Anthony Kaldellis: Procopius of Caesarea. Tyranny, History, and Philosophy at the End of Antiquity, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2004, ix + 305 S., ISBN 978-0-8122-3787-0, GBP 32,50
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Das Œuvre Prokops von Caesarea bildet nach wie vor die wichtigste Quelle für die Regierungszeit Justinians. Jedoch wirft das Verständnis dieses klassizistischen Historikers, der in einer immer tiefer christlich geprägten Umwelt lebte, erhebliche Schwierigkeiten auf. Viele pagane Wendungen tauchen bei ihm auf, die es erschweren, seine religiöse Identität zu bestimmen; die Urteile über historische Gestalten sind innerhalb der Schriften sehr unterschiedlich: Ist Justinian in der Schrift De aedificiis der vollendete Herrscher, so tritt in den Bella der Feldherr Belisar in den Vordergrund, während der Kaiser in den Anekdota als bösartiger Dämon erscheint.
Kaldellis nähert sich diesem Phänomen auf der Grundlage einer intensiven literaturwissenschaftlichen Reflexion; namentlich zeigt er sich von der jüngeren Thukydides-Forschung inspiriert. So plädiert er in der Einleitung dafür, die literarische Gestaltung antiker Geschichtsschreibung ernst zu nehmen, auch die Möglichkeit bewusster Verdrehungen ins Auge zu fassen, aber dennoch die Werke nicht allein in die Welt des Fiktionalen zu verweisen. Dies entspricht natürlich dem Vorgehen, das weithin üblich ist, muss aber angesichts noch vorhandener Gegenstimmen wohl gesagt werden. Die Bemerkungen sind auch insofern wichtig, als deutlich wird, dass die zentrale Frage für Kaldellis die nach dem Verhältnis Prokops zu seinen literarischen Vorbildern ist, und zwar in zweierlei Hinsicht: Einmal geht es um die intertextuellen Bezüge, zum anderen um die literarische Technik, die in den Augen von Kaldellis weitaus komplexer ist, als gemeinhin angenommen wird.
Das programmatische Kapitel 1 ("Classicism and Its Discontents") bietet zunächst eine sorgsame Diskussion der Praefatio zu den Bella vor dem Hintergrund ihrer Vorbilder und kommt zu dem Ergebnis, dass die Behauptung der Größe der Kriege ironisch, damit auch kritisch gegenüber Justinian zu verstehen sei. Es folgt bei Kaldellis eine nähere Bestimmung des Klassizismus, der mehr sei als eine literarische Affektation und keinesfalls mit geistiger Sterilität gleichgesetzt werden dürfe. Vielmehr durchdringe er das Denken des Historikers. Der begrenzte Wortschatz sei Thukydides geschuldet, der Anekdotenreichtum Herodot. Damit legt Kaldellis ein Bekenntnis zu Prokop als einem großen Schriftsteller ab, der unter den Vorzeichen der klassischen Kultur seine eigene Zeit zu verstehen vermocht habe und für den das Bekenntnis zum Christentum eine bloße Fassade gewesen sei. Er lehnt den gattungsgeschichtlichen Ansatz für die Deutung der Anekdota ab (47), wobei er indes zwischen der Gattung der Invektive und Topik der Kaiserkritik nicht hinreichend unterscheidet. Dass De aedificiis in der Tradition der Panegyrik zu sehen ist, räumt auch Kaldellis ein, wobei er überzeugend ironische Elemente innerhalb der Schrift nachweist (51 ff.). Gewürzt wird alles durch heftige Polemiken gegen heutige Byzantinisten, denen etwa ein Verharren im 19. Jahrhundert bescheinigt wird (35) oder eine Verachtung für die Texte, mit denen sie sich befassen (38).
