Winfried Baumgart (Hg.): Die auswärtige Politik Preußens 1858-1871. Diplomatische Aktenstücke. Zweite Abteilung: Vom Amtsantritt Bismarcks bis zum Prager Frieden. Bd. VII: April bis August 1866 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Bd. 36), Berlin: Duncker & Humblot 2008, 675 S., ISBN 978-3-428-12715-3, EUR 58,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Hedwig Richter: Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert, Hamburg: Hamburger Edition 2017
Scott M. Eddie: Landownership in Eastern Germany before the Great War. A Quantitative Analysis, Oxford: Oxford University Press 2008
Eagle Glassheim: Noble Nationalists. The Transformation of the Bohemian Aristocracy, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2005
Winfried Baumgart (Hg.): Bismarck und der deutsche Kolonialerwerb 1883-1885. Eine Quellensammlung, Berlin: Duncker & Humblot 2011
Winfried Baumgart (Hg.): Herbert von Bismarck. Erinnerungen und Aufzeichnungen 1871-1895, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015
Winfried Baumgart (Hg.): Ein preußischer Gesandter in München. Georg Freiherr von Werthern. Tagebuch und politische Korrespondenz mit Bismarck 1867-1888, Berlin: Duncker & Humblot 2018
Den Hauptertrag dieses letzten Bandes der alten Reihe "Die auswärtige Politik Preußens 1858-1871" (APP) bringt der Herausgeber gleich eingangs klar auf den Punkt: "Am 16. Juni [1866] brach der systematisch vorbereitete Krieg aus. Bismarck hat ihn entfesselt." Mit 590 diplomatischen Aktenstücken aus den fünf entscheidenden Monaten April bis August 1866, davon 323 erstmals veröffentlichten, wird dieses Fazit dokumentarisch dicht belegt. Zwar haben bereits bisherige Deutungen tendenziell die Hauptschuld Preußens attestiert, aber mit dem eindeutigen Ergebnis des Mainzer Emeritus' Winfried Baumgart - als Herausgeber der vielbändigen Aktenserien zur Geschichte des Krimkrieges und als Verfasser des sechsten Bandes des "Handbuches der Geschichte der internationalen Beziehungen" in der europäischen Außenpolitik des 19. Jahrhunderts bestens ausgewiesen - dürften sich etwaige Debatten zur Kriegsschuld erübrigen.
Im knappen Vorwort erläutert Baumgart die Entstehungsgeschichte der Edition, die erst im vierten Anlauf zum Druck kam. Das fast fertige Manuskript, das Rudolf Ibbeken im Auftrag der "Historischen Reichskommission" bzw. ab 1936 Walter Franks "Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands" fertigte, ging im Zweiten Weltkrieg verloren. Ein zweiter Anlauf im Rahmen der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften endete bis 1966 mit einem negativ begutachteten Text. Ein dritter Anlauf des Berliner Historikers Wolfgang Steglich erbrachte in zwei Jahrzehnten Forschung Dutzende von Ordnern und Kartons mit Material, aber bis zum Tode Steglichs 2004 kein druckfertiges Manuskript. Erst der vierte Anlauf Baumgarts, der die Exzerpte Ibbekens aus dem Moskauer Zentralarchiv wie die Sammlungen der früheren Versuche inkorporiert, gelang. Neben preußischen, englischen und russischen Stücken werden auch niederländische, bayerische und sächsische einbezogen. Zahlreiche Schlüsseldokumente, die bereits in den länderspezifischen Dokumentensammlungen, Bismarcks Gesammelten Werken und Einzeltiteln veröffentlicht worden sind, sind als Regesten in Kursiv-Schrift beigegeben. Der Nutzer muss zur Lektüre eines erklecklichen Anteils der Stücke über gute Englisch- und Französisch-Kenntnisse verfügen; glücklicherweise sind die russischen Dokumente in französischer Sprache geschrieben. Die Edition ist insgesamt vorbildlich; 30 Seiten Namens- und Sachregister erweisen sich als ebenso hilfreich wie verlässlich; die Anmerkungen zu Personen, Sachverhalten, weiteren Dokumenten und Forschungsliteratur halten ein gesundes Mittelmaß zwischen - für den Nutzer desaströsen - editorischem Purismus und einem Überfluss an Erläuterungen von Details.
