Albert S. Kotowski: Zwischen Staatsräson und Vaterlandsliebe. Die Polnische Fraktion im Deutschen Reichstag 1871-1918 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 150), Düsseldorf: Droste 2007, 225 S., ISBN 978-3-7700-5282-0, EUR 38,00
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Bis zum Ersten Weltkrieg lebten - Folge der Aufteilung Polens zwischen den Nachbarn im späten 18. Jahrhundert - über drei Millionen Menschen polnischer Muttersprache in Deutschland, meist in den preußischen Ostprovinzen Posen und Westpreußen sowie Oberschlesien. Ihre politische Vertretung in den Berliner Parlamenten bildete die 1849 gegründete Fraktion im Preußischen Landtag und die seit 1871 bestehende Fraktion (Kolo Polskie) im Deutschen Reichstag. Die Zahl der Reichstagsmandate der Polen betrug zwischen 13 (1887) und 20 (1907). Der in Bydgoszcz geborene und in Bonn osteuropäische Geschichte lehrende Albert Kotowski legt nun erstmals eine detaillierte, quellengesättigte und breit das parlamentarische Verhalten analysierende Untersuchung dieser Fraktion auf Deutsch vor. [1] Die exzellenten polnischen Sprachkenntnisse des Autors erlaubten ihm die Einbeziehung der zeitgenössischen polnischen Publizistik (z. B. Roman v. Komierowski 1905-13) und der neueren wissenschaftlichen Literatur, v. a. der Arbeiten von Z. Hemmerling/J. Benyskiewicz (1968/1976) sowie von L. Trzeciakowski (2003), wie speziell die Auswertung weiterer Archivalien. Hierzu zählen Quellen in polnischen Familien- und Staatsarchiven sowie die Protokolle der Landtagsfraktion in der Biblioteka Kornicka Poznan, da das Gegenstück für die Reichstagsfraktion im Zweiten Weltkrieg verloren ging. All dies bringt Kotowski zu einer profunden Synthese zusammen und erlaubt so deutschen Forschern schnelle Rezeption.
Die Darstellung erfolgt in fünf Kapiteln. Einem ersten Abschnitt über den allgemeinen politischen Rahmen in den national gemischten Gebieten Preußens (17-38) folgen ein Kapitel über Wahlorganisation und Wahlablauf in diesen Regionen (39-80) sowie drei chronologisch gegliederte Teile (81-192) über Zusammensetzung und politische Haltungen des Kolo Polskie 1871-1918. Eine prägnante Zusammenfassung steht am Ende. Nicht durchwegs in strenger Systematik, aber anschaulich schildert Kotowski die Verschärfung der nationalen Gegensätze auf den Ebenen von Wahlorganisation, sozialer Zusammensetzung der polnischen Fraktion und der parlamentarischen Politikgeschichte. Wahlpolitisch ist die langjährige Kooperation von Polen und katholischer Zentrumspartei charakteristisch, dem sich als sog. Anti-Kartell - gegen Konservative und Nationalliberale - häufig auch die Linksliberalen anschlossen. Seit Mitte der 1890er Jahre, vor allem seit 1903 wegen der Konkurrenz in Oberschlesien, lockerte sich diese Kooperation und polnische Abgeordnete aus Oberschlesien traten nun der polnischen Fraktion anstelle der Zentrumsfraktion bei. Gleichzeitig verstärkte sich die Bildung des "deutschen Lagers" in national umkämpften Gebieten. Von Beamten wie dem Bromberger Regierungspräsidenten Christoph v. Tiedemann angebahnt, schloss das "deutsche Lager" nun meist die Linksliberalen ein, die so durch Wahlabkommen mit Konservativen und Nationalliberalen Mandate gewinnen konnten. Auf polnischer Seite wandelte sich die Zusammensetzung der Fraktion; die bis um 1900 dominierenden adeligen Großgrundbesitzer und Geistlichen wurden von einer neuen Generation bürgerlicher Politiker mit nationaldemokratischer Richtung abgelöst. Dies hatte mit dem Aufstieg eines polnischen Bildungsbürgertums zu tun, das die auf sozialkonservativen Weltbildern und Besitzinteressen basierte preußisch-loyalistische Haltung nicht teilte. Auch die Ansicht, dass es Polen in Preußen insgesamt eher besser als im russischen Teilungsgebiet ergehe oder die Hoffnung, dass Autonomie für die mehrheitlich polnischsprachigen Regionen Resultat eines Krieges gegen Russland sein könnte, teilten nationaldemokratische Abgeordnete weit weniger. Der defensive