Kapitel zwei ("Tales not Unworthy of Trust. Anecdotes and the Persian Wars") ist den Anekdoten zumal der Bella Persica gewidmet, also einem herodoteischen Element der Prokop'schen Geschichtsschreibung. Kaldellis warnt davor, diese Berichte zu unterschätzen; vielmehr sieht er in ihnen - wie das für große Teile der antiken Geschichtsschreibung wohl bekannt ist - zentrale Elemente der Darstellung Prokops, die Auskunft über sein Denken und seine Einschätzung der Akteure seines Geschichtswerks geben. Dies führt Kaldellis durch eine eingehende Analyse von BP 1,2-1,5 aus, einem Überblick über die römisch-persischen Beziehungen, der durch seinen zerfallenen, anekdotenhaften Charakter Anstoß erregt hat. So deutet er die Überlieferung, dass Arcadius den Perserkönig Isdigerdes zum Vormund Theodosius' II. einsetzte, in dem Sinne, dass hier ein Idealbild römisch-persischer Beziehungen gezeichnet werde, das in einem Gegensatz zu den Zuständen der Zeit des Prokopios stehe. [1] Insgesamt entsteht in dieser Deutung der Eindruck des Zerfalls des persischen Anstandes auf der einen Seiten, der Schwächung der römischen Verteidigungsfähigkeit auf der anderen; zugleich weist die Passage in dieser Deutung auf die wichtigsten Themen der Perserkriege und der Anekdota voraus.
Platon als Modell steht im Mittelpunkt des dritten Kapitels ("The Secret History of Philosophy"). Kaldellis meint, dass die verschiedenen Männer, die in Platons Staat die unterschiedlichen Verfassungen repräsentieren, für Charakterisierungen von Einzelpersönlichkeiten innerhalb des Proömiums zu den Bella Persica Modell gestanden hätten. Überhaupt betrachtet er mit gutem Grund Prokop als einen Platonkenner, der sich zumindest mit dem Gorgias und dem Staat gründlich befasst habe. Ebenso stilisiert sei die Charakterisierung der Herrschergestalten zu Beginn der Bella Gothica. Theodahad sei geradezu als Gegenbild zum platonischen Philosophenkönig gezeichnet, wobei Kaldellis selbst hervorhebt, dass nur ein kleines, aber doch erlesenes Publikum derartige Anspielungen zu dekodieren wusste.
Im Mittelpunkt des vierten Kapitels ("The Representation of Tyranny") stehen selbstverständlich die Anekdota, allerdings arbeitet Kaldellis in nuancierter Interpretation die Kritik an Justinian heraus, die auch schon in den Bella erkennbar wird. Sehr deutlich macht er zudem, wie die Herrschaft des Kaisers zumal in den Anekdota als die eines orientalischen Despoten konstruiert wird. Als Schlüssel für die Gesamtdeutung des Werks insgesamt betrachtet er den Gedanken einer Umkehrung der Geschlechterordnung und schlägt für den ersten Teil des Werks den Titel "Gynaikokratie" vor (149). Den Schlussteil betrachtet er als Antwort auf die Gesetzgebung Justinians (im Detail 223 ff. behandelt), während der mittlere die religiösen Ansprüche des Kaisers, seine Selbstdarstellung als wohlwollender und frommer Herrscher, unterminiere.
Im fünften Kapitel handelt Kaldellis über "God and Tyche in the Wars". Es geht im Kern um Prokops Verhältnis zum Christentum. Kaldellis sieht ihn im Gegensatz zur communis opinio nicht als einen "conventional Christian" (Av. Cameron), sondern als Anhänger des alten Glaubens. Methodisch fordert er sicher zu Recht, dass bei einem Autor wie Prokop, dem eine offene Rede verwehrt war, nicht die Hinweise ins Zentrum zu rücken seien, die die Übereinstimmung mit den Konventionen bezeugen, sondern heterodoxe Auffassungen. Doch das darf nicht im Umkehrschluss dazu führen, alles, was Übereinstimmung mit Zeitgenossen belegt, zu verwerfen. Wenn Prokop etwa betont, dass die Suche nach der Natur Gottes Ausdruck eines wahnwitzigen Unverstandes sei (BG 1<5>,3,6 f.), so bedeutet dies nicht eine Gegnerschaft gegenüber dem Christentum, sondern zeigt lediglich eine Aversion gegenüber gewissen Auswüchsen der Theologie, wie sie etwa auch der Kirchenhistoriker Sokrates von Konstantinopel an den Tag legt. [2] Oder wenn Prokop nichts spezifisch Christliches über Gott sagt (vgl. aber insbesondere BG 2<2>,11,28-30 oder 2<2>,12; aber auch vor diesem Hintergrund etwa HA 18,3; 28,13), so auch deswegen, weil die Theologensprache nicht zu seinem Stil passt und weil die Probleme der Theologie, die seine Zeitgenossen umtrieben, für seine Problemstellung - das Wirken Gottes in der Geschichte - ohne Belang waren. Indem er die Auffassung Prokops mit dem Theismus der Aufklärung in Bezug setzt (172 f.), verbaut Kaldellis, der ansonsten so umsichtig vor anachronistischen Übertragungen warnt, sich den Zugang zur historischen Situation des 6. Jahrhunderts. [3] Der Tyche-Begriff ist im Übrigen durchaus in ein christliches Weltbild integrierbar. So interpretiert Dariusz Brodka die Tyche meines Erachtens zu Recht als einen literarischen Kunstgriff, um das aus der Sicht der Beteiligten Unerwartete zu bezeichnen. [4] Trotzdem bleiben die Detailinterpretationen, die Kaldellis zur literarischen Funktion der Tyche sowie zur Rolle der Tyche in den Reden vorträgt, von hohem Wert. Zwei Anhänge zu den Edikten Justinians, die sich im zweiten Teil der Anekdota spiegeln, sowie zum Aufbau dieses Werks ergänzen das Buch.
