Friedrich Scherer: Adler und Halbmond. Bismarck und der Orient 1878-1890 (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 2), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2001, XVII + 571 S., ISBN 978-3-506-79221-1, EUR 51,60
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Am 30. Oktober 1918 wurde der Türkei ein Waffenstillstand gewährt, zwölf Tage später dem Deutschen Reich. Dies war das vorläufige Ende einer wechselvollen deutsch-türkischen Freundschaft, die unter Bismarck ihren Anfang genommen hatte.[1] Die vielen Unbekannten in dieser Beziehung ließen es selbst im Juli 1914 noch unsicher erscheinen, ob sich Said Halims Regierung auf die Seite Deutschlands stellen würde, denn - so der deutsche Botschafter - die Türkei sei "vollkommen bündnisunfähig".[2]
Vabanquespiele hatten Tradition in der Beziehung zwischen der Türkei und Preußen, wobei die Frage offen blieb, wer der bessere Spieler war. Eine Schaukelpolitik hatten die Sultane schon im 19. Jahrhundert betreiben müssen, denn der "kranke Mann am Bosporus" war umgeben von Großmächten, die ihn zu Tode pflegen wollten. Friedrich Scherer hat sich einem dieser Spieler gewidmet und Bismarck in den Mittelpunkt einer interessanten Studie über die Tücken der deutschen Türkeipolitik gestellt.
Klaus Hildebrand hat einmal treffend von "kalkulierter Resignation" gesprochen, die lange Zeit nach dem Auftauchen der Orientfrage unter Diplomaten vorherrschte. 1822 war es noch "eine Art von Courtoisie [...], nie über die türkischen Angelegenheiten zu sprechen",[3] zu leidig waren die Details. Dies scheint auch heute noch der Fall zu sein, denn beliebt war das Thema bei nur wenigen deutschen Historikern. Die Arbeiten von Hildebrand und Schöllgen [4] sind hier die rühmlichen Ausnahmen, außerdem wurden einzelne Orientkrisen - unter anderem von Winfried Baumgart, Imanuel Geiß und Wolfgang Windelband - eingehend untersucht. Scherer liefert nun ein weiteres Verbindungsstück und konzentriert sich dabei neben dem diplomatiegeschichtlichen Aspekt auch auf militärische und wirtschaftliche Fragestellungen. Ein solcher Ansatz ist unverzichtbar, denn Militär wie Wirtschaft wurden von Bismarck für seine Schachzüge gelegentlich gebraucht und häufig wieder verworfen.
Die Arbeit stützt sich allein auf deutsche Quellen und ist deswegen größtenteils aus dem Blickwinkel des Reichskanzlers geschrieben. Das ist durchaus vertretbar, denn Bismarck allein bestimmte die Richtlinien dieser Politik. Es wird jedoch problematisch bei Kapiteln, in denen die Reaktionen und Motivationen der türkischen Seite in den Mittelpunkt rücken (besonders 70 ff.) und man gerne mehr aus türkischen Quellen erfahren würde. Was zum Beispiel den Sultan 1880 dazu trieb, ausgerechnet deutsche Militärberater anzufordern (zu einem Zeitpunkt, als die deutsch-türkischen Beziehungen noch vom Berliner Kongress belastet waren), wird allein aus der Sekundärliteratur rekonstruiert. Dies geschieht zwar schlüssig, doch die komplexe Politik, welche die türkische Seite ständig verfolgte, wird weiterhin schwierig zu durchschauen sein, wenn man sich nicht stärker in die social codes und mental maps der Türken einarbeitet. Trotzdem ist Scherers Arbeit eine hilfreiche und sehr gelungene Ergänzung zum besseren Verständnis deutscher Außenpolitik der 1870er und 80er-Jahre.
