Michael Kißener: Das Dritte Reich (= Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, 136 S., ISBN 978-3-534-14726-7, EUR 16,90
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Die von Arnd Bauerkämper, Peter Steinbach und Edgar Wolfrum für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft herausgegebene Reihe "Kontroversen um die Geschichte" zielt nicht "auf eine erschöpfende Darstellung historischer Prozesse [...], sondern auf eine ausgewogene Diskussion wichtiger Forschungsprobleme" (VII). Sie richtet sich in erster Linie an Studierende und Examenskandidaten, aber auch an Lehrende, die die "Befunde der Geschichtsschreibung sachkundig vermitteln möchten". Der Mainzer Zeithistoriker Michael Kißener hat die schwierige Aufgabe übernommen, die vielfältigen Kontroversen nachzuzeichnen, die sich um die Interpretationen des "Dritten Reiches" ranken. Schwierig gleich in zweierlei Hinsicht, denn erstens steht mit Ian Kershaws "Der NS-Staat" eine präzise Einführung in die Thematik zur Verfügung [1], und zweitens sind die vielfältigen Auseinandersetzungen um den NS-Staat schwer zu bündeln und auf dem vergleichsweise geringen Umfang von 120 Seiten unterzubringen. An die Verdichtungsleistung des Autors werden insofern hohe Ansprüche gestellt.
Kißener beginnt seine Darstellung mit einer Eingrenzung des Gegenstandsbereiches. Bei einer "Kontroverse" müssten drei Elemente zusammentreffen: Ein gravierender Widerspruch zwischen These und Antithese, ein bedeutender Streitgegenstand und eine Auseinandersetzung, die sich nicht nur in Fachzeitschriften, sondern auch im öffentlichen Raum abgespielt habe (8). Im Hauptteil seiner Studie handelt Kißener schließlich mehr als 20 Kontroversen zum NS-Staat ab, auf die jedoch meistens nur eines der genannten Kriterien zutrifft. Er skizziert den Forschungsstreit um Hitlers Stellung innerhalb des NS-Herrschaftssystems, die Interpretationen zur Implementierung des Holocaust, die Legende vom "Blitzkrieg" und die Debatte um einen Präventivkrieg gegen die Sowjetunion, Begriff und Trägergruppen des deutschen Widerstands gegen den NS-Staat und die "Vergangenheitsbewältigung" nach 1945. In seinem längsten Unterkapitel "Streit um Eliten, Ereignisse und Institutionen" schildert der Autor die Kontroversen um den Reichstagsbrand beziehungsweise um die Rolle von Geheimer Staatspolizei, Verwaltung und Justiz, Wehrmacht, Wirtschaft, Kirchen und Frauen im "Dritten Reich". Positiv hervorzuheben sind insbesondere die Ausführungen zum deutschen Widerstand, wenngleich Kißener die Bedeutung des Resistenz-Begriffs zu hoch veranschlagt (86 ff., ähnlich 73) und sich ohne nähere Begründung gegen die empirischen Evidenzen stellt, die für die Beteiligung einiger Verschwörer des 20. Juli 1944 an der "Partisanenbekämpfung" der Wehrmacht an der "Ostfront" sprechen (94). Zuverlässig referiert der Autor außerdem die Kontroversen um die Rolle der katholischen Kirche im NS-Staat, wohingegen ihm die weit verzweigte Forschungsdebatte um den evangelischen "Kirchenkampf" nur wenige Zeilen Wert ist.
Andere Kapitel leiden indes stark unter dem Zwang zur Reduktion und wenig überzeugenden inhaltlichen Gewichtungen. Während einem so vergleichsweise abseitigen Thema wie dem "Wunder von Dünkirchen" (78 ff.) einiger Raum gegeben wird und Kißener den knapp bemessenen Platz des Öfteren zu Polemiken nutzt - etwa gegen die DDR-Forschung (3, 25, 29), die angeblich "zahlreichen Fehler[n] und Fotofälschungen" der Wehrmachtsausstellung (59, ähnlich 38 f.) und die antikatholischen Affekte, die sich seiner Ansicht nach im dritten Band von Klaus-Michael Mallmanns und Gerhard Pauls Regionalstudie zum Saarland finden lassen (73) - vermisst man mehrere aktuelle Forschungsdebatten. So übergeht Kißener die Auseinandersetzung um Christian Gerlachs Aufsatz über Hitlers "politische Grundsatzentscheidung" vom Dezember 1941, die europäischen Juden zu ermorden [2], lässt bei seinen Ausführungen zum Antisemitismus der deutschen Bevölkerung die neueren Forschungen zu den "Arisierungen" unberücksichtigt, vernachlässigt bei der Analyse der neueren Polizeiforschung die Kontroverse um den Stellenwert der Denunziationen und erkennt jene grundsätzliche Bedeutung nicht, die der "Historikerinnenstreit" zwischen Claudia Koonz und Gisela Bock für die frauen- und geschlechtergeschichtliche Forschung zur NS-Zeit gewonnen hat.
Wenig Interesse zeigt Kißener für die besonderen Produktionsbedingungen zeithistorischen Wissens. Zwei für das professionelle Selbstverständnis deutscher Historiker zentrale Kontroversen haben keinen Eingang in seine Darstellung gefunden. Die Frage nach der Beteiligung ihrer Zunftgenossen an den NS-Verbrechen [3] und die Auseinandersetzung um die Dissertation von Nicolas Berg [4] werden mit keiner Silbe erwähnt. Dies ist erklärungsbedürftig, weil sich Kißener ausdrücklich zu Martin Broszats Plädoyer für eine "Historisierung" des Nationalsozialismus bekennt (112 f.), dessen erkenntnistheoretische Problematik durch Bergs Studie so eindringlich aufgedeckt worden ist. Dass der Autor die in den letzten Jahren zunehmende Medialisierung der NS-Geschichte weitgehend ausblendet, muss ebenfalls irritieren, hat diese doch mittlerweile einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Verlauf neuerer Debatten um die NS-Geschichte gewonnen. Alles in allem liefert Kißener zwar eine gut lesbare Einführung in einige Kontroversen um den NS-Staat. Auf Grund einer nicht immer geglückten Schwerpunktsetzung und einiger fragwürdiger Urteile ist seine Darstellung jedoch zur Vermittlung historischen Wissens an Studierende weniger gut geeignet. Deshalb wird man weiterhin auf Kershaws eingangs genannte Studie zurückgreifen müssen, die vielleicht nicht einfacher zu rezipieren, dafür aber argumentativ ausgewogener und wissenschaftlich zuverlässiger ist.
Anmerkungen:
[1] Ian Kershaw: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, vollständig überarb. und erw. Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1999.
[2] Christian Gerlach: Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden, in: Ders.: Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Zürich 2001, 79-152. Zum Einstieg in die Kontroverse siehe das Nachwort, 235-274.
[3] Eine prägnante Zusammenfassung dieser teils heftig geführten Debatte über die Mitwirkung führender westdeutscher Nachkriegshistoriker an der NS-Politik gibt Jan Eckel: Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005, 9-32.
[4] Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003. Zur Debatte um das Buch siehe http://edoc.hu-berlin.de/e_histfor/2/.
Armin Nolzen