Ein zusammenfassendes Kapitel wäre sicherlich hilfreich gewesen. Angesichts der intensiven Interpretation von Einzelstellen in diesem Werk ist es zudem äußerst bedauerlich, dass ein Stellenregister fehlt und dass das vorhandene Register eher grob untergliedert ist. Die Zahl der Akzentfehler im Griechischen (z. B. 128, 141) ist unnötig hoch.
Die Vokabel "provozierend" ist innerhalb des Genres der Rezension mittlerweile recht abgenutzt, für dieses Buch trifft sie die Sache. Diese Tonlage, mit der sich auch apodiktische Urteile verbinden (z. B. 39: "The opinions quoted above are based on false beliefs; that is, they are factually wrong in ways that should not apply to informed aesthetic views", oder Anm. 138 auf Seite 270 f.), ist allerdings nicht geeignet, die Rezeption zu erleichtern, sollte aber dennoch nicht den Blick auf die Qualität des Werks verdecken. Hier wird in der Tat ein neues Bild Prokops entworfen, die Qualität dieses Autors vindiziert; an vielen Stellen stößt man auf vorzügliche intertextuelle Analysen, wobei vielleicht nicht alles so neu ist, wie Kaldellis prätendiert. So ist die Deutung von Anekdoten, wie er sie vorschlägt, keineswegs ungewöhnlich, zumal wenn man sich eben von der klassischen Geschichtsschreibung Prokop nähert.
Wenn jedoch der Bezug zur paganen Literatur so eng erscheint, dass Kaldellis das christliche Bekenntnis Prokop absprechen zu können glaubt, so geht er wohl zu weit und verkennt die Plastizität des klassizistischen Diskurses. Hier wird die Diskussion weitergehen müssen, doch sollte man unbedingt die Anregung von Kaldellis aufgreifen und Prokop genauer als literarischen Text lesen; das angeblich altfränkische Genus des Kommentars könnte wichtige Fortschritte bieten und von dem close reading vieler Passagen durch Kaldellis beträchtlich profitieren.
Anmerkungen:
[1] Wenig überzeugend erscheint die Deutung der in BP 1,2,11-15 geschilderten Episode, bei der der römische Heermeister Anatolius allein und zu Fuß auf den persischen König zugeht (67 ff.). Kaldellis vermutet in der Einsamkeit des Anatolius ein Vorzeichen des schlimmen Zustandes der römischen Armee bei den Angriffen des Chosroes (68); doch ist das Handeln des Anatolius gerade durch den eindrucksvollen persönlichen Mut erfolgreich; er bewegt ja den Perserkönig samt Heer zur Umkehr.
[2] Überhaupt hätte die Arbeit von Vergleichen mit Sokrates profitieren können; so plädiert auch er für Duldsamkeit auch gegenüber jenen, deren Auffassungen er nicht teilt, und bezieht sich dabei auf Themistios, s. etwa 4,32,2-5.
[3] Vgl. zu dem Komplex Dariusz Brodka: Die Geschichtsphilosophie in der spätantiken Historiographie. Studien zu Prokopios von Kaisareia, Agathias von Myrina und Theophylaktos Simokattes, Frankfurt a. M. 2004, 21 ff., mit teils anderen Argumenten.
[4] Brodka (wie Anmerkung 3), 40 ff.
Hartmut Leppin