Rezension über:

Ute Schneider: Hausväteridylle oder sozialistische Utopie? Die Familie im Recht der DDR (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte; Bd. 66), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, VIII + 389 S., ISBN 978-3-412-09704-2, EUR 44,90
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Rezension von:
Michael Schwartz
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Michael Schwartz: Rezension von: Ute Schneider: Hausväteridylle oder sozialistische Utopie? Die Familie im Recht der DDR, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 1 [15.01.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/01/7483.html


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Ute Schneider: Hausväteridylle oder sozialistische Utopie?

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Mit ihrer Studie leistet die Darmstädter Historikerin Ute Schneider einen wichtigen Beitrag zur Frauen- und Familienpolitik des SED-Staates, ungeachtet dessen, dass die im Titel gestellte seltsame Eingangsfrage nicht weiter beachtet wird. Da sich Schneider auf den Zeitraum 1945-1965 beschränkt, wäre eine entsprechende Eingrenzung im Titel sinnvoll gewesen. Die Arbeit konzentriert sich auf rechtspolitische Diskussionen und Entscheidungen, doch gerät - unter der engen Perspektive der "Normimplementation" - auch die gesellschaftliche Akzeptanz in den Blick.

Frauen- und familienpolitisch schlugen beide deutsche Nachkriegsstaaten "ganz verschiedene Wege" ein. In der Bundesrepublik dominierte ein konservatives Familienbild, das die "Hausfrauenehe" förderte, während die SBZ/DDR auf rasche Gleichberechtigung der Frauen insbesondere in der Erwerbsarbeit zielte (22 f.). "Erstaunlich" findet Schneider, dass die Veränderung des Familienrechts in der DDR volle zwei Jahrzehnte gedauert habe. Diese Verzögerung ist aber nicht ungewöhnlich, wenn man die Neukodifizierung des Arbeits- oder Zivilrechts in den Blick nimmt. Die "verschlungene Geschichte des Familiengesetzbuches [FGB] in der SBZ/DDR" sucht Schneider durch "Dimensionen rechtlicher Traditionen und Dogmatik, politischer Macht und gesellschaftlicher Realität in der DDR" zu erklären. Dabei kommt auch die asymmetrische "deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte" in den Blick, nicht allein die Bundesrepublik als stete "Referenzgröße für die DDR", die umgekehrt "nicht zur Kenntnis genommen" worden sei (4 f.), sondern auch ein in den Sechzigerjahren wachsendes westdeutsches Interesse am DDR-Familienrecht (155 f., 288-294).

Den politischen Entscheidungsträgern widmet sich Schneider gleich zweimal. Konventiell-einzelbiografisch fällt die Vorstellung der Spitzenjuristen im Justizministerium aus. Weit bessere Einblicke in das familienpolitische Juristen-Netzwerk bietet die Analyse der FGB-Expertenkommission (119 ff.). Etwas zu einseitig fokussiert Schneider dabei auf "Patronage als Rekrutierungsprinzip" (129 ff.). Zuzustimmen ist der Distanzierung von einer "monolithischen und statischen Betrachtungsweise" der SED-Herrschaft, die bei genauerem Hinsehen "zerfällt" (140), um "hinter der Fassade von bürokratischer Organisation und politischer Gleichheit [...] informelle Strukturen, Distinktionsmechanismen und -praxen" sichtbar zu machen (147).

In der ersten von mehreren "Etappen der Kodifizierung" des FGB erfolgten Änderungen anfangs bruchstückhaft: Die 1946 kodifizierte Gleichberechtigung der Frau mündete zunächst in Versuche, gleiche Entlohnung für gleiche Arbeit durchzusetzen oder das Abtreibungs-Strafrecht zu liberalisieren. Laut Schneider "erzwang" die Sowjetische Kontrollkommission den "bedeutsamen Normenwechsel von der gleichberechtigten Frau zur berufstätigen Mutter" (85 f.). Allzu holzschnittartig aber ist die These, im SED-Staat sei "im Unterschied etwa zur Bundesrepublik" diese Doppelrolle obrigkeitsstaatlich durchgesetzt worden und habe sich "nicht im Rahmen eines gesellschaftlichen Wandels allmählich" etabliert (94). Auch in der DDR war langsamer gesellschaftlicher Wandel (z. B. durch Generationenwechsel) zur Durchsetzung des neuen Frauenbildes erforderlich.

Bereits um 1950 drängten die SED-Juristen auf ein eigenständiges FGB jenseits des BGB - ganz nach sowjetischem Muster. Nachdem das SED-Regime einen Entwurf ab 1951 bereits "in der Gerichtspraxis" hatte anwenden und 1954 öffentlich diskutieren lassen, wurde das FGB-Projekt dennoch auf Eis gelegt - infolge des Konservativismus in der SED-Führung und in Moskau, wie Schneider mutmaßt (113). Erst 1965 wurde das FGB in Kraft gesetzt. Bei den nicht immer transparenten Entscheidungsprozessen konzentriert sich Schneider fast ausschließlich auf SED- und SKK-Juristen. Weiterführend sind die Analysen zentraler Arbeitstechniken der FGB-Kommission - des Rechtsvergleichs und der Familiensoziologie. Im "Rechtsvergleich" problematisiert Schneider ein eindimensionales Konzept von "Sowjetisierung", das auf bloße Übernahme sowjetischer Normen abhebe, ohne Vorbilder der deutschen Vorkriegszeit oder westliche Modelle (Bundesrepublik, Frankreich, Schweden) gebührend zu gewichten (150 ff., 266). Überhaupt sei der Umgang mit dem sowjetischen Modell weithin nicht öffentlich erfolgt - nicht nur, weil das sowjetische Recht ziemlich unbekannt war (161), sondern auch, weil es in der Bevölkerung vielfach als familienfeindlich abgelehnt wurde (165). Auch intern sei die FGB-Kommission dem sowjetischen Modell nicht sklavisch gefolgt: Die Liberalisierung des DDR-Scheidungsrechts sei ein Kompromiss zwischen dem Willen der Eheleute und dem in der UdSSR dominierenden gesellschaftlichen Interesse gewesen (163 f.). Beim Unterhalts- oder Güterrecht fügten sich die DDR-Reformer hingegen sowjetischen Vorbildern oder Wünschen (163 ff.).

