Rezension über:

Martin Sabrow (Hg.): Erinnerungsorte der DDR, München: C.H.Beck 2009, 619 S., ISBN 978-3-406-59045-0, EUR 29,90
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Rezension von:
Michael Schwartz
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Michael Schwartz: Rezension von: Martin Sabrow (Hg.): Erinnerungsorte der DDR, München: C.H.Beck 2009, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 3 [15.03.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/03/17011.html


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Martin Sabrow (Hg.): Erinnerungsorte der DDR

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Eingangs spricht Martin Sabrow, Herausgeber des Bandes und Direktor des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung, in sympathischer Offenheit von der "aussichtslosen Suche nach einem konsensfähigen Kanon" für "Erinnerungsorte der DDR" (9). Dies mündet in die willkürlich-produktive Entscheidung zur Spiegelung "der DDR" in insgesamt 49 sehr unterschiedlichen "Erinnerungsorten". Diese Orte sind - analog zu älteren Weiterentwicklungen des ursprünglich in Frankreich entwickelten Konzepts der lieux de mémoire - zum Teil wirklich lokaler Natur (von "Pankow" über "Eisenhüttenstadt" bis zur "Universitätskirche Leipzig"), zum Teil kalendarisch ("Erster Mai und Fünfzehnter Januar", "Frauentag", "Tag der Republik"), institutionell ("Die Partei", "Die Stasi und ihr IM", "Die Jugendweihe"), gegenständlich ("Einkaufsbeutel und Bückware", "Die Platte", "Das Westpaket") oder begrifflich-abstrakt ("Antifaschismus", "Frieden", "Ohnmacht"). Geordnet werden diese 49 Schlaglichter in sechs Themenblöcke, die je sechs bis zehn "Erinnerungsorte" zu bündeln suchen. Dabei geht es um "Gesichter der Macht", "Herrschaftskultur", "Leben im Staatssozialismus", "Kleine Fluchten", "Gemeinsame Grenzen" und um "Aushalten und Aufbegehren".

Sabrow versucht weniger zu ergründen, wie die DDR während ihrer Existenz wirklich gewesen ist, sondern konzentriert sich auf die (unterschiedliche und veränderliche) Erinnerung an das Leben von Millionen Menschen in diesem "zweiten deutschen Staat" (12), den eine kommunistische Diktatur zu nennen er strikt vermeidet. Mehr als unsagbar gewordene Schattenseiten der Diktatur interessieren Sabrow die in seiner Sicht ebenfalls verdrängten "Gefühle von Hoffnung und Zuversicht, die das politische Experiment DDR im Erleben vieler ihrer Bürger der ersten Stunde" begleitet haben sollen (13). Zwar gab es dergleichen tatsächlich, doch muss man sich hüten, in der Retrospektive Teilwahrheiten überzubewerten. Diese Gefahr läuft, wer sich wie Sabrow ausschließlich auf Kommunisten konzentriert, deren Lebensläufe er sorgfältig in "prokommunistische Ankunftsbiographien", "exkommunistische Abkehrbiographien" und "postkommunistische Bewältigungsbiographien" sortiert, während eine Reflexion erinnerungspolitischer Konkurrenz, die die unterschiedliche Haltung sozialer Gruppen, Generationen und Geschlechter zu Angeboten und Zumutungen der SED-Diktatur widerspiegeln müsste, völlig unterbleibt. Selbst für die SED-Kaderschicht aber verfehlt Sabrows Fokus auf kommunistische Biographien die Tatsache, dass die SED nach 1950 nicht mehr kommunistische Kaderpartei, sondern Massenpartei ehemaliger NSDAP-Mitglieder gewesen ist.

Überzeugend sind Sabrows Überlegungen zur Konkurrenz heutiger DDR-Geschichtsbilder. Die Rolle der Geschichtswissenschaft in dieser "zerklüftet[en] Erinnerungs-Landschaft" lässt er jedoch merkwürdigerweise offen (14). Die Feststellung genügt nicht, dass "ostdeutsche Ampelmännchen und Spreewaldgurken" zwangsläufig "andere Erinnerungen" evozieren als die "ostdeutschen Grenzanlagen" und "sowjetischen Speziallager" (14), in denen Tausende von Menschen zu Tode kamen. Trotzdem ist Sabrow sicher, "dass die Geschichte der DDR im Gegensatz zu der des 'Dritten Reichs' ungeachtet so vieler Übereinstimmungen in Herrschaftsinszenierung und Machtausübung eben keinen Zivilisationsbruch markiert" (15). Abgesehen von der Frage, ob der NS-Holocaust ein "Zivilisationsbruch" war oder eher ein extremer Bestandteil unserer modernen Zivilisation, sollten die inhumanen Seiten der SED-"Machtausübung" nicht verharmlost werden. Gewiss: Die DDR produzierte kein kommunistisches Auschwitz, sie agierte im Kontext spätstalinistischen Terrors relativ zurückhaltend. Sabrow bleibt dennoch zu relativistisch, wenn er konstatiert, "auf die Frage, ob die DDR ein fehlgeschlagenes Experiment, eine kommode Diktatur mit vielen Nischen oder eine totalitäre Despotie war", gebe es "gegenwärtig und in absehbarer Zukunft keine einheitliche Antwort" (16). Stattdessen begnügt er sich damit, auf konkurrierende Gedächtnisse zu verweisen: das "Diktaturgedächtnis", das auf Unterdrückung abhebe, aber durch die SED-"Fürsorgediktatur der sozialen Sicherheit" zu relativieren sei. Sabrow begreift das Diktaturgedächtnis als "Täter-Opfer-Gegensatz" und "negatives Kontrastbild" zur Bundesrepublik (18). Das ist zuweilen zutreffend, übersieht jedoch, dass auch die Fürsorgediktatur mit ihrer Dialektik aus Konformitätszwang und Gratifikation in diesen Diktaturzusammenhang gehört. Dies relativiert Sabrows Gegenkonzept vom "Arrangementgedächtnis", das unter vielen Angehörigen der ehemaligen DDR-Gesellschaft verankert sein soll. Die Kernfrage ist, ob man Diktatur und Arrangement trennen kann und ob die Aufgabe der Geschichtswissenschaft nicht gerade darin besteht, beides differenziert aufeinander zu beziehen.

