Josef Matzerath: Adelsprobe an der Moderne. Sächsischer Adel 1763-1866. Entkonkretisierung einer traditionellen Sozialformation (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte; Beiheft 183), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 609 S., 21 Tab., ISBN 978-3-515-08596-0, EUR 68,00
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Dürfte man den Namen nur eines einzigen Exponenten der sächsischen Adelsforschung der letzten eineinhalb Jahrzehnte anführen, so müsste man fraglos Josef Matzerath nennen. Die nun gedruckte Habilschrift dieses an der TU Dresden lehrenden Historikers kann als Summe seiner Forschungen zum Themenbereich sächsischer Adel zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert gelten. Aufgrund umfassender Literaturkenntnis und vielfachen, eigenen Archivrecherchen verfasst, gut gegliedert und klar argumentiert, zeichnet die Arbeit eine sowohl politik- und sozial- wie auch kulturgeschichtliche Herangehensweise aus. Der Adel wird in zentralen Arenen seines Daseins - in Sozialisation, Familie und Berufswegen, in der Stadt Dresden und am Hof, den Ständeversammlungen bzw. den Landtagen sowie auch anhand von Ego-Dokumenten im Selbstverständnis - faktengesättigt untersucht.
Die zahlreichen Einzelergebnisse der gewichtigen Arbeit können und sollen hier nicht referiert, sondern dem Fachpublikum zu eigener Lektüre empfohlen werden. Als übergreifendes Ergebnis für die deutsche Adelsforschung insgesamt plädiert Matzerath - wie bereits in der Einleitung eines von ihm 2001 herausgegebenen Sammelbandes [1] auch hier mit der Formulierung "Vom Stand zur Erinnerungsgruppe" (21, 256, 458) für sein spezifisches Konzept der Adelsforschung, das sich vom primären sozialgeschichtlichen Interesse an den Adelsstrategien zum Obenbleiben absetzen will. Matzerath begründet seine Formulierung damit, dass der sächsische Adel in Institutionen, Konnubium und Sozialisationsinstanzen relativ offen und insgesamt keineswegs "Trägerschicht des fortschrittshemmenden Feudalismus" gewesen sei (14), er politisch auf mehrere Richtungen verteilt war (412) und kein gemeinsames Agieren als Sozialformation zustande brachte (455 f.), ja dass er am Ende des betrachteten Zeitraums nach Vermögen, Macht und Kultur zu unterschiedlichen Klassen gehört habe (461). Der somit als homogener Stand aufgelöste Adel habe primär durch Mechanismen kultureller Distinktion und Erinnerungskultur in den ausdifferenzierten Lebenswelten den Zusammenhalt für einen Großteil seiner Mitglieder symbolisch gewahrt. Mit seiner (punktuell zu) detailreich fundierten Sichtweise schließt Matzerath durchaus an Tendenzen der jüngeren Adelsforschung zum 19. Jahrhundert an, die ständische Entgrenzung erkennt, den Adel nicht als politischen Monolithen betrachtet, insgesamt die Binnendifferenzierung und die Vielfalt der Lebenssituationen dokumentiert. Zugleich untersucht Matzerath jedoch mit vollem Recht die binnenadeligen Kohäsionskräfte, rekurriert mehrfach auf den Begriff "Adeligkeit" (108 f., 289, 454) und gibt Teil 3 trotz der anfänglich formulierten Skepsis die Überschrift "Strategien des Obenbleibens". Hierbei attestiert er auch dem sächsischen Adel durchaus standesbewusste Erziehung, große Anstrengungen zur Erhaltung bzw. Stilisierung der Familie, gewisse exklusive Kommunikationsformen, Einsatz von ständischem Sozialkapital bei der beruflichen Karriere und Beharrung auf politischer Dominanz in der Ersten Kammer. Damit liegt Matzerath jedoch inhaltlich nahe bei dem Konzept von Adeligkeit, das Heinz Reif vorgeschlagen hat und das durch Mentalitätskerne wie Hervorhebung der Familie und ganzheitliche Lebensform, Anspruch auf Vorrang und Herrschaft bei gleichzeitiger Diensthaltung gegenüber der Monarchie sowie Rollenanpassung angesichts moderner Herausforderungen definiert ist. Auch in seiner sozial- und kulturgeschichtlichen Vorgehensweise ist Matzerath nahe bei Reif zu verorten, so dass die Unterschiede dem Rezensenten vor allem in der starken Betonung des Faktors Erinnerungskultur als Explanans zu liegen scheinen. Dieser Zuspitzung muss man aufgrund Matzeraths empirischen Befunden aber nicht folgen und kann den sächsischen Adel jedenfalls bis 1918 als durch Adelsrecht definierte, sozial bewahrte und familial stilisierte Abstammungsgemeinschaft sowie als Führungsgruppe gemäß Tradition und nicht aufgegebenem eigenem Anspruch analysieren. Mit dem von Matzerath milde kritisierten elitentheoretischen Zugriff wird nicht eine Sozialgruppe überzeitlich konstruiert oder die Vielfalt der vergangenen Wirklichkeit verkürzt, sondern das Substrat aus empirischer Quellenarbeit systematisiert und bewertet. Auch Matzeraths Untersuchung der Kohäsionskräfte belegt, dass Adel im 19. Jahrhundert mehr war als ein offener Geselligkeitsverein.