Mit der Inkraftsetzung des FGB wurde 1965 das "Junktim von Berufstätigkeit und Mutterschaft" gesellschaftliches Leitbild (180). Dennoch bewertet Schneider das Familienbild des FGB und die "Erziehungsfunktion des Rechts" (190) ambivalent: Die postulierte Höherwertigkeit der Familie gegenüber der Ehe (z. B. im Unehelichenrecht) habe mit Traditionen gebrochen, jedoch seien "die mental tief verankerten bürgerlichen Familienvorstellungen" in den Diskursen von der "kleinste[n] Zelle der Gesellschaft" oder der "gesunden", möglichst kinderreichen Familie fortgeschrieben worden (185 f.). Damit knüpfte das FGB, wie man einwenden möchte, jedoch eher an organizistische Politik des frühen 20. Jahrhunderts als an die staatsfern-frühbürgerliche "heilige Familie" an, welche Marx einst persifliert hatte. Trotz gegenteiliger Bekundungen Ulbrichts (191, Anm. 42) sah sich die Familie durch das FGB funktionalisiert. Weit stärker relativiert wurde die Institution Ehe, die von der Reproduktionsfunktion der Familie entkoppelt und dem ökonomischen Ziel größtmöglicher Erwerbsarbeit subordiniert wurde: "die daraus resultierende Problematik eines Eigenwertes der Ehe" (194) sollte in der weiteren DDR-Gesellschaftsgeschichte, die von Schneider nicht betrachtet wird, deutlich hervortreten. Immerhin erfolgte - anders als im Abtreibungsstrafrecht von 1950 (83 f.) - nicht auch noch eine eugenische Relativierung, denn trotz Sympathien für den "berechtigten Kern" eugenischer Eheverbote wirkte das Vorbild des NS-Regimes allzu abschreckend (213).

Abschließend blickt Schneider auf die "Normenimplementation"(269), auf Versuche des SED-Staates zur gesellschaftlichen Popularisierung des FGB. Anhand der gelenkten "Aussprachen" der Jahre 1954 und 1965 untersucht Schneider "einen kommunikativen Prozeß" zwischen Staat und Gesellschaft (271). Sie hätte hier freilich auf die Selektivität solcher Kommunikation hinweisen sollen, denn an anderer Stelle zeigt sie beiläufig, dass etwa 1954 die "Bezüge zur Sowjetunion regelrecht gemieden wurden, um weder dem Westen noch der [DDR-]Bevölkerung Argumente gegen das Gesetzbuch zu liefern" (165). Erst in diesem letzten Kapitel geraten erstmals die Kirchen als - erwartungsgemäß kritische - gesellschaftliche Gruppen in den Blick (314 ff.), wobei deren Wechselspiel mit politischen Parteien unterbelichtet bleibt. Symptomatisch ist die unzulängliche Würdigung der Personen Otto Nuschkes oder Gustav Heinemanns (318 f., 321).

Zusammenfassend stellt Schneider das FGB in eine Kontinuität des "social engineering" (348). Was in systemübergreifender, säkularer Perspektive richtig ist, erfasst jedoch den besonderen Charakter der SED-Transformationsdiktatur nur höchst unzureichend. Anregend und bestreitbar zugleich ist Schneiders These, das FGB von 1965 habe in der Bundesrepublik größere Anerkennung gefunden, weil es - anders als der Entwurf von 1954 - nicht Individualrechte, sondern die Familie herausgestellt habe (350). Doch näherte sich die DDR damals wirklich dem konservativen West-Standpunkt der Fünfzigerjahre an? War nicht umgekehrt ein Individualisierungsschub im Westen entscheidend für die familienpolitische "Annäherung der beiden deutschen Staaten" (350)? Treffend wird hingegen gesehen, dass die späte Verabschiedung des FGB mit einer gewachsenen Akzeptanz des Leitbildes der berufstätigen Mutter unter DDR-Frauen rechnen durfte - ein zentraler Faktor einer (weiblichen) DDR-Identität. Jedoch fällt auf, dass in Schneiders Arbeit viel von SED-Frauenpolitik, zu wenig jedoch von darauf bezogenen Verhaltensstrategien von DDR-Frauen die Rede ist. Der Nachprüfung wert ist Schneiders interessante These, trotz des Autonomieverlustes der "Scheinbastion" Familie durch langfristige "Entprivatisierung" habe ausgerechnet hier die SED-Familienpolitik durch ihr traditionelles "Trennungsdenken" zwischen öffentlichen und privaten Lebensbereichen "eine ihrer Grenzen" erfahren, ja selbst gesetzt (351 f.). Bei aller Sympathie für dialektische Betrachtung der DDR-Gesellschaftsgeschichte sind hier bis zum empirischen Beweis Zweifel erlaubt. Denn die Grenze zwischen Gesellschaft und Familie scheint weniger durch ideologisch-juristische Steuerungsfantasien des FGB als von den alltäglichen Zwängen der DDR-Arbeitsgesellschaft aufgehoben worden sein.

Michael Schwartz