Das Verdikt Friedrichs des Großen, Neutralität in der Orientfrage zu wahren, hatte die preußische Politik lange Zeit geprägt. Zwar gab auch Bismarck vor, in dieser Tradition zu stehen, doch gleichzeitig beschäftigte er sich, wie Scherer zeigt, schon während des Krimkrieges intensiv mit dem Problem. Tatsächlich ist Bismarcks überstrapazierte Aussage von den Knochen des "pommerschen Musketiers" irreführend, wenn man daraus Gleichgültigkeit gegenüber dem osmanischen Reich ableiten würde. Auch Kommentare wie zum Beispiel, es sei ihm "vollständig gleichgültig, [...] wer in Bulgarien regiert und was aus Bulgarien überhaupt wird", waren immer als reine Ablenkungsmanöver gedacht.
Bismarck wollte zuerst einmal die osmanische Problematik nutzen, um die Großmächte in Atem zu halten (und ihre Aufmerksamkeit von der deutschen Frage abzulenken). Daher auch seine berühmte Feststellung von 1862: "Die orientalische Frage ist ein Gebiet, auf welchem wir unseren Freunden nützlich und unseren Gegnern schädlich sein können, ohne durch direkte eigene Interessen wesentlich gehemmt zu werden". Dieses Spiel endete jedoch 1871, denn nun musste der erreichte Status quo gewahrt werden, und dies bedeutete in den folgenden Jahren ein ständiges Lavieren zwischen Zweibund und fragilem Dreikaiserbündnis. Hierbei handelte es sich um eine äußerst komplexe Politik, die bei allen Chancen auch die Gefahr in sich barg, immer weiter in die osmanischen Angelegenheiten verwickelt zu werden. Denn bei aller Raffinesse, die Scherer Bismarck hier attestiert, sei diesem ein fundamentaler Irrtum unterlaufen. Die Hoffnung, eine Rivalität zwischen Österreich und Russland würde beide vom deutschen Bündnis immer abhängiger machen, bewahrheitete sich bekanntermaßen nicht. Bismarck hatte die gefährliche Dynamik dieser Konstellation unterschätzt und andererseits die Rivalität zwischen England und Russland zeitweise überschätzt. Er konnte ja auch nicht ahnen, dass sein alter Widersacher Gladstone, der 1880 nach flammenden Reden für die christlichen underdogs die breite englische Öffentlichkeit für die 'Eastern Question' gewonnen hatte, wieder gewählt werden würde. Dies führte dazu, dass die pro-osmanische Politik Englands vorübergehend in ihr Gegenteil verwandelt wurde und die Türkei sich Hilfe suchend an die Deutschen wandte, der Beginn einer fast strindbergisch anmutenden Verbindung.
Gladstones ideologischer Kampf störte vorübergehend die Balance, England überließ nun erst einmal Wien die undankbare Rolle, sich gegen die russischen Interventionen zu stellen - eine Entwicklung, die Bismarck mit allen Mitteln verhindern musste. Tatsächlich hätte Gladstones und Bismarcks Einschätzung der Türkei nicht verschiedener sein können. Bismarck war kein Idealist wie sein englischer Gegenpart, die inneren Verhältnisse des osmanischen Reiches tangierten ihn nur in ihrer Rückwirkung auf die europäischen Großmächte. Das nationale Erwachen der Balkanvölker interessierte ihn genauso wenig wie deren damit verbundenen religiösen Probleme. Zwar zwang er England langfristig wieder an die Seite der Türkei, doch die bulgarische Krise von 1885-88 mit ihrer Blockkonstellation England, Österreich und Italien auf der einen, Russland und Frankreich auf der anderen Seite wurde zu einem weiteren Problem für den Reichskanzler. Dieser sah im Ernstfall einen Zweifrontenkrieg auf Deutschland zukommen und musste so, mit dem russischen Rückversicherungsvertrag ausgestattet, ständig zwischen den beiden Gruppen schwanken.