Allerdings kommt bei manchen Einzelfragen die Einschätzung des individuellen Forschers ins Spiel. Man kann beispielsweise wie Matzerath dem sächsischen Adel politische Offenheit attestieren, weil seine Vertreter 1848/50 sowohl dem strengen wie dem moderaten Konservatismus wie dem gemäßigten Liberalismus anhingen, und zudem die Mehrheit schon im frühen 19. Jahrhundert bereit war, produktivitätshemmende Feudalverhältnisse aufzugeben (412 f.). Man kann aber auch kritischer sehend behaupten, dass diese Positionen durchaus zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil eingenommen, politische Reformen von der sehr unbeliebten Ersten Kammer im Vorfeld der Revolution 1848 abgelehnt wurden und die dann gemachten Konzessionen seitens einer minoritären Adelsfraktion zwar klug kalkuliert waren, aber weder dem Herzensbedürfnis des Gros der Adeligen entsprachen, noch ohne revolutionären Druck erfolgt wären. Die Mehrzahl der Adeligen war in aller Regel doch auf der politischen Rechten zu finden und blieb eingebunden in die Diskurse der staatlich-politischen Eliten.
Matzerath betont zu Recht, dass der Staat mehrfach hilfreich als Garant adeliger Standes-, Herrschafts- und Besitzrechte einsprang (391, 408). Frühere Arbeiten, zuletzt Patrick Wagners "Bauern, Junker und Beamte" [2], haben dies u. a. für Preußen herausgearbeitet. Aber es war eben nicht der Staat per se, sondern die Monarchie mit dem König als erstem Adeligen sowie bürokratischen Spitzen, die von Aristokraten - in Sachsen noch 55% im Jahre 1847 (560) - und assoziierten Geistesaristokraten dominiert wurden. Dieser moderat reformierende monarchisch-bürokratische Staat, wie er seit dem späten 18. Jahrhundert angesichts äußerer wie innerer Notwendigkeiten entstand, bildete in den konstitutionellen deutschen Staaten ein verbreitetes Muster. Nicht zuletzt wegen der sozialen Zusammensetzung des Spitzenpersonals wurde bei Reformen (in aller Regel) darauf gesehen, dass dem Gros des Adels hinreichend Lebensgrundlagen und diversen Repräsentanten eine führende Stellung erhalten blieben. Trotz aller "Entkonkretisierung" lebten Aristokratie und konstitutionelle deutsche Staaten bis 1918 in einer Art Symbiose, die das Selbstverständnis des Adels wesentlich mitprägte - und mit dem Leitbegriff Erinnerungsgruppe nur partiell erfasst wird. Wenn der Staat auch in Sachsen wichtig war, bleibt zu bedauern, dass Matzerath aus Gründen des Umfangs und der gedanklichen Klarheit schon einleitend (22) den systematischen innerdeutschen Vergleich ablehnt. Im Kontrast zu Preußen und den süddeutschen Staaten würde sich die Musterhaftigkeit oder eigenständige Spezifik (so 423 in Bezug auf Familienstrategien) des Adels im gewerbe- und bevölkerungsreichen Sachsen sicherer bestimmen lassen. So bleibt der stringente Vergleich von Adelslandschaften noch zu leisten, obschon Matzerath die essentielle Basis dafür bereitgestellt hat.
Im Rahmen einer knappen Besprechung müssen diese Andeutungen seitens eines jener "sozialhistorischen Traditionalisten", die Matzerath im Vorwort (11) explizit zum Dialog auffordert, genügen. Wenngleich der Rezensent somit weder von der überlegenen Erklärungskraft des Begriffs und Modells "Erinnerungsgruppe" für das 19. Jahrhundert überzeugt, noch in einigen Urteilen dem Autor zu folgen geneigt ist, bleibt Matzeraths Werk fraglos bedeutend für die sächsische Adelforschung, anregend als spezifischer Ansatz sowie als große Arbeitsleistung des wohl besten Kenners des Themas zu rühmen. Josef Matzerath hat ein empirisch ungemein reiches Standardwerk vorgelegt.
Anmerkungen:
[1] Silke Marburg / Josef Matzerath: Vom Stand zur Erinnerungsgruppe. Zur Adelsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, in: dies. (Hg.): Der Schritt in die Moderne. Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918, Köln u. a. 2001, 5-15.
[2] Vgl. meine Rezension in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 12; URL: http://www.sehepunkte.de/2005/12/9378.html
Hartwin Spenkuch