Leider findet sich Baumgarts souveräne Einleitung "Bismarck und der Deutsche Krieg 1866" - die Charakterisierung als Deutscher Krieg vermeidet zu Recht den vernebelnden Begriff preußisch-österreichischer Krieg - nicht in dem Band, sondern muss vom interessierten Leser selbst aus den "Historischen Mitteilungen" (Bd. 20, 2007, 93-115) beschafft werden. Die Begründung dieser Separat-Publikation, dass nämlich inhaltliche Einleitungen bei Editionen allgemein und bei den APP-Bänden im besonderen unüblich seien (9), überzeugt den Rezensenten gar nicht. Bloße Anhänglichkeit an Traditionen sollte gegen Argumente der praktischen Vernunft und Benutzerfreundlichkeit nicht obsiegen. In seinem ebenso sachlich kompetenten wie bezüglich Bismarck schonungslosen Aufsatz führt Baumgart den interessierten Leser durch das diplomatische Panorama der Kriegsvorbereitung. Schon im Frühjahr 1866 war es ein unter Diplomaten sowie informierten Beobachtern gängiges politisches Urteil, dass Bismarck den Konflikt mit Österreich so lange eskaliere, bis nur Krieg als Resultat bleibe; dem preußischen Befehlshaber im 1864 besetzten Schleswig, General Edwin von Manteuffel, suchte Bismarck explizit einen Überfall auf das österreichisch verwaltete Holstein zu befehlen (357, 361f.). Selbstaussagen Bismarcks gegenüber ausländischen Diplomaten wie die im April 1866, nur sein Tod könne den Krieg verhindern (150), sind eindeutig. Gegner des Kriegskurses waren deutsche Bundesfürsten, preußische Botschafter wie von der Goltz oder Graf Bernstorff und sogar Königin und Kronprinz in Berlin, längere Zeit auch König Wilhelm I. Dessen Zustimmung war unabdingbar; deshalb "bearbeitete" Bismarck ihn monatelang und bewog ihn mit dem Hinweis auf eine drohende Demütigung Preußens durch Österreich wie in Olmütz 1850 (100) zur Einwilligung. Die außenpolitische Konstellation stellte sich 1866 besonders günstig dar, denn England war mit anderen Problemen beschäftigt und folgte der Non-Intervention-Linie; Piemont-Italien konnte durch den auf Gewinnung Venetiens von Österreich gerichteten Geheimvertrag als Verbündeter Preußens gewonnen werden; das Frankreich Napoleons III. war darüber informiert und von Bismarck mit möglichen linksrheinischen Gewinnen in der Pfalz und im Regierungsbezirk Trier, ja gar in Rheinhessen mit der Festung Mainz, geschickt geködert; Russland unter Zar Alexander II., dem Neffen Wilhelms I., verhielt sich wohlwollend neutral und ermöglichte mit dieser Rückendeckung Preußen den Krieg von 1866 wie den von 1870. Die liberale Nationalbewegung (Nord-) Deutschlands, aus mancherlei Gründen schon an sich antiösterreichisch, wurde durch die Aussicht auf den norddeutschen Staat und einem reichsdeutschen Parlament von Bismarck weitgehend gewonnen. Die mit Österreich verbündeten süddeutschen Staaten kamen über den Status von Objekten des machtpolitischen Geschehens nicht hinaus. Gegen noch größere Annexionen als Hannover, Hessen-Nassau und Schleswig-Holstein, die Entthronung weiterer (russisch verschwägerter) deutscher Monarchen und Zugeständnisse in Richtung weiterer politischer Liberalisierung wandte sich der Zar allerdings mehrfach. Soweit das von Baumgart überaus kenntnisreich entfaltete Tableau 1866 in Kürze.
Alle Kalküle Bismarcks gingen auf, mit Schlachtenglück wurde bei Königgrätz der Ausschluss Österreichs aus dem Reich erzwungen, und Großpreußen entstand im Rahmen des Norddeutschen Bundes. Der britische Botschafter Lord Loftus sprach von "a rapidity and a success unparalleled in history" (546) und nahm damit quasi Disraelis späteres Wort vom 1870er Sieg als der großen europäisch-machtpolitischen Revolution vorweg. Jenseits der von Baumgart mustergültig edierten 590 diplomatischen Aktenstücke und selbst jenseits der rund 10.000 Opfer, die Bismarcks Kriegskurs im Deutschen Bund kostete, sieht der Rezensent 1866 vor allem als Beginn einer unheilvollen Tradition des Erfolgs von Machtpolitik und Bellizismus, die, zumal nach dem Sieg von 1870/71, die politische Mentalität der preußisch-deutschen Führungsschichten vom Generalstab bis zum Bildungsbürgertum durchdrang. Das stellte die wohl schlimmste langfristige Folge von Bismarcks Deutschem Krieg dar.
Hartwin Spenkuch