Es wurde immer wieder die Frage gestellt, inwieweit man Bismarcks Politik für die spätere Balkan-Problematik verantwortlich machen kann, und auch Scherer untersucht detailliert, "ob, wie und warum Bismarck die deutsche Orientpolitik auf die schiefe Bahn [führte]". Andreas Hillgruber hat hier starke Versäumnisse gesehen, so vor allem Bismarcks Einsatz für die österreichische Besetzung Bosniens und der Herzegowina auf dem Berliner Kongress, wodurch letztlich nicht nur Österreich, sondern auch Deutschland ins Minenfeld geführt wurde. Auch Schöllgen fand an vielen Stellen "jene politischen Abwege angelegt", die zum Ersten Weltkrieg führten.[5]
Zwei weitere Kritikpunkte tauchen dabei immer wieder auf: Erstens wird eine Kontinuität zwischen der Entsendung deutscher Militärberater seit den 1880er-Jahren und der Militärmission Liman von Sanders 1913 gezogen. Zweitens wird Bismarck seine Zustimmung zum Erwerb der anatolischen Eisenbahnkonzessionen vorgeworfen, denn es war - neben dem Flottenbau - die Bahnlinie nach Bagdad, die das deutsch-englische Verhältnis langfristig belastete (547).
Scherer sieht den zweiten Punkt tatsächlich als ein unnötiges Risiko vonseiten Bismarcks. Was jedoch die Militärberater betrifft, zeigt er eindeutig, wie wenig Einfluss Bismarck diesen gewährte. Der Autor entwickelt am Schluss eine gewisse Nachsicht mit dem Reichskanzler, der in der ganzen letzten Phase seiner Orientpolitik, mehr "Getriebener als Antreiber" (546) gewesen sei.
Bei der Schuldsuche, so zeigt Scherer überzeugend, sind eher die Erben des Reichskanzlers ins Visier zu nehmen. Mit dem Generationswechsel von 1888 beginnt tatsächlich eine neue Orientpolitik. Wilhelms II. Besuch in Konstantinopel 1889 und seine Begeisterung für den Orient sind hierbei entscheidend. Es war Wilhelm, der - dank der Beratung Graf Waldersees - einen Krieg mit Russland für unvermeidlich hielt und dabei auf türkische Hilfe hoffte. Auch später forcierte er, trotz wachsender Bedenken von Siemens, aus rein politischen Gründen die deutsche Bagdadbahn.
Die Orientpolitik gehört sicher nicht zu Bismarcks erfolgreichsten Handlungen. Das lag jedoch eher an den vielen disparaten Mitspielern als am Kanzler selbst. Keiner konnte tatsächlich behaupten, die Region unter Kontrolle zu haben. Es war, wie Andrássy in diesem Zusammenhang 1876 geäußert hatte, für alle Beteiligten eine "Politik von Fall zu Fall". Wie alle Mitspieler musste Bismarck sich ständig mit "labilen Provisorien" (542) zufrieden geben und konnte keine Langzeitstrategie entwickeln.
Das Fazit des Autors leuchtet demnach ein: "[Bismarcks Politik] hielt den Krieg vom Reich fern, aber sie hemmte seine weitere Machtentfaltung, sie hielt Optionen für die Zukunft offen, doch sie vermittelte keine Vision einer dauerhaften friedlichen Ordnung für Deutschland und Europa."
Anmerkungen:
[1] In dem hier besprochenen Buch wird die Türkei mit dem Osmanischen Reich gleichsetzt, was schon die Zeitgenossen Bismarcks getan haben.
[2] Wangenheim an das Auswärtige Amt, 18. Juli 1914. Zitiert in: H.S.W. Corrigan: German-Turkish Relations and the Outbreak of War in 1914, in: Past and Present, 36 (1967), S. 151.
[3] Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Stuttgart 1995, S. 39.
[4] Gregor Schöllgen: Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871-1914, München 1984.
[5] Gregor Schöllgen: Zwischen Abstinenz und Engagement. Bismarck und die orientalische Frage, in: Johannes Kunisch (Hg.): Bismarck und seine Zeit, Berlin 1992, S. 155.
Karina Urbach