Loyalismus, der sich in Reichstags-Interpellationen gegen die Benachteiligung von Polen, die Zurückdrängung der polnischen Sprache und Germanisierungsmaßnahmen aller Art geäußert hatte, wurde vor allem in politischer Hinsicht brüchig - primär infolge der seit Bismarcks Vorgehen 1885/86 schubweisen Verschärfung der Anti-Polenpolitik. Ungewollt stärkte der deutscherseits forcierte Nationalitätenkampf durch Massenausweisungen von Polen, Ansiedlungskommission und die Sprachenpolitik das polnische Nationalbewusstsein in Tiefe und Breite. Einige Jahre der Entspannung unter Kanzler Caprivi 1890-94, als Jozef von Koscielski versuchte, die polnischen Fraktionen zur Stütze der Regierung zu machen, und für das Votum zugunsten der Caprivischen Handelsverträge Milderungen der Anti-Polenpolitik zu erreichen, blieben Episode. Seit 1896/97 stellte die Berliner Regierung die Weichen klar auf Konfrontation, und die Furcht vor Sozialismus und russischem Panslavismus, die Großgrundbesitzer wie Fürst Ferdynand Radziwill in ihrer loyalistischen Haltung bestärkt hatte, teilten die in Fraktion und Nation immer mächtigeren Nationaldemokraten nicht. Ende Oktober 1918 verkündete Wojciech Korfanty im Reichstag die Bildung eines polnischen Staates - unter Einschluss der bisherigen preußischen Provinzen Posen, Westpreußen und Oberschlesien. Der USPD-Abgeordnete Georg Ledebour, langjähriger scharfer Gegner anti-polnischer Maßnahmen, riet zur Mäßigung in den Gebietsfragen, um nicht die Feindschaft zwischen den beiden Völkern zu perpetuieren, aber seine Mahnung verhallte im nationalistischen Brausen auf beiden Seiten - zum immensen Schaden beider Nationen.
Die von Kotowski nicht behandelte Frage, ob kontrafaktisch ein anderer Ablauf als der realhistorische vorstellbar und die Polen in Preußen-Deutschland dauerhaft integrierbar gewesen wären, dürfte angesichts der jahrzehntelangen preußischen Anti-Polenpolitik und des rabiaten deutschen Nationalismus seit den 1890er-Jahren einerseits sowie des polnischen Nationalstaatsstrebens andererseits wohl zu verneinen sein. Eine vor 1914 von Zentrum, Freisinn und/oder SPD getragene Regierung hätte jedoch eine deutlich mildere Polenpolitik getrieben als die freikonservativ-nationalliberalen policy makers. Bei Ablehnung von territorialem Separatismus waren diese Parteien bereit, Religion, Muttersprache und Kultur der Polen zu achten, wie in einer Verlautbarung des Zentrums von 1906 nachzulesen steht (162). Die genannten Parteien missbilligten im Reichstag auch die Enteignung polnischen Bodens (166). Weniger Konfrontation und politische Belastungen wären so möglich gewesen. Ob jedoch durch Arrangements wie in Österreich oder durch Gewährung weitreichender Minderheiten-Rechte wie denjenigen für Südtirol, Nordschleswig und Eupen nach 1945 das polnische Drängen auf einen Staat aus den drei Teilungsgebieten geschwunden wäre, bleibt zweifelhaft. So stellt sich die deutsch-polnische Geschichte bis in die letzten Jahrzehnte als eine tragische dar, mit viel Schuld auf deutscher Seite und im Zeitalter des europaweiten Nationalismus geringen Chancen für einen ganz anderen, gewalt- und leidensfreien Verlauf.
Kotowski schließt mit seiner kompetenten, von wenigen Detailfehlern hinsichtlich allgemein politischer Sachverhalte nicht gestörten Untersuchung des Kolo Polskie eine alte Lücke der deutschen Parlamentarismus-Forschung. Das Fehlen eines biographischen Anhangs, der die Lebenswege der oft weniger bekannten Abgeordneten anhand der polnischen Literatur hätte skizzieren sollen, bleibt deshalb zu bedauern - jedenfalls solange kein biographisches Handbuch aller knapp 2800 Reichstagsabgeordneten 1867/71-1918 vorliegt.
Anmerkung:
[1] Bisher gab es auf Deutsch nur den Überblicksartikel von Zdzislaw Grot u. a.: Kola Polskie - Polnische Fraktionen im preußischen Landtag und im Reichstag 1849-1918, in: Dieter Fricke u. a. (Hgg): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789-1945), Bd. 3, Leipzig 1985, 258-267.
Hartwin Spenkuch