Die folgenden 49 Beiträge zu ausgewählten "Erinnerungsorten der DDR" bieten gleichwohl vielfältige Informationen und Interpretationen. Sie sind - bei zwangsläufig unterschiedlicher Güte und Dichte - durchaus lesenswert. Ob man die "Gesichter der Macht" ausgerechnet mit "Antifaschismus" beginnen lassen muss, also einem propagandistischen Legitimationsversuch des SED-Regimes, ist zwar zu fragen; doch löst Annette Leo das Problem durch den Hinweis auf "das unmittelbare Nebeneinander von gelebtem antifaschistischem Engagement und zynischer Machtpolitik eindrücklich" (37). Freilich hätte die Herabstufung oder Ausgrenzung nichtkommunistischer NS-Gegner in der DDR stärker betont werden dürfen; und auch die mediale Vergegenwärtigung des SED-"Antifaschismus" - sei es durch Feiern zum "Tag der Befreiung", sei es durch Defa-Spielfilme - wäre eingehender Analyse wert gewesen. Hier finden sich von den platten "Fünf Patronenhülsen" über die subtilen "Sterne" bis hin zum ebenso eindrucksvollen wie (wegen verengt kommunistischer Sicht) problematischen "Nackt unter Wölfen" schon in der frühen DDR interessante Nuancen, die später - man denke an "Jakob der Lügner" oder "Der Aufenthalt" - noch erweitert wurden.

Unbefriedigend bleibt Silke Satjukows Beleuchtung der sowjetischen "Freunde". Sie konzentriert sich auf die entsprechende DDR-Massenorganisation ("Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft") und den Alltag der sowjetischen Besatzungstruppen in der DDR-Gesellschaft, blendet jedoch wichtige Elemente einfach aus. Zwar erwähnt Satjukow das "Frühjahr 1945" als Initialdatum (54), doch die massenhafte Erfahrung späterer DDR-Bürger, vor der "Roten Armee" 1945 aus Ostdeutschland unter übelsten Bedingungen geflüchtet zu sein, wird dabei ebenso ignoriert wie die Morde oder die Vergewaltigungen zahlreicher Frauen durch Rotarmisten. Auch ältere Russenbilder der deutschen Gesellschaft und ihre konkurrierende Prägekraft fehlen, selbst vom deutschen "Antibolschewismus" seit 1917 und dessen Verstärkung durch die Goebbels-Propaganda ist keine Rede. Wenn Satjukow glaubt, die nur andeutungsweise gestreiften "inneren Bilder" gegen Kriegsende darauf reduzieren zu können, dass "Russen und Deutsche" überwiegend "einander feind" gewesen seien (54), ist das zu undifferenziert. Es gab auf deutscher Seite nicht nur Bilder von russischen "Untermenschen" oder kommunistischen "Barbaren", sondern auch Bilder vom "gutmütigen Russen", von der mächtigen "russischen Dampfwalze", von der in Literatur und Musik hoch entwickelten russischen Kultur. Auch mit der Roten Armee kamen 1945 nicht nur hasserfüllte Adapten der Rachepropaganda Ilja Ehrenburgs nach Deutschland, sondern auch hochgebildete Germanisten, die sehr gut wussten, dass Deutschland aus mehr bestand als aus Hitler und dem preußischen Korporalstock.

Schlaglichter wie jene von Ina Merkel auf den weder eindeutig "guten" oder "bösen", sondern "mit höchst widersprüchlichen Bedeutungen aufgeladen[en]" Erinnerungsort des "Trabant" (oder "Trabbi") lassen an Differenziertheit nichts zu wünschen übrig (363) - vom Symbol für Versagen und Rückständigkeit der SED-Planwirtschaft gegenüber dem Westen bis hin zum unpolitischen Alltagsgegenstand. Auch Marion Detjens Beitrag zur "Mauer" mit ihren 136 Todesopfern (401) oder die Analysen zu alltagsgeschichtlich wichtigen Ost-West-Verflechtungen über Schnittstellen wie den "Intershop" (Franka Schneider) oder "Westberlin" (DDR-Schreibweise, David E. Barclay) erweisen den hohen Nutzen der Beiträge dieses Sammelbandes, auch wenn man das zugrunde liegende Konzept Martin Sabrows eher skeptisch beurteilt.

Michael Schwartz