Formulierung der Rüstungspolitik durch das Tauziehen zwischen dem Reichstag, dem Kanzler und dem Generalstab hier in einer bisher nicht bekannten Tiefe akkurat und überzeugend dargestellt worden. Das Denken und Handeln der militärischen Akteure kann ebenfalls aus einem neuen Blickwinkel betrachtet werden. Das Problem jedoch liegt in der Präsentation all dieser Einzelheiten und ihren komplexen Wechselwirkungen.
Wie bereits moniert, fehlt es an einer klaren und eindeutigen Fragestellung. Das größte Manko ist aber die Weigerung des Autors, sich den Methoden des Forschungsbereiches der "Civil-Military Relations" zu öffnen. Eine Abhandlung der Rüstungspolitik von diesem Umfang kann eigentlich nur brauchbare Ergebnisse liefern, wenn die Erkenntnisse oder mindestens die leitenden Hypothesen der führenden Politologen auf diesem Gebiet zur Kenntnis genommen werden. Nur eine knappe einleitende Skizze der bisherigen Erklärungsmodelle für die Rüstungspolitik hätte den Leser besser auf das folgende Dauerbombardement mit einer Unmenge an Daten, Statistiken, Sitzungsterminen und anderen Fakten vorbereitet. Die Untersuchung bleibt schließlich in einer so unzugänglichen Form, dass die Lektüre mehr verwirrt und ermüdet, als neue Erkenntnisse und Interpretationen zu bieten. Auch der Leser wird enttäuscht, der auf etwas mehr Klarheit durch ein intensives Studium der "Schlussbetrachtungen" hofft. Auf 26 Seiten wird das Buch lediglich auf einer rein faktischen Ebene zusammengefasst. Weder gibt es klar formulierte Thesen noch einen Vergleich der Ergebnisse mit anderen Studien.
Dennoch ist Schmids Buch eine gewisse Anerkennung zu zollen. Aufgrund der streng chronologischen Vorgehensweise besitzt das Buch einen erkennbaren Wert als Nachschlagwerk über die Rüstungspolitik im Bismarck'schen Reich. So lässt sich festhalten, dass dieses Buch nützlich und anregend für Doktoranden und Historiker sein wird mit einem starken Interesse an der Militär- und Finanzpolitik des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Es bleibt aber der Eindruck, dass eine grundsätzliche Überarbeitung und vor allem eine Kürzung des Manuskripts dringend nötig gewesen wäre. Die Einführung und die Zusammenfassung stehen stellvertretend für die unübersehbaren Schwächen des Buches. Kaum Rücksicht wird auf den Leser genommen, die Gedanken und Interpretationsansätze des Autors werden nie aus dem stark rauschenden Strom der Narrative heraussondiert. Der auf Seite XII geäußerte - jedoch ziemlich utopische - Wunsch des Autors, dass er sich freuen würde, wenn seine Arbeit "auch beim Leser außerhalb der Universitäten und Forschungsinstitutionen auf Interesse stoßen würde" wird sich höchstwahrscheinlich nicht erfüllen. Ob es auf das Interesse der Nichtspezialisten unter den Berufshistorikern des späten 19. Jahrhunderts stoßen wird, bleibt aufgrund der erheblichen Mängel des Buches auch fraglich. Nichtsdestotrotz ist Schmids Buch solide und gewissenhaft recherchiert und ein neuer Beitrag zur militärisch-zivilen Beziehungen im Deutschen Reich für diejenigen Spezialisten, die bereit sind, mit eiserner Entschlossenheit 718 Seiten durchzuarbeiten.
Alaric Searle